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Notizen aus dem Unten
Meinen Namen habe ich fast vergessen. Aber ist er wirklich wichtig? Manchmal höre ich ihn in meiner Erinnerung wie ein schwaches Echo aus einer längst vergangenen Zeit. Nein, er ist nicht wichtig. Ich bin – das ist alles, was zählt.
Für mich gibt es nur noch das Unten und das Oben. Das Unten sind die stinkenden Eingeweide der Stadt: die Kanalisation. Sie ist mir Heimat und Zuflucht zugleich. Ob noch mehr wie ich hierher geflüchtet sind, weiß ich nicht. Viele sind nicht übrig geblieben nach dem, was vor einer halben Ewigkeit im Oben passiert ist. Seither hause ich im Unten in einer Kammer abseits eines Gangs, der zwei stillgelegte Revisionsschächte verbindet.
Zu Beginn war meine Verzweiflung so groß, dass ich, gelähmt vor Angst und Trauer, einfach nur da saß, im Rücken die kalte Wand aus Stein, die Augen geschlossen, um die Dunkelheit ringsum nicht zu sehen. Damals wollte ich aufhören zu sein. Aber so schnell gab mein Geist nicht auf und auch mein Körper war nicht bereit, den gleichen Weg zu gehen, den Hundertausende bereits vor mir gegangen waren. Also trotzte ich dem Schicksal und fand ein Leben hier unten. Jede Nacht wage ich mich in der Dunkelheit hinauf und hinaus. Ich atme die frische Luft und genieße jeden Augenblick. Aber ich bin auf der Hut. Sie dürfen mich nicht sehen, sonst stellen sie Fragen, die ich nicht beantworten kann. Sie würden nicht verstehen. Aber verstehe ich denn selbst?
Auf meinen nächtlichen Exkursionen im Oben verberge ich mich unter einer ihrer dunklen Kutten, die ich auf einem meiner Streifzüge gefunden habe. Mit ihr verschwinde ich in ihrer Mitte und bin für sie so gut wie unsichtbar. Ich sammle alles, was ich finden kann. Nahrung, Kleidung, achtlos weggeworfenen Krimskrams. Aber immer nur so viel, wie in meinen Rucksack passt. Ich muss beweglich bleiben.
Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, das Licht ihrer Straßenbeleuchtung ist gerade so viel, wie ich ertragen kann. Ich verschmelze mit den Schatten der Häuserzeilen und bin angetrieben von meiner Suche. Was ich suche weiß ich nicht, noch kenne ich den Grund dafür. Aber Nacht für Nacht treibt es mich aus meiner selbst gewählten dunklen Einsamkeit hinauf. Ist es die Schrift dort an der Wand, hastig hingeschmiert? Oder ist es der handgeschriebene Zettel, der zerknittert und eingerissen im schwarzen Dreck des Rinnsteins darauf wartet, in meine Welt hinabgespült zu werden? Ruh- und rastlos ziehe ich los, Straßenzug um Straßenzug, spähe in Hauseingänge, Hinterhöfe und über Plätze. Ich suche, kann aber nichts finden. Wenn die Morgendämmerung heraufzieht, begebe ich mich wieder hinab in meine unterirdische, dunkle Welt. Meine Kammer ist trocken und auch im Winter wird es nur selten sehr. Ein alter Ofen, gefunden im Oben, wärmt mich und Kerzen, die ich mir aus den Lagerräumen der zerstörten Kirchen für ein „Vergelt’s Gott“ genommen habe, spenden Licht. Man könnte meinen, am Leben zu sein, hier unten noch am Leben zu sein, sei das größte Geschenk und der größte Schatz. Mein heiligster Besitz und die einzige Freude aber, die mir geblieben ist, ist das Buch, das ich fast unversehrt aus der dampfenden Asche eines ausgebrannten Hauses geborgen habe. Den Titel kenne ich nicht. Alles, was darauf hinweisen könnte, haben die Flammen für sich behalten. Aber der Inhalt erzählt von hellem Sonnenlicht, grünen Wiesen, Lachen, Freude und Hoffnung. Die Sätze geben mir Kraft, wenn ich keinen Ausweg mehr sehe und lassen mich weiter suchen nach dem, was ich finden muss. Ich darf den Glauben daran nicht verlieren, dass es irgendwann auch für mich wieder ein Morgen geben wird, das hell und klar und strahlend ist. Wenn das alles nicht mehr wichtig ist, dann habe ich keine Hoffnung mehr. Dann ist alles verloren.