- Beitritt
- 19.06.2001
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Norray
NORRAY
„Er ist ein anständiger Junge. Macht keine Schwierigkeiten. Ein anständiger Junge.“
Norray konnte das Gesicht der Frau kaum erkennen, es war dunkel, dichter Regen fiel und die kleine Lampe über der Eingangstür war kaputt. „Warum wollen Sie ihn...“ Er wurde von der Frau unterbrochen.
Sie hustete und sagte mit leiser Stimme: „Ich kann mich nicht um ihn kümmern. Ich bin zu schwach. Zu schwach.“ Sie sah zu Boden. „Ich habe keine Kraft mehr.“ Ein Flüstern...
„Was?“ Norray sah zu dem kleinen Jungen, der neben der Frau stand. „Was haben Sie gesagt? Ich habe Sie nicht verstehen können.“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Er wird es gut bei Ihnen haben. Ich weiß das.“
Für einen kurzen Moment glaubte Norray ein Lächeln im Gesicht der Frau erkannt zu haben. „So?“
„Ja, Pater Norray. Sie sind ein guter Mensch.“ Sie schob den Jungen zu Pater Norray. „Passen Sie auf meinen Jungen auf. Ich kann es nicht mehr.“ Wieder hustete sie. „Keine Kraft... zu schwach.“ Dann drehte sie sich um und ging.
„He! Warten Sie, ich...“ Norray kniff die Augen zusammen. Weg. Die Frau war weg. Verschwunden in der Dunkelheit und in dem dichten Regen. Und er... Norray fühlte, wie sich der Junge an ihn schmiegte. Verflucht, dachte er, sie hat nicht einmal den Namen des Jungen erwähnt.
„Magst du noch etwas?“ fragte er den Jungen freundlich. Ohne eine Antwort abzuwarten füllte Norray den Teller mit Suppe und brach ein Stück von dem Brot ab, das er dem Jungen reichte. „Es schmeckt dir, nicht wahr?“ Norray lächelte und beobachtete den Jungen, der gierig die Suppe und das Brot verschlang. „Wie heißt du?“ wollte Norray wissen.
„Wo ich bin? Wo sein?“ Der Junge sah den Pater an, ohne mit dem Essen aufzuhören.
„Nun, du bist in einer kleinen Kirche. Etwa drei Meilen außerhalb der Stadt.“
„Stadt? Was Stadt?“
Norray nickte. „Ja, das Ungetüm. Du kommst doch aus der Stadt, oder?“
Der Junge zuckte mit den Schultern. „Mehr!“ verlangte er und schob den Teller zu Norray.
„Wie heißt du? Kommst du aus der Stadt?“
„Mehr! Davon mehr!“
Norray nahm den Teller. „Wenn du mir sagst, wie du heißt, bekommst du etwas. Einverstanden?“ Vielleicht war er zu weitgegangen... Risiko, dachte Norray.
„Nein.“ schrie der Junge und stand auf. „Mehr! Mehr!“ Er starrte den Pater an. „Mehr davon! Davon mehr! Hunger!“ Er zeigte auf den Topf und auf das Brot. Der Junge zitterte.
„Ja.“ Norray gab auf und füllte den Teller erneut. „Vielleicht später, hm?“ Schweigend sah er dem Jungen beim Essen zu. Betrachtete den entstellten Kopf, die viel zu kleinen Arme... Mein Gott. Armes Kind, dachte er. Ich hoffe, ich kann dir helfen. Er lächelte und sagte: „Ja, später.“
„Han.“ sagte der Junge nach einigen Minuten.
„Han? Dein Name ist Han?“
„Ja. Wie im Film. Raumschiffe. Han.“
„Film?“ Norray lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Film? Was für ein Film? Was für Raumschiffe? „Oh...“ Jetzt fiel es ihm ein. „Du meinst diese alten Filme? Vor ein paar Jahren?“
„Ja. Han. Held. Mein Name ist Han.“ Der Junge grinste. „Und du?“
„Norray. Pater Ewan Norray.“ Er reichte Han die Hand. Han sah ihn erstaunt an. „Wenn du einschlägst, sind wir Freunde, Han.“ Die Hand des Jungen war kalt. Fast tot... „Ja, Han. So ist es gut.“
„Freunde?“
„Ja.“
„Was ist das?“
„Eine gute Sache.“ sagte Norray. Wie kann er das auch wissen? Er mußte aus der Stadt kommen. Aus dem Ungetüm... „Wir sind jetzt Freunde, Han. Du und ich.“
„Was ist das? Freunde?“ Han rülpste und legte den Löffel neben den leeren Teller. Er sah sich um. „Nana? Wo Nana?“ Han sah zu Norray. „Wo Nana?“
Norray verstand. Han´s Mutter. Die Frau, die ihm den Jungen anvertraut hatte. Mochte Han´s Gesicht noch so entstellt sein... Dieser Blick... „Nana ist weg, Han.“ sagte er sanft.
„Weg? Wo?“
„Weißt du, was Tod ist?“
„Ja.“ sagte Han.
Norray nickte. „Dann weißt du auch, wo Nana ist.“ Er wußte, wie schwer es für Han sein würde, das zu akzeptieren, aber... „Nana ist weg. Aber du bist jetzt hier.“
Han schloß die Augen und legte den Kopf etwas quer. „Freunde...“ sagte er leise. „Was das ist?“
„Nun.“ Norray stand auf. „Freunde sind dazu da, anderen beizustehen. Ihnen zu helfen. Und ich bin dein Freund, weil ich jetzt für dich da bin, Han.“
„Aber...“
„Hm?“ Norray sah zu dem Jungen. „Han?“
„Nein. Du Freund. Ich Han. Nana weg.“
„Ja.“
„Ja.“ Han lächelte Norray an und streckte seine deformierten Arme zu Norray aus, der ohne zu Zögern zu dem kleinen Jungen ging und ihn umarmte.
„Sein Name ist Han. Ich würde sagen... C. Vielleicht D. Wird schwer werden.“ Norray hatte Han in das Bett des kleinen Gästezimmers gelegt. Der Junge war sofort eingeschlafen. „Nein...“ Der Pater zündete sich eine Zigarette an. „Die Mutter hat ihn abgegeben... Ja... Ja... Und was wird es kosten ihn rauszubringen? Ich meine... Soviel? Großer Gott.“ Norray schluckte. „Ja, schon klar. Verstehe... Ja.“ Er sah zu dem eingerahmten Foto seiner verstorbenen Frau. „Ja, hier kann er nicht ewig bleiben. Er muß raus. Wenn sie ihn entdecken, dann...“ Norray lehnte sich leicht nach vorn und strich mit seinen Fingern über das Foto. „Ich meine... Ja. Ja! Wir beide wissen, wie Scheiße das System ist. Diese verfluchten Besserwisser.“ Mein Gott, Kate... Ich... „Eltern? Seine Mutter hat es geschafft, ihn zu mir zu bringen. Ich möchte nicht wissen, wie sie es geschafft hat, den armen Jungen die ganze Zeit geheimzuhalten... Ja, genau... Nun... zehn oder zwölf Jahre.“ Er drehte das Foto um. „Vielleicht eine Organisation in Europa? Ja... Warum nicht? Genau, ja...“ Norray drückte die Zigarette aus. „Klar... Ja. Ja. Okay... Wie gesagt, C oder D. Eher D. Schwieriger Fall... ja.“ Wie spät ist es eigentlich? Er sah zu Uhr. So spät schon? „Okay... okay... Ja. Alles klar. Wichtig ist... ja. Der Junge... Han, genau. Ja. Einverstanden. So machen wir es... Ja, okay.“ Er legte auf. Armer kleiner Kerl, dachte er. „Du kannst nichts dafür, daß du in diesem...“ Norray nahm das eingerahmte Foto seiner Frau und drehte es wieder um. „Du kannst einfach nichts dafür, Han.“ sagte er leise. „Hoffen wir, daß alles gut geht. Daß du bald raus bist aus dem ganzen Mist!“ Kate... Ich konnte doch nichts dafür... „Scheiße!“
„Nein, lohnt sich nicht.“ war Norray´s ehrliche Antwort auf Han´s Frage, warum es keinen Gottesdienst in der kleinen Kirche gab. Erstaunlich, dachte Norray. Warum fragt der Junge das? „Warum fragst du?“ wollte er wissen.
„Fernsehen. Große Kirche. Viele bunte Blumen.“ Han grinste. „Blumen bunt und schön.“
„Ah...“ Der Pater lachte. „Ja, die einzig wahre Kirche. Ich weiß. Ich weiß...“ Trotzdem mußte er schwer schlucken. „Weißt du, mein Junge. Sie mag mächtig sein. Bedeutend! Sehr bedeutend sogar! Das ganze Land hat sie vereinnahmt... Alles.“ Er fuhr Han durchs Haar. „Aber!“ Er hielt kurz inne und deutete auf die Statue, vor der sie standen. „Ich weiß nicht wann. Ich weiß nicht wie. Sie werden wohl kommen... Hm. Werden sie wohl irgendwann. Aber eines weiß ich ganz genau. Solange ich die Kraft habe, das zu tun, wozu ich verpflichtet bin... Ja.“ Norray sah Han an. „Solange ich weiß, daß Gott eben nicht zu allen gnädig ist...“ Er kniete sich hin und sah dem Jungen fest in die Augen. „Solange ich weiß, daß es eine Ungerechtigkeit gibt, solange werde ich der Versuchung widerstehen, dieser Ungerechtigkeit Untertan zu werden. Verstehst du das?“
„Du Freund. Du Ewan. Ich Han. Wir Freunde?“
„Ja.“ Norray umarmte den Jungen. „Und bald bist du hier raus.“ Im Grunde genommen hatte Han´s Mutter richtig gehandelt. Wie lange hätte sie Han noch verbergen können? Sie hat es so eine lange Zeit geschafft, dachte Norray. Er spürte die Tränen von Han. Tränen... Weiß er, warum er hier ist? „Han? Was denkst du gerade?“ Er erhielt keine Antwort. „Han?“ Nichts. „Han?“ Der Junge war in seinen Armen eingeschlafen.
„Es ist soweit, Han.“ sagte Norray.
„Soweit?“
„Ja.“ Norray hielt einen prall gefüllten Rucksack hoch. „Da ist Spielzeug drin... und was zum Essen. Ich möchte, daß du den Rucksack immer ganz bei dir hast, ihn nicht verlierst. Ja? Einverstanden?“
Han nahm den Rucksack und presste ihn an sich. „Aufpassen darauf. Ja. Kann ich! Das ich kann!“
„Ich weiß, mein Junge. Ich weiß.“
„Und du?“
„Hm? Ich?“
„Was passiert?“ Han sah sich um. Sie standen auf einer kleinen Lichtung. Mächtige Kiefern umgaben sie. „Was passiert?“ fragte er erneut.
Norray beugte sich zu Han hinunter. „In ein paar Stunden hast du ein besseres Leben vor dir, Han.“
„Leben?“
„Ja. Keine Sorgen mehr. Keine Angst.“
„Angst?“
„Ich...“ Verdammt. Warum hast du das erwähnt? Norray lächelte und zeigte zu dem Hubschrauber, der im Landeanflug war. „Siehst du? Da steigst du gleich ein und dann...“ Ja, was dann? „Du bist ein guter kleiner Mann. Weißt du das?“
„Ich bin Han!“ sagte der Junge grinsend. „Immer tapfer. Mutig immer!“
„Ja.“ Norray gab Han einen Kuß auf die Stirn. „Da ist unser Himmelsbote, der dich mitnimmt.“
„Wohin? Du kommst mit?“
„Nein.“ sagte Norray lächelnd. „Nur du, Han. Nur du.“
„Aber...“
„Nein!“ Norray unterbrach ihn. „Nur du. In Europa gibt es Länder, die Menschen wie dich akzeptieren. Da wirst du glücklich werden.“
„Nana glücklich?“ wollte Han plötzlich wissen.
„Natürlich.“
„Gut!“ Han nickte. „Himmelsbote mich nimmt mit? Du bleibst?“
„Ja. Ich bleibe hier. Aber keine Sorge, Han.“ Norray drückte den Jungen an sich. „Keine Sorge. Bald hast du es geschafft. Bald wird es dir besser gehen.“
„Nana ist weg. Ewan wird auch weg sein?“
„Nein. Ich werde dir folgen!“ log Norray Han wie dutzende zuvor an. „Ich werde dir folgen!“
„Gut. Gut das!“ Han lachte.
„Ja.“ Norray zeigte zu dem Hubschrauber, der inzwischen gelandet war. „Lauf, mein Junge!“
„Ja.“ Han gab Pater Ewan Norray einen Kuß auf die Stirn und lief zu dem Hubschrauber.
Norray winkte ihm nach. „Mach´s gut, Kleiner.“ Und möge Gott mit dir sein... Er schluckte und spuckte aus...
Norray blickte aus dem Fenster. Dichter und schmutziger Regen. „Scheiße!“ fluchte er. Es war ein Angebot, was er unmöglich ablehnen konnte. Das konnte er einfach nicht. „Scheiße!“ Wochen waen vergangen. Geld, dachte er. Es geht immer nur um das verfluchte Geld. „Verdammtes Ungetüm!“ Er konnte die Stadt sehen, die etwa drei Meilen vor seiner kleinen Kirche lag. Dieses verdammte Ungetüm... Ob es Han gut ging? Er wußte es nicht. Konnte nur hoffen. Wievielen hatte er rausgeholfen? Einhundert? „Ja.“ Und jetzt? Norray ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich auf den altmodischen Bürostuhl. Vor ihm lag der Vertrag... Die große Kirche... Soll ich? Soll ich das wirklich tun? „Scheiße!“ Er dachte an Han, an die vielen zuvor... Zitternd setzte er seine Unterschrift unter den Vertrag. Verdammt! Ich muß auch an mich denken! Norray sah zu dem umrahmten Foto von Kate. „Verstehst du es wenigstens? Hm?“
ENDE
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28.04.2002