Nordstern
Ich sitze auf einer kalten Stahlbank an der Bushaltestelle. Starker Regen prasselt aggressiv auf das Glasdach der Haltestation. Die Glaswand links von mir fehlt und durch das deswegen alleinstehende Stahlgerüst trägt der Wind Kälte und Regen in meine Richtung. Der Himmel ist verhangen von dunklen Gewitterwolken. Nur einige Blitze durchdringen die Dunkelheit.
Plötzlich weht eine Windböe einen ganzen Wall aus Wasser in das Häuschen. Gefühlt erschlägt mich eine Fontäne aus Regen. Ich zucke zusammen. Meine linke Körperhälfte ist nun total durchnässt. Ich spüre wie ein einzelner kalter Wassertropfen von meinem Nacken aus langsam meinen Rücken runterläuft. Ich kriege eine beklemmende Gänsehaut am ganzen Körper. Ich stehe auf und stelle mich in die hinterste Rechte Ecke wie möglich. Das Risiko ist zu groß ein weiteres Mal so viel Wasser abzubekommen. Ich drücke mich fest an die verbliebene, schützende Glaswand. Ich friere. Bei jedem weiteren Windstoß breitet sich die Kälte weiter in meinem Körper aus. Ich zittere.
„So ein blödes Dreckswetter“, meldet sich plötzlich mein Verstand zu Wort. „Wieso heute? Wieso jetzt? Die letzten zwei Wochen hat es kaum geregnet. Da will man einmal mit dem Bus fahren, was ja schon schwer genug bei diesen Busverbindungen“, denke ich und rege mich innerlich mehr auf als ich eigentlich will. Ich blicke auf mein Handy. 16:49 Uhr. „Noch sechs Minuten. Das schaffe ich. Hauptsache dieser scheiß Bus kommt. Wieso muss sein Auto denn gerade jetzt in der Werkstatt sein? Und wieso hatte ich überhaupt die Idee ihn zu überraschen? Könnte daran liegen, dass ich ihn liebe. Und wie ich ihn liebe!“ Bei diesem Gedanken bessert sich meine Laune etwas. „Ihn in den Arm zu schließen wird das alles wert gewesen sein. Das weiß ich.“ Es wird immer wärmer, wenn ich an ihn denke. Von meinem Herz geht ein wohltuendes Gefühl aus, welches sich in meinem Körper verbreitet. Für einen Moment verdrängt dieses Gefühl der Liebe die nasse Kälte.
Windstoß. Und schon ist der Moment vorbei. „MAAAAAN!“, schreie ich still in meinem Kopf. „Wieso?“ Ich kann nicht mehr. Ich weiß nicht wieso, aber die Situation überfordert mich. Sie überfordert mich so sehr, dass ich merke wie meine Augen ganz leicht anfangen zu zucken, zu zittern. Mein Gesicht wird ganz heiß und langsam fangen meine Augen an sich mit Tränen zu füllen. „Nein! Nicht weinen! Ich will jetzt nicht weinen!“ Doch meine Gefühle entscheiden anders; Eine heiße Träne läuft über meine Wange. Langsam. Bis sie an meinem Kinn angekommen ist und auf den Boden tropft. Eine zweite folgt. Dann kann ich es nicht mehr halten, aber ich lasse es einfach zu. Eine Träne nach der anderen läuft mein Gesicht herunter. Und dann hört es einfach auf. „Wieso ist das passiert?“, frage ich mich selbst. Doch eine Antwort darauf kann ich nicht geben.
Ein erneuter Blick auf die Uhr. 16:52 Uhr. Nur noch drei verbleibende Minuten. Für mich eher eine kleine Ewigkeit. Mit meinem noch trockenen Ärmel wische ich die letzten Tränen aus meinem Gesicht. Ich stehe nun da und warte. Aber ich warte nicht nur auf den Bus. Ich warte auf die besseren Zeiten. Die Zeiten, wenn die bösen Gedanken an diesen Ort und die dort lebenden Menschen endgültig verschwinden. Ich schließe die Augen und stelle es mir vor. „Wunderschön“, murmele ich leise vor mich hin. „Es ist wunderschön!“ Mir fällt auf, dass der Regen schwächer geworden ist und als ich die Augen öffne, sehe ich zwischen der Wolkendecke einen kleinen hellblauen Fleck Himmel. „Genau so!“, sage ich. Der Bus fährt vor. Die Türen öffnen sich. Halbnass, durchgefroren und verweint steige ich ein und setze mich an einen Platz relativ weit hinten rechts. Meine nassen Klamotten kleben immer noch an meiner Haut. Aus dem Fenster sehe ich, wie dem blauen Fleck am Himmel ein einziger heller Sonnenstrahl entspringt. „Genau so wird es sein“, denke ich und lächle. Der Busfahrer startet den Bus und fährt los. Ich blicke ein letztes Mal zurück zur Haltestelle „Nordstern“. Ich löse meinen Blick, schaue nach vorn und nehme die nächste Station in Angriff: Glück!