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Normal
Es ist Nacht. Alles dunkel. Nichts ist mehr zu sehen, nur die Sterne sind am Himmel und leuchten hell auf die Erde herab. Und der Mond, ja der Mond ist auch noch da.
Es regnet, schon seit Tagen, manchmal dicke, fette Tropfen, manchmal ganz leichte und manchmal nur Nieselregen. Seit Tagen nur Wasser, von überall her. Die Strassen sind schon so nass, dass man glaubt bald ein Boot zu brauchen um sich noch fortbewegen zu können.
Ich habe kein Boot. Werde wahrscheinlich nie eins haben. Nein, ganz sicher nicht. Einer wie ich, der noch nicht einmal Geld hat, um sich ein ordentliches Abendessen zu kaufen, wird sicherlich niemals der stolze Besitzer eines Bootes werden.
Aber wer wird das schon? Nicht mal die „normalen“ Leute kommen oft in den Genuss, einmal ein Boot zu besitzen. Nein.
Es ist kalt, ich habe meine Decke ganz nach oben gezogen, um mich vor der Kälte zu schützen. Diese kriechende, fast atmende Kälte, die überall durchzukommen scheint. Mich friert, die Decke ist an einer Stelle etwas nass geworden. Kann man nicht ändern. Wenn der Regen so von der Seite kommt hilft selbst der tiefste Hauseingang nichts mehr. Leider nicht. Nein, nein.
Ich bin allein. Schaue zu den Sternen, die man nicht sehen kann. Und zu dem Mond, der da irgendwo da oben sein muss. Hinter den Wolken, über dem Horizont. Da ist er, ganz bestimmt, ich weiß es. Habe ihn schon oft genug gesehen, den alten Mond, als es noch gutes Wetter war und ich noch nicht fror. Da war er immer da, jede Nacht, außer wenn Neumond war, dann natürlich nicht.
Ich schaue immer noch nach oben, suche, versuche eine Lücke in der Wolkendecke auszumachen. Nur einen Stern zu sehen, nur ein kleines Stückchen von einem Stern vielleicht. Aber ich sehe nichts, nein, nicht heute Nacht. Heute Nacht scheint mir kein Stern, kein Mond.
Weil es regnet. In Strömen und von der Seite, so dass alles nass wird, vor allem meine alte vergammelte Decke. Ich ziehe sie zurecht. Schaue hoch.
Und dann ist da plötzlich dieses Mädchen da. Ganz unverhofft, so wie aus dem Nichts kommt sie da die Strasse entlang. Die ach so leere Strasse. Sie sieht traurig aus, weint, glaube ich. Oder sind das die Regentropfen?
Ich kann es nicht sagen. Aber sie sieht seltsam aus, wie sie da so auf dem Gehweg auf mich zukommt, mit ihrem etwas ausgeleierten Rock und dem grauen Pullover.
Wieso hat sie denn keinen Schirm? Es ist seltsam, sehr seltsam.
Niemand anderes ist da, niemand außer ihr, und mir natürlich. Aber sie sieht mich nicht, hält ihren Blick starr auf den Boden gerichtet, die da, mit ihrem komischen Rock. Ein Kopftuch hat sie auch auf dem Kopf, vielleicht um sich vor den Regen zu schützen.
Oder auch nicht, ich kenne mich mit Kopftüchern nicht aus.
Es ist immer noch kalt, aber der Regen scheint nachzulassen. Das Mädchen kommt näher.
Ich kann sehen, dass sie dunkle Haut hat, ganz dunkel, aber nicht schwarz. Nein, nicht ganz schwarz, nur ganz dunkel, so wie die dicken Frauen, die sonst immer mit dem Kopftuch durch die Stadt laufen. Genauso dunkel.
Ich kann nicht sehen, ob sie hübsch ist, aber ich stelle es mir vor. Ich stelle mir vor, dass sie zwei wunderschöne kastanienbraune Augen hat, mit nicht zu dicken Brauen darüber, ein wunderbar weiches Kinn und wohl geformte Wangen. Ich stelle mir ihre kleine Stupsnase und die neckigen Ohren vor. Ihren Hals, der die Jungs verrückt macht.
Ich kann mir vorstellen, wie schön sie ist. Kann sie fast schon vor Augen sehen. Aber sie ist noch nicht nah genug. Wenn sie doch nur einmal aufblicken würde. Nicht immer nur auf den Boden blicken würde.
Der ist doch dreckig, der Boden, und nass. Ganz nass, so nass, dass man sich am liebsten gleich ein Boot kaufen will.
Wenn man das Geld hat.
Ich nicht, ich bin arm, obdachlos, wie man so schön sagt. Einer, der kein Dach hat, nur einen Hauseingang. Nur eine Decke, die an einer Stelle etwas nass ist vom Regen und der kein Geld hat um sich ein Abendessen zu kaufen.
Und erst recht kein Boot.
Aber wer kauft sich denn schon einfach so ein Boot? So nass ist es dann auch wieder nicht, oder?
Für das Mädchen wohl nicht.
Das hat ja nicht mal einen Regenschirm.
Also ehrlich, bei solch einem Wetter geht man doch nicht ohne Schirm aus dem Haus, oder? Also, normale Leute nicht, oder?
Nein, eindeutig nicht!
Aber sie schon, komisch.
Es ist kalt, sehr kalt, aber der Regen lässt nach, ich glaube, er hört langsam sogar auf… Ich schaue wieder zum Himmel. Suche eine Lücke. Finde sie nicht. Die Wolkendecke ist immer noch da. Ich werde traurig. Heute Nacht scheint mir kein Stern mehr, und auch kein Mond.
Nichts scheint mir, nichts ist da, nur das Mädchen, das komische Mädchen, mit dem alten Rock und den grauen Pullover und dem Kopftuch auf dem Kopf.
Nur sie, und ich natürlich.
Nur wir, wir zwei.
Und keine Sterne.
Sie kommt näher, immer näher. Ich habe immer noch ihr Gesicht vor mir. Das mit der Stupsnase und den wunderschönen kastanienbraunen Augen. Direkt hier, vor mir. Aber das Gesicht lebt nicht, es ist nicht lebendig, kann nicht lachen, nicht weinen. Ich möchte ihr richtiges Gesicht sehen. Die wahren Augen, die wahre Nase, die wahren Wangen und Ohren. Sie ist sehr nahe jetzt, ich höre ihre Schritte. Es macht Platsch, bei jedem Schritt ein kleines Platsch. Ganz rhythmisch: Platsch –Platsch – Platsch.
Und dann ist sie plötzlich da. Will an mir vorbeigehen. Das will ich nicht zulassen, will doch ihr Gesicht sehen, ihr richtiges Gesicht.
He, Mädchen, hast du mal n bisschen Kleingeld, frage ich sie. Sie bleibt stehen und schaut dann kurz auf. Nur ganz kurz. Schaut mir direkt in die Augen, schüttelt dann den Kopf und geht weg. Einfach so.
Ich höre noch ihr Platsch- Platsch, aber sehen kann ich sie nicht mehr.
Weg, weg ist sie, so wie die Sterne und der Mond, einfach nicht da.
Und nicht mal einen Regenschirm hatte sie gehabt. Also wirklich, ist das denn normal? Bei so einem Wetter ohne Regenschirm aus dem Haus zu gehen?
Wohl kaum.
Aber vielleicht ist sie ja gar nicht „normal“. Ich denke nach. Erinnere mich an ihr Gesicht. Es ist nicht so schön, wie ich gedacht hatte, aber doch schön. Zumindest relativ. Sie war traurig gewesen, und geweint hatte sie.
Oder waren es die Regentropfen gewesen?
Ich weiß es nicht.
Denke nur nach.
Und schaue dann wieder nach oben. In den bewölkten Himmel.
Da sehe ich eine Lücke, ja wahrhaftig, an einer Stelle ist die Wolkendecke aufgerissen und man sieht die Sterne.
Ich lehne mich nach vorne und blicke um die Ecke.
Ich kann sie sehen, das Mädchen, mit dem Rock und dem Pullover und den weinenden Augen. Sie geht immer noch. Allein und mit dem Blick nach unten gerichtet.
Aber über ihr, über ihr, da ist die Lücke, da sind die Sterne, die scheinen auf sie herunter, ganz hell und schön, schön wie sie.
Ich lehne mich zurück.
Ich weiß es jetzt, bin mir ganz sicher.
Sie ist nicht normal.
Sie hat kein Geld für einen Regenschirm.