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Norbertt
Norbertt stand in einem weiten Feld aus Mohn, der sich wie Blut an allen Seiten zum Horizont ergoss. Seine Hände strichen durch die roten Blüten und eine warme Brise strich um seinen Körper. Der Himmel war blau und obwohl keine Sonne zu sehen war, war er grell und heizte das Feld unter ihm auf. Norbertt ging ein paar Schritte, schloss die Augen und genoss den Moment der Freiheit.
Als sich ein Knirschen und Klappern in seinen Traum fraß.
Noch geblendet von einem grellen Himmel erwachte er in vollkommener Dunkelheit. Er rieb den Traum aus seinen Augen und spürte die Wärme seines Bettes, als er das Knirschen und Klappern wieder hörte.
Und dann sah er sie.
Finsterer als die Nacht warfen sie lange Schattten in die Dunkelheit und wiegten kaum merklich hin und her, sodass ihre Knochen knirschten und klapperten. Sechs Skelette standen um Norbertts Bett und blickten starr auf ihn herab.
Er schoss hoch und schrie aus voller Kehle, als er merkte, dass kaum ein Krächzen seinen Lungen entwich. Die Blicke der Skelette folgten ihm unbeeindruckt, als er sich gegen das Kopfende seines Bettes presste. Panik schnürte seine Brust zusammen und er würgte, als müsste er sich übergeben.
“Wer seid ihr?”, presste er hervor. Doch statt einer Antwort bekam Norbertt etwas zu sehen, das ihm sein Fleisch kalt gegen seine Knochen presste. Der erste Knochenmann öffnete seinen morbiden Kiefer unnatürlich weit, fast so, als wollte er Norbertt verschlingen, gleich einer Schlange, die sich auf ein zitterndes Nagetier stürzte. Doch das Skelett blieb stehen, sein Maul weit aufgerissen, und sagte nichts.
Langsam hoben sich die Konturen der Knochen vor der Dunkelheit ab. Sechs Skelette, gekleidet in Fetzen von Kleidern und Federn und Ketten. Aber keine Ketten, an die sie gebunden waren, sondern Schmuck und Zierde. Frauen, dachte Norbertt und mit ihrem Wiegen und Klirren erinnerten sie ihn nun an Tänzerinnen, die zu einer toten Musik tanzten.
Für einen Moment löste die Panik ihren Griff und Norbertt tastete zu seinem Nachttisch, um nach irgendetwas zu suchen, das ihm als Waffe dienen konnte. Doch er fand nur ein leeres Whiskeyglas und als er es warf, verfehlte es die Skelette bei weitem.
“Was wollt ihr?”, krächzte er und da öffnete das zweite Skelett seine Kiefer und schwieg. Es sah auf ihn herab und in diesem Blick sah er eine kalte, dunkle Absicht.
“Ich hab euch nichts getan”, wimmerte Norbertt und das dritte Skelett riss stumm seine Kiefer auf.
Das Wiegen der Knochen hatte etwas Betörendes an sich und durch die Dunkelheit erahnte er die Formen der Frauen der Vergangenheit. Ihre Kurven wogen im obskuren Glockenspiel und schmeichelten auf verstörende Weise seinem Geist und fesselten seine Augen, die nicht mehr sehen wollten.
“Ich will das nicht!” schrie er zaghaft und als wären seine Worte Lose, öffnete das vierte Skelett seinen Kiefer zu einem stummen Leider Nein.
An den Hüften der Skelette hingen Bänder und Tücher, Ketten aus Gold und Perlen schlangen sich um ihre Halsknochen und Handgelenke und viele der langen, knochigen Finger waren mit Ringen besteckt. Ein Teil von Norbertt wollte plötzlich aufstehen und mit den Skeletten tanzen, wollte eintauchen in das Klappern und Klirren und ihre kalten, harten Knochen umschlingen und für einen Augenblick dem Bedürfnis nachgeben, sich Geborgenheit und Liebe einbilden zu dürfen.
Mit Mühe riss er seinen Verstand los.
“Bitte tut mir nichts”, wimmerte er und das fünfte Skelett öffnete sein Maul. Es schwieg ebenso wie die anderen, nur schien es, als würde Kälte aus dem weit aufgerissenen Kiefer auf Norbertt herabströmen. Er zitterte und totale Einsamkeit kroch kalt seinen Körper hoch. Er war allein, umringt von unnatürlichen Wesen und niemand auf der Welt konnte ihm helfen.
Norbertt fragte sich ganz still, wo ist meine Frau und mein Sohn? Doch als seine Finger das Bett absuchten, fanden sie nur kalte Bettwäsche.
Und da erkannte er.
“Es tut mir so leid...”, schluchzte er.
Das sechste Skelett öffnete seine Kiefer und diesmal schwiegen die Skelette nicht. Stattdessen öffneten sie ihre Münder noch weiter und schrien mit tiefer, unnatürlicher Stimme. “AAAAAAAAAAAAAAAAAAA”
Ihre Stimmen ätzten sich in Norbertts Verstand und obwohl er seine Handflächen so fest er konnte gegen seine Ohren presste, wurden sie lauter und trieben die Welt vor sich her. Norbertt wurde schwindelig und Panik kehrte zurück. Er blinzelte hoch und in einer sich drehenden Welt sah er, wie die Skelette sich auf ihn stürzten, mit weit aufgerissenen Kiefern, aus denen sich der Laut ergoss, der seine Welt hinfortspülte.
Und es war erst kurz bevor er ohnmächtig wurde, als er verstand, dass es keineswegs nur ein Ton war, der den Skeletten entwich, sondern sie riefen einen einzigen Namen. Baal.
Durch den wirbelnden Ozean des Sterbens tauchte Norbertt wieder in seinem Traum auf. Wie ein Ertrinkender reckte er seine Arme hoch, streckte sein Gesicht aus dem roten Meer und holte laut und tief Luft. Noch einmal. Und noch einmal.
Sein Verstand sollte sich eigentlich wehren und was er sah nicht begreifen wollen, doch irgendwie beruhigte ihn der warme Himmel und das Lächeln der Mohnblüten, und so war er lediglich froh, nicht zu spüren, was auch immer die Skelette vorgehabt hatten. Er war entkommen. In sein Keuchen mischte sich Lachen der Erleichterung.
“Schön, dass es dir hier gefällt, Norbertt.” Norbertt drehte sich noch halb hockend um und sah eine Gestalt über ihn gebeugt und sein Lachen verebbte augenblicklich. “Nur zu”, sagte sie, “je besser es dir gefällt, desto schöner wird es für uns beide.”
Norbertt sah die Gestalt regungslos an. Für einen kurzen Augenblick war er erleichtert, dass es sich nicht um ein Skelett handelte, doch als er sie näher betrachtete, verendete seine Hoffnung. Vor ihm stand ein Mann, groß und schlank, sein Körper gehüllt in Gewand, das im Gleichtakt mit dem Mohn im Wind wogte. Sein Gesicht war freundlich, er lächelte und eine Hand streckte sich Norbertt helfend entgegen.
Doch zwei Dinge machten die Gestalt so abstoßend, dass Norbertt die Gesellschaft der Skelette bevorzugt hätte. Trotz des Lächelns und der ausgestreckten Hand, schien unter der Oberfläche des Mannes etwas anderes zu wohnen, das das bloße Auge nicht fassen konnte. Etwas Unbeschreibliches, Böses, das einerseits so subtil aber auch wieder so präsent war, dass Norbertts Verstand in diesem Paradoxon unterzugehen drohte. Es war, als könnten Norbertts Augen beim Anblick des Mannes die Schreie unzähliger Stimmen hören.
Und als könne der Körper der Gestalt die in ihm wohnende Boshaftigkeit nicht fassen, war seine Haut rot gefärbt, wie die Blüten des Mohns.
“Baal”, stammelte Norbertt, ohne zu wissen was er sagte.
Und Baals Lächeln wurde breiter. “Mein Ruf eilt mir voraus, ja?”
Ohne nachzudenken ergriff Norbertt Baals Arm und wurde hochgezogen. Seine Beine waren so kraftlos, dass er fast wieder umgekippt wäre, hätte ihn die Gestalt nicht gestützt. Selbst im Stehen musste Norbertt zu Baal hochsehen, sein Kopf reichte nur knapp bis zu den Achseln.
“Komm. Wir gehen, mein Sohn” sagte Baal. “Wir haben noch viel vor.”
Norbertt wollte sich wehren, ihm sagen, dass er nicht sein Sohn sei, dass er ihn loslassen solle, er wollte den Mann wegstoßen und weglaufen. Wenn er nur schnell genug davon käme, könne er vielleicht den Überraschungsmoment nutzen und sich im Mohn verstecken und geduckt laufen, bis er einen Ausgang fände. Jetzt oder nie!
Stattdessen fragte er: “Wohin gehen wir?”
Baal nickte mit seinem Kopf zur Seite und als Norbertts Blick ihm folgte, sah er einen riesigen Berg am Horizont, der sich so schwarz und mächtig vor dem Himmel abhob, dass Norbertt sich wunderte, dass er ihn nicht schon vorher bemerkt hatte.
Baal trieb ihn voran. Norbertts Beine waren immer noch schwach, aber Baal stützte ihn in einer fast väterlichen Umarmung. Ihre Schritte hinterließen Spuren im Mohn, die wenige Momente später wieder verschwanden.
“Hab keine Angst. Du wirst Teil etwas Großem”, lächelte Baal und obwohl Norbertt vor Entsetzen schreien und fliehen wollte, wollte ihm sein Körper nicht folgen. Im Gegenteil. Norbertt lächelte mit ihm.