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Norbert Hainemann: Wie die DDR mir ein Leben raubte.
Es ist das erste Mal in mehr als drei Jahrzehnten Ehe, dass sich Norbert Hainemann nachts aus dem gemeinsamen Einfamilienhaus in Leuna schleicht. Er will verschwinden. Sitzt mit pochendem Herzen in seinem Auto in der Einfahrt jenes Einfamilienhauses. Die Fahrertür, noch geöffnet, wird von ihm sanft und leise zugezogen. Den Schlüssel steckt er sachte ins Zündschloss, dreht ihn aber noch nicht herum. Die Scheinwerfer bleiben noch erloschen. Auch das Radio lässt Norbert aus. Zu groß ist die Angst, dass die Lautstärke falsch eingestellt und die Musik zu laut sein könnte. Aber selbst wenn die Lautstärke richtig eingestellt ist, befürchtet Norbert, dass ein rockiges oder eines dieser elektronischen Lieder läuft, die ebenso bei normaler Lautstärke zu laut sein könnten. Er braucht die Ruhe der Nacht – als Schutz versteht sich.
Das Pochen seines Herzens ist nun so laut, er bildet sich ein, von dem Geräusch könnten die Nachbarn und auch Sabine wach werden. In der Tat hat Norbert in diesem Moment vor jedem Geräusch Angst, denkt von jedem Geräusch, es könnte die Nachbarn und Sabine wecken. Um sich zu beruhigen, atmet Norbert tief ein und aus. Das Herz wird langsamer, er schließt die Augen und ermahnt sich selbst noch einmal, dass kein Geräusch die Nachbarn oder Sabine wecken dürfe. Und dass sein Herz nicht so laut sein kann, dass es Sabine oder die Nachbarn wecken könne, dass es wirklich keine Bedrohung für die Stille der Nacht ist, auf die Norbert gerade schützend angewiesen ist.
Und wie Norbert seine Atemübung fortsetzt, die eingeatmete Luft auspustet hat, so weckt Sabine kein Geräusch, sondern ein kalter Luftzug, den die laue Sommernacht ihr in den Nacken bläst. Sie öffnet ihre Augen. Es ist dunkel im Schlafzimmer der Hainemanns. Kein Licht brennt, nur ein kühler Windhauch kommt geräuschlos durch den Spalt des angekippten Fensters und legt sich über Sabine. Ihr wird kalt. Sie dreht sich herum, wirft einen kurzen Blick auf das Fenster und erwartet dann, wie gewohnt, Norbert neben sich zu finden. Doch er ist weg. Die Seite des Bettes ist leer und Sabine beginnt, wacher zu werden. Noch versteht sie nicht. Beruhigt sich mit dem Gedanken, dass Norbert im Bad sein müsse. Sie lauscht, hört aber keine Geräusche, nicht die Klospülung, nicht den Wasserhahn, ja nicht einmal das leise Klicken des Lichtschalters, wenn dieser umgelegt wird. Sabine beginnt sich im Schlafzimmer umzusehen und findet weder Norbert noch ein Anzeichen für seinen Aufenthaltsort. Sie wird nun hellwach, etwas, dass bei Sabine sonst eine gute halbe Stunde dauern kann, ist nun mitten in der Nacht in wenigen Augenblicken passiert.
Mit einem Ruck schlägt sie die dünne Decke zurück, schwingt sich aus dem Bett und holt ihren Morgenmantel. Den hatte ihr Norbert einst zum Geburtstag geschenkt, weil Sabine immer betonte, dass in den amerikanischen Serien und Filmen, die sie so liebte, die Frauen immer Morgenmäntel trugen. Sie wolle auch einen. Norbert erfüllte ihr diesen Wunsch.
Eben jenen Mantel zugeschnürt, steht Sabine vor dem Fenster. Kein Mensch, kein Auto ist unterwegs, um diese Zeit ist es in der Siedlung ruhig. Die Laternen beleuchten die Gehwege, der Rest liegt in Dunkelheit. Sabine schließt das Fenster. Und es ist in diesem Moment, als Sabine das Fenster mit einiger Kraft schließt, um dann den Griff um 180 Grad nach unten zu drehen, dass Norbert den Autoschlüssel in die entgegengesetzte Richtung dreht, der Motor startet und die Scheinwerfer das Garagentor der Hainemanns anleuchtet. Sabine wendet ihren Blick zur Einfahrt.
Norbert kneift die Augen zusammen, jetzt ist er sich sicher, der startende Motor muss Sabine aus dem Schlaf gerissen haben. Nun wird sie sich umdrehen, merken, dass er nicht im Bett liegt und ihn im Haus suchen - er irrt. Sabine bleibt wider die eigenen Erwartungen ganz ruhig und beobachtet aus dem Fenster, wie Norbert mit dem Auto zurücksetzt. Beobachtet, wie der Fußweg kurz unter dem Wagen verschwindet, das Auto nach einer Wendung die Straße entlangfährt und aus dem Blickfeld von Sabine verschwindet.
Sabine schließt langsam die Augen, atmet tief ein und aus. Sie beginnt zu hoffen, dass Norbert nichts anstellt. Auf seine alten Tage, wie es Sabine ihm oft unter die Nase reibt, wäre es ihm zuzutrauen. Die letzten Wochen hatte er sich nicht nur ihr, sondern auch den gemeinsamen Kindern zurückhaltender Verhalten, als diese es von ihm gewohnt waren. Dabei ist es doch Norbert, der immer wieder die Harmonie sucht, der die mitunter harsche Art von Sabine ausgleicht. Er ist der, der die Wogen in der Familie glättet und nun ist Norbert weg und niemand ist da die aufkommenden Wogen zu glätten. Sabine wendet sich vom Fenster ab, schaltet das Licht an und geht zu ihrem Nachtschrank. Sie nimmt das darauf stehende Familienbild in die Hand, wischt mit der anderen drüber, um vereinzelte Staubkörner zu entfernen.
Sie alle wirken so glücklich. Norbert und Sie, arm in arm auf einer Parkbank sitzend, rechts daneben sitzen Tobias, der gemeinsame Sohn der Hainemanns und seine Frau Johanna. Links neben Norbert beugt sich fröhlich, wie Anna schon als Kind immer war, die gemeinsame Tochter der Hainemanns zu ihrem Vater hinunter. Tobias hält in seinem Arm, gut eingepackt, die kleine Natalie, die Norbert und Sabine Hainemann zu Opa und Oma Hainemann werden ließ. Erst wenige Monate alt, hat sie doch die gesamte Familie verzaubert. Traumschön, pflegt Tobias immer zu sagen. Seine Natalie ist traumschön. Es ist eben jenes Wort, dass Sabine so gerne benutzt, wenn sie an diesen Moment denkt, als sie alle gemeinsam im Park waren und dieses spontane Familienbild entstanden ist.
Sabine beginnt zurückzublicken, welch Glück die Hainemanns doch hatten. In der DDR hatten sie nie Schwierigkeiten, die Wende empfanden sie dennoch als Erleichterung und die Privatisierung der Wirtschaft durch die Treuhand der BRD hatten sie fast unbeschadet überstanden. Nur Norbert war kurzzeitig arbeitslos geworden, fand aber rasch etwas Neues. Ein Glücksfall, dass ist den Hainemanns durchaus bewusst. In ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis gab es mehrere, die viele Monate suchten und nichts fanden und letztendlich ihr Glück drüben (dieses Wort versucht Sabine seit Jahren erfolglos aus ihrem Wortschatz zu streichen) oder gar im Ausland versuchten. Manche kamen zurück, manche nicht. Auch der Wegzug von vielen jungen Menschen, den Sabine immer mit Sorge betrachtet hatte, führte im Endeffekt nicht zu der Befürchtung, dass sie ihre Stelle als Kindergärtnerin verlieren würde. Die Hainemanns hatten Glück.
Zu diesem Glück gehörten auch Streitigkeiten, es gab Höhen und Tiefen, doch sie bewegten sich immer in einem ganz normalen Rahmen. Letztendlich konnten die Hainemanns ihren Kindern ein behütetes zu Hause bieten. Ganz so, wie sie sich das für ihre Kinder wünschten und nun hat Norbert mitten in der Nacht das gemeinsame Haus, das gemeinsame Leben verlassen. Norbert hat Sabine verlassen. Und dabei versteht Sabine noch nicht, dass der Norbert, den sie kennt, der Norbert, der die Wogen glättet und die Harmonie in der Familie aufrechterhält, dass dieser Norbert sie nie verlassen wird. Sie versteht noch nicht, dass Norbert sie nur für wenige aber überlebenswichtige Stunden verlassen hat. Noch versteht Sabine nicht, dass Norbert ein Leben geraubt wurde.
Während Sabine noch nicht versteht, noch nicht verstehen kann, weil sie keine klaren Gedanken mehr fassen und auch nicht mehr schlafen kann, sitzt Norbert im gemeinsamen Auto und fährt nach Leipzig. Er hat es eilig, nimmt die B91, fährt auf die A38 und beschleunigt. Es dauert nur wenige Minuten, bis Norbert auf die B2 in Richtung Leipzig abbiegt und dieser bis in die Stadt folgt. Insgesamt ist Norbert nur knappe 35 Minuten unterwegs gewesen, bis er auf einem Parkplatz in der Innenstadt zum Stehen kommt. Nun macht sich Norbert keine Gedanken mehr darum, ob er zu Laut sein könnte, auf der Straße war er nur einer von vielen Fahrern, die noch unterwegs waren und in der Stadt ist er nur einer von vielen. Gerade an einem Samstagabend im Sommer schöpft niemand Verdacht. Norbert ist sich sicher, dass ihn niemand erkennt.
Dies bewahrt ihn jedoch nicht vor der aufkommenden Nervosität. Mit seiner schwitzenden Hand fasst Norbert den Autoschlüssel an, dreht sein Handgelenk nach links, um den Motor auszumachen und zieht den Schlüssel heraus. In seiner Hand vergraben drückt er den Autoschlüssel tief in seine Handfläche, schließt die Augen und atmet wieder tief ein und aus. Den Schlüssel lässt er in seinen Schoß fallen und legt beide Hände auf das Lenkrad. Die obere Hälfte des Lenkrades ist noch kühl und nicht durch die schwitzenden Hände in der letzten halben Stunde erwärmt worden. Die Arme streckt Norbert durch, krümmt sie anschließend wieder und lässt den Kopf hängen. Sein Blick fängt den Autoschlüssel in seinem Schoß ein und die dunkle Jeans, die im Sitzen etwas spannt.
Er speichert das Gesehene ab, legt es gedanklich beiseite und fragt sich, ob er nicht doch zurückfahren soll. Zurück zu Sabine, in das gemeinsame Haus und in das gemeinsame Leben. Ob er sich eine Ausrede einfallen lassen sollte, nie wieder von diesem Vorfall sprechen und die Wogen mit Sabine wieder glätten sollte? Eigentlich hat er doch ein schönes Leben mit Sabine, aber dann kommt schon wieder der Gedanke, wie fremd er sich doch in diesem Leben fühlt. Dass er sich in den Spiegel anschaut, auf Fotos sieht und sich fragt, ob er das wirklich ist. Und dann denkt er daran, wie er verraten worden ist, wie ihm die DDR, die Stasi ein Leben raubte. Ein Raub, dessen Folgen ihm erst jetzt, Jahrzehnte später, im vollen Umfang bewusst zu werden scheinen. Und das alles, wegen dieses jungen Mannes, der Martin so ähnlich sieht, als wäre Norbert in der Zeit zurückgereist und dem Martin begegnet, der ihn verriet. Jenem Martin, der den Raub ermöglichte.
Norbert öffnet die Autotür und steigt aus dem Wagen aus. Die Tür schließt er ab, prüft, ob die Tür auch wirklich zu ist, und steckt seinen Autoschlüssel in die Hosentasche. Nun gibt es kein Zurück mehr. Und so läuft Norbert mit leicht gesenktem Blick, welchen er nur erhebt, um über die Straße zu kommen, vom Auto weg und hin zur gegenüberliegenden Straßenseite. Dem Fußweg folgt er einige hundert Meter, biegt dann links, die Nächste rechts und dann nochmal links ab. Den Weg hat er sich eingeprägt, zum einem weil er keines dieser neumodischen Handys besitzt und zum anderem, weil er einen Parkplatz ausgewählt hatte, welcher von seinem eigentlichen Ziel einige Gehminuten entfernt liegt, um – und das ist schon fast paranoid – nicht verfolgt zu werden. Wenige Meter noch, dann steht Norbert vor einer dicken Tür. Silbern angestrichen soll sie den Eindruck erwecken eine Stahltür zu sein, also kräftiger zu sein, als die Tür eigentlich ist. Die Fenster links und rechts sind alle abgedunkelt, keine Blicke von außen führen hinein und keine von drinnen nach draußen. Links neben der Tür findet sich in einer Edelstahlumrandung ein Nummernfeld wie auf einem Telefon wieder. Es ist eine Klingel samt Sprechanlage und darüber ein dunkler Halbkreis, der die darunterliegende Kamera abdunkelt. Über der Tür steckt in einer kleinen Eisenvorrichtung eine kleine hölzerne Stange, die am Ende eine gestreifte Flagge trägt. Ein Erkennungsmerkmal und Zeichen, für diejenigen, die suchen. Aber die meisten Menschen, laufen an dem Haus und an der Tür vorbei.
Norbert starrt auf die Sprechanlage, dann hoch zur Kamera und entscheidet sich einfach zu klingeln. Noch länger vor der Tür zu stehen, würde ihn verdächtig machen – selbst für die Menschen in dem Haus. Weiß er doch, dass die Kamera ihn längst anvisiert hat und er schon vor dem Eintritt begutachtet wird.
Und es ist dieser Moment, kurz bevor Norbert die Tür geöffnet wird, dass es vergangene Ereignisse zu entdecken gibt, die ich nicht erzählen werde. Es sind Ereignisse, die Norbert erzählen wird. Sie, meine lieben Leserinnen und Leser, werden sehen, Norbert muss ihnen diese Geschichten erzählen. Anders geht es nicht.
Ein leises Summen signalisiert Norbert, dass er die Tür öffnen kann. Mit einem Schwung zieht er die Tür auf und tritt ein. Vor Norbert erstreckt sich ein spartanisch beleuchteter Raum mit einer Bar und Sitzgelegenheiten vor dem Tresen sowie rechts an der Wand – jedoch ohne Tische. Rechts neben der Bar gibt es eine Glastür, die zum Raucherbereich und zu den Kabinen führt. Links neben ihm ist eine kleine Garderobe inklusive Schließfächer, um Wertsachen wegzuschließen. Auch hier führt nach einer weiteren Tür ein schmaler Gang zu den Kabinen und dem Raucherbereich. Die beiden Gänge sind miteinander verbunden. Im Gang selbst findet sich die Toilette und eine kleine Treppe, die in den Keller des Hauses führt. In diesem gibt es zwei Räume und einen schmalen Flur am Fuße der Kellertreppe. Auf der rechten Seite dieses Flures befindet sich ein kleiner und vollkommen abgedunkelter Raum, der nur von dem einfallenden Licht der Deckenlampe im Flur erhellt wird. Die Tür zwischen Flur und Dunkelkammer wurde extra herausgenommen, um eben jenen Effekt zu erzielen. Der zweite Raum, ebenso spartanisch beleuchtet, befindet sich am gegenüberliegenden Ende des kleinen Flures. Auch hier sind Kabinen zu finden, ebenso hölzerne Wände mit Löchern in Schritthöhe. Der Raum bietet mehrere Möglichkeiten sich zu verstecken,zu beobachten oder sich beobachten zu lassen. Aber immer so, dass die Stimmung der Intimität, des Privaten, gleichzeitig gewahrt wird. Eine schmale Grenze. An diesem Ort ist nie etwas ganz Privat und nie etwas ganz Intim.
Die Sitzgelegenheiten am Tresen und an der Wand sind nur vereinzelt belegt. Da es keine Tische gibt, setzt sich Norbert an den Tresen. Sofort hat er die Aufmerksamkeit des Barkeepers und bestellt sich bei diesem ein Bier. Norbert wird die geöffnete Flasche freundlich hingestellt. Er bezahlt sofort und bekommt von dem Barkeeper ein Lächeln geschenkt, worüber Norbert verwundert ist, da er kein Trinkgeld gab. Ebenso überrascht es ihm, dass er kein Glas zu seiner Flasche bekam. Es dauert einen Moment, bis er realisiert, dass der Tresen eben nur die erste Station ist und die meisten Gäste mit ihren Getränken im Keller oder im Gang sein werden. Ein Bierglas ist dafür hinderlich, eine Flasche jedoch praktisch.
Norbert, der sonst nicht viel Alkohol trinkt, nimmt einen großen Schluck aus seinem Bier, stellt es wieder hin, um dann erneut einen großen Schluck zu nehmen. Seine Hände reibt er nachdem erneuten Abstellen der Bierflasche an seinen Oberschenkeln und schaut sich in der Bar noch einmal um. Als er den Blick eines anderen Besuchers trifft, fühlt Norbert sich ertappt und dreht seinem Kopf erneut seinem Bier und dem Tresen zu.
Aufgeschreckt vom kräftigen Absetzen zweier Schnapsgläser, schaut Norbert den Barkeeper an, welcher schon wieder das gleiche freundliche Lächeln wie zuvor aufgesetzt hat. Der Barkeeper öffnet eine Flasche Schnaps, zeigt sie Norbert, der nickend zustimmt, und gießt ein. „Gegen die Nervosität“, sagt der Barkeeper und schiebt Norbert das Glas entgegen. Beide nehmen ihr Glas mit der rechten Hand, stoßen an und kippen den Inhalt in einem Zug hinunter. Der Barkeeper stellt sich bei Norbert als John vor. Norbert antwortet mit seinen Namen und fragt sich, wieso dieser junge Mann so nett zu ihm ist. Ganz bestimmt, um ein besseres Trinkgeld zu bekommen, da war sich Norbert ganz sicher. Aber Norbert sollte sich irren. So wie er sich irrte, als er sich sicher war, dass der startende Motor Sabine aus dem Schlaf riss. John der Barkeeper ist nicht auf Geld aus, auch nicht, als er eine zweite Runde eingießt, erneut mit Norbert anstößt und dieser danach seine Brieftasche hervorholte. „Das geht aufs Haus“, sagte John bestimmend und verdeutlicht dies mit einer ablehnenden Handbewegung. Norbert hat das Gefühl, ihn beleidigt zu haben. Denn er versteht nicht, dass John Menschen wie Norbert kennt. Männer wie Norbert verschlägt es immer wieder in diese Bar. Manche kommen wieder, manche bleiben fern. Und sie alle haben eines gemeinsam: Sie betreten eine neue Welt, brechen aus einer anderen, aus ihrer ihnen fremd gewordenen Welt aus. Hier, in der Bar, an dem Tresen bei John oder in den Kabinen im Keller, da können diese Männer, da kann Norbert, sich neu entdecken. Sich eine Oase vom eigenen fremden Leben erschaffen oder Mut entwickeln. Alles ist an Orten wie diesen möglich. Und John, der ist die gute Seele dieser Bar. Er hat nie das durchmachen müssen, was er von so vielen Männern schon hörte oder was er noch von Norbert in wenigen Wochen hören wird. Die alten Männer beneiden John darum. John hat realisiert, dass er die Chance hat, diesen Männern auch hinter einem Tresen in dieser Bar zu unterstützen. Denn nicht jeder Mann kommt in die Bar, um Zärtlichkeiten und Intimitäten auszutauschen, manche kommen, um zu reden, manche, um etwas zu flirten, um sich begehrt zu fühlen. Dies kann John ihnen geben, selbst wenn der Tresen Grenze und Anlaufstelle zugleich ist. Was Norbert noch lernen wird, aber John schon weiß, ist, dass es für manche Männer am Ende einer erfolglosen Nacht der Höhepunkt gewesen sein wird, mit John interessante und freundliche Gespräche zu führen. Denn nicht jede Nacht kann die Erwartungen, die an sie gesetzt wird, erfüllen.
Neben Norbert sitzt nur noch ein anderer Mann am Tresen und dieser bestellt sich nun ein weiteres Getränk. Dabei scherzt er mit John, als wären es alte Bekannte und die Art und Weise, wie er sich bewegt und die Stimme einsetzt, versetzt Norbert in die Vergangenheit. Norbert beginnt sich zu erinnern.
Für einen Moment dachte ich wirklich, ich würde diese Stimme kennen. Aber das kann nicht die Person sein, mit der ich diese Stimme verbinde. Das passt schon zeitlich nicht, weil die Stimme, die ich im Kopf habe, meinem Nachbar aus Kindertagen gehörte. Seine Wohnung lag der meiner Eltern gegenüber, also im selben Stockwerk. Dieser Nachbar müsste nun schon tot sein. Vielleicht sogar erschlagen also ermordet, denn alles ist möglich, wenn Ablehnung ins Extreme gesteigert wird. Da ist ein Mord nur ein Kinderspiel.
Die Tunte – so haben wir Nachbarskinder ihn ab einem bestimmten Zeitpunkt immer wieder genannt. Nicht weil wir Nachbarskinder besonders frech waren, sondern wir hatten die Erlaubnis unserer Eltern oder zumindest haben sie es geduldet. Und wir haben mitbekommen, wie er von den anderen Nachbarn gemieden worden ist. Ich erinnere mich noch, als Harry, der war Helfer der Volkspolizei, trug immer die rote Armbinde und wohnte in unserer Nähe, damals 1970 zu meinem Vater sagte, dass wir einen neuen Nachbarn bekommen und das ist so einer! Dann ging er und klingelte bei den Nachbarn. Ich verstand damals noch nicht, was das bedeuten solle: so einer. Heute weiß ich, was er meinte.
Am Anfang haben wir den neuen Nachbarn gelegentlich gegrüßt. Merkten aber schnell, dass er anders ist. Irgendwie nicht ganz männlich. Irgendwie nicht so, wie unsere Väter es waren. Und eine Frau hatte er auch nicht. Als Kind dachte ich, dass es ab einem bestimmten Alter keine unverheirateten Männer mehr gibt. Aber dieser neue Nachbar war es, obwohl er schon längst verheiratet und Vater hätte sein können. Weil er dies eben nicht war, wurde er zum Gesprächsthema bei mir zu Hause und unter uns Nachbarkindern. Mein Vater schimpfte, Mutter rümpfte die Nase und versorgte uns immer wieder mit neuem Klatsch über ihn. Ihr sei die Stimme aufgefallen, die Art und Weise seiner Handbewegungen und wie er in all seinen Handlungen eine gewisse feine Ästhetik hat, die bei den anderen Männer und Väter in der Nachbarschaft nie denkbar wäre. Dass Harry die Nachbarschaft vorwarnte und betonte, welch Nachbar da einzieht, veranlasste die Mütter, ihr Kinder zu ermahnen: Sie sollten sich nicht mit diesem Nachbar sehen lassen. Neben dem Klatsch meiner Mutter, ahmte mein Vater den Nachbarn vor seinen Freunden nach und sie machten sich lustig, dass sie die feinen weiblichen Bewegungen nicht genau nachmachen konnten, dass ihre groben und klotzigen Bewegungen die richtigen sein. Es gilt eben, ein bestimmtes Bild zu erfüllen. Bewusst und unbewusst. Auch mein Vater ermahnte mich, wie die Mutter es schon tat.
Im Sommer, wenn die Nachbarn sich dann meist zu einem kleinen Plausch an den Wäscheleinen trafen, da beobachtete mein Vater, wie unser Nachbar seine Wäsche aufhängte und sagte spöttisch: „Ein Wunder, dass die Tunte keine Damenunterwäsche aufhängt.“ Er brach in schallendes Gelächter aus, man lachte mit. Und seit diesem Male, nannten wir ihn zu Hause immer die Tunte. Irgendwann kam dann das Gerücht auf, dass es wohl Männer in unserer Nachbarschaft gab, die immer wieder nachts zur Tunte gingen. Meine Eltern waren nun noch mehr als zuvor beschämt, ihn als Nachbar zu haben. Sie begannen ihn zu ignorieren und Harry darum zu bitten, einzuschreiten. Harry meinte, er wolle, könne aber nichts nachweisen.
Ermutigt von meinen Eltern, rief ich dem Mann irgendwann, als er seine Wäsche aufhängte, „Verschwinde von hier, du Tunte“ hinterher und rannte weg. Damals war ich fest davon überzeugt, dass ich das Richtige getan hatte. Ich verbreitete dies stolz unter meinen Freunden. Keine Woche später stellten wir uns alle gemeinsam unter seinem Fenster im ersten Stock auf und riefen so laut wir konnten „Tunte! Tunte! Tunte!“ und rannten lachend davon. Das war ein Spaß, dachten wir damals und lachten immer wieder darüber. Ein anderes Mal, liefen wir an ihm vorbei, als er seine Wäsche abnehmen wollte und ich rief ihm zu: „Fräulein, wo haben Sie denn die ganze Männerwäsche her?“ und dieses Mal blieben wir stehen, wir mussten nichts fürchten, hatten keinen Respekt, nicht mal vor dem Alter des Nachbarn, während wir doch zu allen anderen erwachsenen in der Nachbarschaft nett waren. Es war klar, bei der Tunte würden wir keinen Ärger durch unsere Eltern bekommen, bei anderen Nachbarn schon.
Heute würde ich gerne zu meinem Nachbarn gehen, vielleicht auch an sein Grab und mich bei ihm entschuldigen. Gerne würde ich ihm sagen, dass ich es damals nicht besser wusste, dass wir dumme Kinder waren. Ich würde ihm sagen, dass es mir leidtue. Aber dafür ist es nun zu spät. Ich bin alt, fast sechzig. Vielleicht hätte eine Entschuldigung auch keinen Sinn mehr. Ich bin zu spät dran. Und wenn ich über diesen Nachbarn nachdenke, so frage ich mich, ob er nicht eben aus solch einer Situation geflohen war und deswegen in unsere Nachbarschaft zog und wir Gören wussten es nicht besser, als ihn nicht zur Ruhe kommen zu lassen.
Jetzt, wo ich an diesem Tresen mein Bier trinke, bewundere ich den Mut meines Nachbarn. Ich würde sagen, die Tunte hatte mehr Mut als alle Menschen, die ich in meinen Leben bisher kannte. Und die meisten Jahre sind rum, ich werde keine mutigeren mehr kennenlernen. Er war bestimmt nie einer, der in solch eine Bar musste, ihm kam sein Leben bestimmt nie fremd vor. Er schaute in den Spiegel und wusste immer, wer er war. Dieser Mann hatte so viel mehr Mut als ich – jeden Tag mit seiner Gestik und Mimik. Und dabei habe ich heute die besseren Bedingungen. Die DDR ist vorbei und die Gesellschaft ist offener geworden. Dennoch traue ich mich nicht. Ich sage mir, das offene Ausleben, das ist etwas für die jüngere Generation, sie sollen dafür kämpfen, dass es einer nächsten Generation noch besser geht. Ja, diesen Anspruch habe ich, obwohl ich doch das Gegenteil tat. Obwohl ich nicht dafür kämpfte, dass es der nächsten Generation besser geht. Aber mein Nachbar tat es. Tag für Tag stand er zu sich und blieb standhaft.
Ich weiß noch, wie er fünf Jahre nach seinem Einzug, also 1975, verprügelt und weinend nach Hause kam. Ich sah, wie er zitternd den Schlüssel in das Loch steckte und aufschloss. Und als er in die Wohnung wollte, da schaute er in meine Richtung und unsere Blicke trafen sich. Ich blieb versteinert stehen, bot keine Hilfe an, sah die bittenden Augen und blieb starr. Er verschwand in seiner Wohnung. Und ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, aber kurz nach diesem Vorfall verschwand er aus unserer Nachbarschaft. Wir hatten ihn vertrieben. Meine Eltern fühlten sich stolz, ich begann, mich schlecht zu fühlen.
Wie präsent er in mir noch war und eigentlich noch ist, merkte ich erst ein paar Jahre später, als ich selbst begann, meine Homosexualität zu entdecken. Und es verging kein Jahr, wo ich nicht an ihn denken musste, immer dann, wenn ich eine höhere Männerstimme hörte. Doch heute ist die Erinnerung besonders intensiv. Heute frage ich mich, ob er auch in seiner neuen Nachbarschaft verprügelt worden ist oder ob er dort zur Ruhe kommen konnte. Ich weiß es nicht. Vielleicht, ganz vielleicht traf er sogar jemanden, mit dem er sein Leben teilen konnte. Aber ich wage es nicht mir diese Möglichkeit auszumalen, sie kommt mir unglaublich naiv und dumm, aber dennoch denkbar vor.
Norbert Hainemann schüttelte leicht den Kopf hin und her, als wolle er seine Erinnerungen von sich abschütteln. Er bestellte sich bei John noch ein Bier, das dritte, und sprang dann vom Barhocker auf, um durch die Tür links von der Bar in den Gang zu gehen. Dort wurde das Licht dunkler und ein Geruch macht sich in Norberts Nase breit, welchen er aus seiner Studienzeit in Leipzig kennt, als er ähnliche Orte wie diese Bar aufsuchte. Es ist der typische Geruch aus Gleitmittel, Schweiß, Urin, Sperma und stickiger Luft. Es riecht nach Sex. Schon dieser Geruch wirkt auf Norbert anziehend, fast wie ein Aphrodisiakum. Verspricht dieser doch so viel, vor allem auch Freiheit. Und Norbert ist sich bewusst, dass nur Orte wie dieser solch ein Aroma entwickeln können. Vor allem, wenn mehrere Männer ein und aus gingen, sich begutachteten und ineinander eindrangen. Nur so kann jener erregende Geruch entstehen. Norbert weiß diesen zu schätzen, denn er verspricht nicht nur ihm eine Nacht voller Abenteuer, voller Freiheit, sondern auch allen anderen Besuchern. Und das schon damals in der DDR!
Erregt von diesen Versprechungen geht Norbert die Treppe zum Keller hinunter und wendet sich dem linken Raum zu. Ebenso mit Kabinen und spartanischem Licht ausgestattet, läuft Norbert diesen vorbei und stellt sich an die nackte Kellerwand, um den Raum zu überblicken. Noch ist nicht viel los, die Kabinen sind offen und leer, zwei andere Männer stehen im Raum und vereinzelt kommen andere Besucher herein, schauen sich um und gehen wieder. Sie drehen entweder eine Runde oder geben die Jagd nach einem Abenteuer für diese Nacht komplett auf. Da hilft auch kein erregender Geruch voller Versprechungen mehr, wenn diese nicht zeitnah erfüllt werden können. Besonders die älteren Männer ziehen sich dann an die Bar und zu John zurück.
Ein Mann betritt den Raum. Er streift ebenso wie Norbert an den Kabinen vorbei und richtet seinen Blick auf diesen. Er geht an Norbert vorüber, schaut ihm ins Gesicht und wendet sich binnen Sekunden ab. Eiskalt. In diesem Augenblick betritt ein junger Mann den Raum. Selbstbewusst und fordernd läuft er auf die Kabine zu, sieht ihre Leere und schaut sich im Raum um. Jeden Mann in Raum begutachtet er kurz so gut es geht. Und Norbert weiß, dass er in seinem Alter nicht mehr in das Beuteschema solch eines jungen Mannes passt. Er weiß, dass wenn es überhaupt zu einem Gespräch kommen sollte, dass die jungen Männer die älteren ansprechen. Das war schon damals in der DDR so und das wird heute noch immer so sein. Denn solch ein Ort hat seine eigenen Regeln.
Der junge Mann lehnt sich gegen die äußere Kabinenwand und wartet. Es vergeht einige Zeit und immer mehr Männer drehen ihre Runden, versuchen durch Blickkontakt, durch Berührungen ihre Erwartungen zu erfüllen. Erfolgreich zu sein. Auch Norbert wird angeschaut, er spürt die Blicke der Männer auf sich, fühlt sich begehrt. Dieses Gefühl würde Sabine nie in ihm auslösen können.
Und Norbert, der hat nur Augen für den jungen Mann, der noch immer an der Kabinenwand lehnt. Über seinem Gesicht liegt ein leichter Schatten, jedoch nicht dunkel genug, um ihn gänzlich zu verhüllen. Dafür ist die Lampe zu nah. Kurz überkommt Norbert der Gedanke, selbst zu dem jungen Mann hinzugehen, ihn zu berühren. Vielleicht ist es dieser junge Mann, der seine Erwartungen erfüllen kann. Doch Norbert bleibt stehen, er will sich keinen Korb einfangen. Nicht heute und nicht jetzt. Also beobachtet Norbert ihn weiter, wärmt mit seinem Körper die nackte Kellerwand, an der er lehnt, und fühlt sich vom Schatten aufgefressen, mit der Wand verschmolzen.
Eine Hand wandert den Oberschenkel des jungen Mannes hinauf. Bis die fremde Hand im Schritt kurz stehen bleibt. Ein Mann steht dem jüngeren gegenüber. Sie bewerten sich, bewerten, ob die Berührungen anziehend, erregend sind, ob die Geduld noch ausreicht, um nach einem anderen Mann Ausschau zu halten oder ob die Geduld am Ende ist und man nun die Erwartung an die Nacht, an diesen Ort, beginnt zu erfüllen. Ein Kopfnicken in Richtung der Kabine gibt dem Ganzen eine Zustimmung und beide verschwinden in der Kabine. Und es ist nun so, dass bei einer geschlossenen Kabine, die Männer um sie herum, noch immer stehen bleiben, weil sie die Geräusche, die hörbare Lust ungeduldiger macht, die Erwartungen an die Nacht werden noch einmal unterstrichen.
Norbert löst sich vom Schatten, von der nackten Kellerwand, tritt auf die geschlossene Kabine zu und lauscht für einige Minuten. Leicht schmatzende Geräusche verraten der Umgebung, dass die beiden sich gerade ausgiebig küssen. Ein leichtes Stöhnen, versetzt Norbert in die Fantasie selbst einen jungen Mann zu küssen, der seine Augen genussvoll schließt, sich auf die Unterlippe beißt und mit seinen Armen den Gegenüber fest umschlingt. An seinen Körper drückt. Doch was als Fantasie beginnt, wird für Norbert zu Erinnerung an seine Jahre in Leipzig und an Martin. In Norberts Erinnerung wandert Martins Mund den Hals über die Brust bis zum Bauchnabel hinunter. Die Hose wird geöffnet, Knopf für Knopf, bis nur die Unterhose dem Mund im Weg ist.
Norbert wird angerempelt, stolpert einen Schritt zurück, will sich zur linken Seite festhalten, fast ins Leere. Da wo laut Norberts Gedächtnis eine Kabinenwand hätte sein sollen, war keine. Nur die offene Tür zur zweiten Kabine, die noch immer nicht besetzt ist. Er stolpert in die Kabine. Ausgestattet mit einer kleinen ledernden Sitzbank und einem Papierspender. Auf der Sitzbank niedergelassen, blickt Norbert umher, schaut an die Decke und nimmt die Geräusche aus der benachbarten Kabine nur noch vereinzelt war.
Ich habe keine Fantasie gesehen, sondern eine Erinnerung, eine Erinnerung an Martin. Martin, der so zärtlich Küssen konnte, dessen sanfte und weiche Lippen mich bei jeder Berührung beinahe um den Verstand brachten. Ich konnte sie gar nicht mehr loslassen, wollte sie jeden Moment an meinen Lippen spüren. Martins Lippen gehörten in diesen Augenblicken mir, aber mein Körper war sein Spielfeld. Seine Lippen tobten sich aus. Fuhren meinem Hals entlang, verbissen sich an meinen Ohrläppchen und umrundeten meine Brustwarzen. Martins Lippen war ich ergeben. Dieser Zärtlichkeit, nach der ich mich nun in diesem Moment sehne, dieser Zärtlichkeit war ich einst völlig erlegen. Doch heute ist Martin längst verschwunden und keine Lippen betrachten meinen Körper mehr als Spielfeld. Niemandem konnte ich mich so hingeben, wie ich es einst bei Martin tat.
Und dabei wünsche ich mir nichts Sehnlicheres, als zärtlich von einem anderen Mann berührt zu werden. So wie ich gerade den Lederüberzug der Sitzgelegenheit streichle, möchte auch ich gestreichelt werden. Mich an einem Mann anlehnen, die Augen schließen und mich in völliger Vertrautheit ihm ergeben. Ich wünsche mir, mit meinen Händen an rauen Bartstoppeln entlang zu gleiten, mir zur Not die Haut aufzureißen, nur um zu berühren, was ich seit Jahren nicht auf diese von mir ersehnte Weise tat. Wie schmeckt wohl der Mund eines anderen Mannes, der Speichel, die Zunge. Ich will alles neu erfahren und kann es nicht mehr. Die Zeit ist vorbei. Ich sitze in der Kabine, Männer schauen hinein, ziehen sich zurück. Als wäre ich von einem Glaskäfig abgeschottet. Unberührbar. Unerreichbar - meine Erwartungen und Sehnsüchte.
Ich wünsche mir die Zeit mit Martin zurück. Ich wünsche mir die Möglichkeit zurück, zwischen zwei Leben zu wählen und diese Wahl noch einmal zu treffen. Aber da war dieser Verrat, da war dein Verrat Martin. Ich hatte dadurch nie eine Wahl, ich musste Sabine wählen, konnte nicht anders. Meine Liebe zu ihr, sie ist aufrecht, aber eine ganz und gar andere, weil es ein ganz und gar anderes Leben ist – ein fremdes noch dazu. Weil ich keine Wahl hatte, verraten wurde. Martin, du hast mich am innigsten geliebt und ich habe dich geliebt, aber du hast mir ein Leben geraubt, mich meiner Möglichkeiten beraubt und geglaubt, zu verstehen. Geglaubt mich zu verstehen, doch du hattest nichts verstanden. Und nun, da geisterst du mir seit Wochen im Kopf umher, zeigst mir deinen Verrat immer wieder auf. Ich kann nicht anders, als immer wieder an diesen zu denken. Ich will ihn wegwischen. Den Gedanken auslöschen, wie ich es so oft in den vergangenen Jahren tat. Ich kann nicht.
„Ist die Kabine noch frei?“ fragt eine tiefe Männerstimme. Norbert schreckt hoch, sieht ein Paar vor der Kabine stehen und wie sie hoffnungsvoll hineinschauen. Nickend gibt er die Kabine frei und zieht sich zurück. Zurück von seinen Sehnsüchten und Erwartungen, zurück aus dem Keller an die Bar zu John. Norbert setzt sich auf einen Barhocker, bestellt einen Schnaps, kippt diesen sofort hinunter und bestellt sogleich noch einen. Dass er noch mit dem Auto nach Leuna zu Sabine fahren muss, vergisst Norbert in diesem Augenblick. Und in wenigen Minuten wird sich in Norberts Kopf die Idee breitmachen, im Auto zu übernachten.
Ich hätte nicht fahren, sondern bei Sabine bleiben sollen. Aber dieses Gefühl der Fremde, wenn ich das Bild auf ihrem Nachtschrank anschaue, es trieb mich hierher. Hatte ich eine Wahl? Nein. Ich musste fahren und doch bin ich naiv und dumm. Dumm zu glauben, dass ich mir hier die Erwartungen und Sehnsüchte, die ich doch so lange vergrub und vergessen wollte, erfüllen könne. Einst wollte ich diese Sehnsüchte von mir abtrennen. Die ganze Vergangenheit zu Martin abtrennen, aber ich verstehe erst jetzt, dass man die Vergangenheit nie abtrennen kann. Nie.
Seitdem ich das weiß, leide ich nur noch mehr Qualen. Noch mehr arbeitet es in mir. Was soll ich machen? Fremd bin ich mir geworden. Fremd war ich die letzten Jahrzehnte und vergessen wollte ich, was nicht vergessen werden kann. Die Vergangenheit mit Martin, sie ist nicht abgeschlossen. Sie brodelt in mir, raubt mir die Fähigkeit mich auf das Hier und Jetzt, auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Wer hätte gedacht, dass dieses Brodeln, dass dieses Gefühl der Fremdheit, eben dann erstarkt, ja regelrecht in mir losbricht, wenn wir als Familie, als glückliche Familie Hainemann im Park sind und uns ein junger Mann fotografiert. Die Fassade war doch fest und perfekt. Ich leide seit diesem Moment und jener junge Mann hat es zu verantworten. Martins Augen steckten in dessen Kopf – überhaupt – sowohl die Haare als auch Statur und Gesicht, erinnerten mich stark a Martin. Und manchmal flüsterte ich mir zu, dass er keine Ähnlichkeit mit Martin hätte, aber ich ihn doch vermisste, weil meine Erinnerungen an Martin mich in die glückliche Zeit zurückführen. Da hatte Martin mir noch nicht mein Leben geraubt, sondern bereichert. Ein junges schwules Paar zu Beginn der 1980er in Leipzig, also mitten in der DDR. Schon damals wusste ich, dass würde nicht einfach werden und sagte mir dennoch, dass Martin und ich glücklich sein können – irgendwie.
Ich lernte Martin in einer Studentenkneipe kennen. Ich glaube, ich hatte noch nie solch ein erregendes Gespräch. Wenn ich mich jetzt daran erinnere, so kommt es mir vor, als ob die Energie, die Erregung zwischen uns greifbar war. Vielleicht sah man es uns damals schon an, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben würden? Zumindest für einen kurzen Zeitraum.
Ich war begeistert von Martin. Er schien alles zu wissen, konnte zu jedem Thema etwas sagen und ich hörte ihm gespannt zu. Wir verließen als Letzte zusammen die Bar. Unsere Freunde waren schon gegangen. Dass wir also zusammen verschwanden, war nicht auffällig. Zwei Kumpels, die ihre Sauftour beendeten. Aber es war mehr als das.
Martin führte mich ein paar Straßen weiter zu einer öffentlichen Toilette, blieb davor stehen und drehte sich zu mir um. Ich hörte die Worte „Bist du bereit in eine neue Welt einzutauchen?“ und begriff erst einen Augenblick später, dass Martins Lippen eben mein Ohr berührten und dieser Satz nur für uns beide bestimmt war. Der Satz war eine Übertreibung, ein Scherz. Ich hatte in diesem Moment in dieser öffentlichen Toilette eben nur das gesehen, was sie für mich war: eine öffentliche Toilette! Aber mit Martin war ich für alles bereit. Wir traten ein und mich überkam Scham. Ich fühlte mich plötzlich unsicher, wusste ich doch erst jetzt, was Martin vor hatte. Wohin er mich führte. Er hatte mich zu einem Treffpunkt gebracht, wo Männer wie ich und er sich trafen. Auf einer Toilette mitten in der Stadt. Jetzt, am Abend verirrten sich nur noch die Männer hierher, die sich hierher verirren wollten. So wie Martin. Und ich, ich wollte weg aus diesem Ort, wollte nicht hier sein, weil ich nicht einer dieser Männer sein wollte. Jedoch wollte ich bei Martin sein, mit Martin sein und blieb.
Und es war das erste Mal, dass ich den Geruch nach Schweiß und Sex roch. Eine ganz neue Erfahrung und schon damals regte sich in mir das Verlangen, mich den Erwartungen des Geruchs zu ergeben - mit Martin in einer Toilettenkabine. Nicht nur in dieser Nacht, sondern immer öfter. Wir trafen uns immer wieder hier. Der Ort wurde unser Geheimnis, unser Refugium vor der Welt da draußen, in der wir einzeln nicht bestehen konnten. Für Martin kam ich immer wieder an diesem Ort, entsagte allen Männern, die ich dort traf und wartete nur auf ihn.
In meiner damaligen Naivität glaubte ich nicht, dass ich jemals einer dieser alten Männer, dieser anderen Männer sein werde. Und doch bin ich heute genau solch einer dieser Männer. Ich war arrogant zu glauben, dass es anders kommen könnte. Dass ich es anders machen würde, seit ich mit Martin zusammen war, mich nur noch nach ihm sehnte, nach seinen Blicken, nach seinen Berührungen auf meiner Haut und wie seine Lippen meine berührten. Das alles war plötzlich wichtiger geworden, als die Angst anzuecken. Dies war wichtiger geworden, als die Angst als Schwuler erkannt zu werden, ja sogar als meinen Eltern Rede und Antwort zu stehen. All das verschwand, wenn ich an Martin dachte. Ich weiß nicht, wie bewusst Martin es war, aber ich war Wachs in seinen Händen. Ich wollte und hätte damals alles für und mit ihm getan. Bis eben zu jenem Moment, als sein Verrat mich traf, ins Herz, nicht nur mittendrin, sondern es ganz herausriss und in seiner Hand zerquetschte. Das ist nicht mal ein pathetischer Gedanke, es ist eine Untertreibung.
Als Martin irgendwann meinte, er wolle heute nicht zu unserem gemeinsamen Treffpunkt gehen, er wolle zu einer Wohnung eines Bekannten, wo sich Männer wie wir seit wenigen Wochen trafen und miteinander redeten, da war ich irritiert und hörte nur, dass Martin mit mir nicht mehr in unsere kleinere freie Welt mitten in der DDR gehen wollte. Ich zögerte, druckste herum und ließ mich letztendlich doch von Martin überreden. Gemeinsam standen wir vor der Haustür eben jener Wohnung von Martins Bekannten von der er geredet hatte, klingelten und drückten während des Summens die Haustür auf. Im zweiten Stockwerk klopfte Martin an die linke Tür und hielt gewisse Abstände ein. Ich merkte dies noch nicht. Bemerkte die Abstände des Klopfens an diesem Abend nicht, sondern erst, als wir beim zweiten Mal vor dieser Tür standen und Martin klopfte. Er klopfte immer, bei jedem Besuch.
Wir traten ein, legten im Flur unsere Jacken ab und gingen weiter in das schon volle Wohnzimmer. Ein Dutzend oder mehr Männer saßen auf dem Boden, dem Teppich oder auf der Couch herum und diskutierten verschiedene Themen. Sie redeten durcheinander und für mich über belanglose Dinge. Ich achtete nur auf Martin. Aber heute verstehe ich, dass alle Gespräche, die Belanglosen und die Politischen, nur an diesem Ort passieren konnten. Dass die öffentliche Toilette, Klappe genannt, nicht der Ort dafür war. Nicht das Publikum anzog, welches sich hier in diesem Raum versammelte.
Als auch Martin und ich uns einen Platz im Wohnzimmer suchten, so merkte ich, dass ich noch nie zuvor mit so vielen schwulen Männern in einem Raum war. Und ich kannte es nicht, dass so über Politik geredet wurde, wie sie es taten. Auch nicht, wie sie diskutierten, wie man die Zustände für uns in der DDR ändern könnte. Ich hörte zum ersten Mal Geschichten von Männern, die sich ihren Eltern und Familien entgegenstellten und zu sich und in einigen Fällen auch zu ihrem Partner standen.
Bewunderung, ich empfand Bewunderung und gleichzeitig eine Ohnmacht. Wohl wissend, dass ich diesen Schritt nie wagen könnte, jedenfalls nicht ohne Martin. Ich wurde nervös. Hier fühlte ich mich nicht passend, fühlte mich unwohl und beklemmend. Ich wollte nur mit Martin sein, wollte nicht hier sein. Auch damals musste ich an die Geschichte der Tunte denken und die anderen schwierigen Geschichten, die geteilt wurden, schreckten mich noch mehr ab. Mir kam der Gedanke, ich könnte diese Herausforderung auch mit Martin nicht meistern. Für diese grundlegende Entscheidung war ich nicht bereit, wenngleich ich einige Geschichten mit Bewunderung verfolgte. Wie mutig einige ihren Freunden und gar der Familie gegenübertraten, wie endgültig und selbstbewusst sie diese Entscheidung machten. Ich konnte es nie – bis heute nicht. Und wie ich das volle Wohnzimmer in meinem Kopf wiederbelebe, so kommt mir ein Satz in den Sinn, den einer der vielen Männer dort sagte: „Wir ecken immer an, ob wir wollen oder nicht, wir können uns aber entscheiden mit wem wir anecken – ob mit uns selbst - oder mit allen anderen.“
Ich befand das damals für Blödsinn und heute für wahr. Ich war fest entschlossen, dass man nicht anecken müsse, dass das der Lauf der Dinge ist und man Ärger sucht, wenn man anecken will. Ich suchte und suche auch jetzt keinen Ärger. Eine Anleitung, wie man aber mit dem Anecken umzugehen hat, die hat niemand, nur Ratschläge und Ideen. Manche haben Überzeugen und manche nicht.
Immer wieder wurden solche Ratschläge und Ideen geäußert, immer wieder wurde darauf gedrängt, sich sichtbar zu machen. Damit schüchterten sie mich ein und nach jedem dieser Treffen suchte ich noch mehr Nähe zu Martin. Und nach jedem Treffen gingen wir zu Martin nach Hause. Ich war bei ihm zu Hause, das hatte ich mir gewünscht, aber nicht erwartet. Wir gingen aber nie zusammen in das Haus, ich wartete meist zehn bis zwanzig Minuten, bis ich dann bei ihm klingelte und erst dann reingelassen wurde. Selbstverständlich stand ich nicht vor der Haustür herum, das wäre für die Nachbarn zu auffällig gewesen. Vielmehr trennten wir uns einige Straßen vor seiner Haustür und ich setzte mich noch eine Weile auf eine Parkbank. Ich genoss diese Ruhe und das innerliche Vorbereiten zu Martin in die Wohnung zu kommen. Und Martin, der schaute ungeduldig auf die Uhr und machte mir immer direkt nach dem Klingeln auf. Er sagte mir, dass er immer direkt hinter der Tür wartete, durch den Spion den Flur im Blick hatte und dann auf mein kurzes Klingeln die Tür öffnete. Beim Verlassen der Wohnung schaute ich ebenfalls durch den Spion und ging erst, wenn im Haus keine Schritte zu hören waren und niemand im Gang war. So traf ich glücklicherweise nie auf die Nachbarn. Sie hätten doch etwas bemerkt, da war ich mir damals sicher.
Für ein paar Wochen ging es gut. Martin und ich trafen uns vor der Wohnung des Bekannten, ich saß im Wohnzimmer und hörte zu, wartete aber eigentlich, bis alles vorbei war. Meine Nervosität hatte ich dann im Griff, aber entschied mich, so wenig wie möglich von mir zu erzählen. Flyer oder irgendwelche Dokumente mit politischen Zielsetzungen drauf wollte ich sofort nach dem Treffen wegschmeißen, doch Martin bat jedes Mal, ob er nicht meine Exemplare haben könnte. Überhaupt war Martin recht beteiligt, machte sich immer wieder Notizen, oft sehr unauffällig. Ich selbst merkte es zwar immer wieder, aber wusste nichts damit anzufangen. Nach den Treffen sprach er diese dann mit mir oft durch. Er fragte, was ich davon hielt, stellte dann nur wenige und vereinzelte Fragen, die ich knapp beantwortete aber nicht mehr. Ich war froh aus diesem Wohnzimmer raus zu sein. Gerade die politischen Diskussionen hatte ich gemieden. Ich wollte nicht anecken, wollte dazu keine Meinung haben. Ich wollte nur mit Martin zusammen sein, wollte vielleicht mit ihm gemeinsam Mauern einreißen, aber nur vielleicht. Wieso sollte ich diese Zweisamkeit versuchen zu zerstören, wenn sie mir doch eine unglaubliche Freiheit gab. Die Freiheit einen Mann zu lieben. Das war alles, was ich erwartete und was meiner Meinung nach möglich war. Ich kenne das Schicksal der Tunte, das Schicksal von Manchen in diesem Wohnzimmer und ich sagte mir immer wieder, dass soll und wird nicht mein Schicksal sein. Ich vergrub mich. Vergrub mich in der Liebe und Nähe zu Martin.
Martin begann die Treffen ernster zu nehmen. Seine Notizen vervollständigte er sofort in seiner Wohnung. Auch ich war da nebensächlich. Als ich ihn fragte, warum er dies tue, da meinte Martin nur, dass er sich manchmal selbst nicht sicher ist, was er sagen solle und deswegen die Notizen brauche. Diese Unsicherheit, war mir durchaus bekannt und ich ließ ihn seine Notizen vervollständigen. Sie interessierten mich nicht mehr. Auch meine Flyer und Dokumente, die ausgeteilt wurden, gab ich ihm immer wieder, ohne einen Verdacht zu schöpfen. Manchmal sagte mir Martin, dass er seinen Flyer verlegt hatte und ihn doch für seine Notizen brauchte. Also gab ich ihm meinen noch bereitwilliger und noch naiver, als ich es ohnehin schon tat.
Doch es war dann am Donnerstagmorgen, ich hatte bei Martin übernachtet und er kaufte nur schnell etwas ein, dass ich in seiner Wohnung umherschlenderte, glücklich war und mir dachte, dass nun diese Wohnung zu unserer kleinen freien Welt mitten in der DDR geworden ist. Heute weiß ich, dass das damals eigentlich hochpolitisch war, aber damals war es für mich ein Liebesnest. Das Leben in dieser ultimativen Zweisamkeit malte ich mir oft aus. Für diese Zweisamkeit war ich Martin dankbar. Dankbar für die Liebe und für das Stück Freiheit, die er mir gab.
An seinem Schreibtisch angekommen, betrachtete ich die Ordnung darauf, und in der Mitte noch ein handschriftlich beschriebenes Blatt Papier. Ich dachte zuerst, es wäre ein Brief. Im ersten Moment kam mir sogar das Wort Liebesbrief in den Sinn. Aber an wen sollte dieser gehen? Ich begann zu lesen. Mir wurde flau im Magen, jedes Wort machte mir meine Naivität bewusst. Meine Dummheit. Martin schrieb in einem akribischen Bericht den letzten Abend in eben jenem Wohnzimmer des Bekannten nieder und dies vor meinen Augen mitten in unserem Versteck der Zweisamkeit. Und es ist eben dieser Moment, wo ich lernen musste, dass unser Versteck der Zweisamkeit, unsere kleine freie Welt, eine Illusion war.
Die Wohnung, in welche er mich mitnahm, wo er immer mit einem gewissen Abstand klopfte und wo immer mehrere Männer zu dieser Zeit im Wohnzimmer Belangloses und Politisches bequatschten. Diese Wohnung wurde bewacht und ausgehorcht. Vielmehr horchte Martin die Männer aus, berichtete von ihren Geschichten und sorgte dafür, dass das „mit allen anderen anecken“ auch erfüllt wurde. Martin schrieb alles nieder. Von den äußerlichen Merkmalen bis zu den Geschichten und Erlebnissen, die sie vertrauensvoll in dieser Wohnung und nur in dieser Wohnung anderen Männern erzählten. All das war auf diesem Papier niedergeschrieben. Was ich anfangs für einen Brief hielt, war ein Bericht.
Mir wurde übel. Ich legte den Bericht auf den Tisch, rannte ins Bad und übergab mich in der Toilette. Alles schien sich zu drehen. Mir war schwindelig. Es war klar, wohin dieser Bericht gehen würde, wer diesen Bericht alles lesen würde. Beamte der Stasi würden diesen Bericht in ihren Händen halten, würden ihre Notizen machen und wissen, wer an diesen Treffen teilgenommen hatte. Vielmehr noch, sie würden alles über unsere Zweisamkeit wissen. Über die kleine freie Welt von Martin und mir. Und dabei wollte ich nicht anecken, nicht mit meinen Eltern oder Freunden und schon gar nicht mit der DDR. Aber genau dies geschah, ich eckte an, war in jemanden verliebt, der dafür sorgte, dass die anderen Männer wie Martin und ich aneckten und dass sie Schwierigkeiten bekamen.
Plötzlich stelle ich mir vor, wie Martin vor den Beamten sitzt und erzählt, wie wir uns kennengelernt hatten, wer uns bekannt machte, von der öffentlichen Toilette und den Männern, die dort waren und schließlich, wie er von den Treffen berichtet, wo die DDR ihr Umgang mit Homosexualität kritisiert wurde und wie man für mehr Rechte streiten könne und solle. Und immer dabei: ich. Martin wird auch von mir erzählen, vielleicht sogar mit den Beamten über meine dumme Naivität lachen. Wie ich Martin eines Morgens zuflüsterte: „Ich wünschte, wir müssten unsere kleine freie Welt, unsere perfekte Zweisamkeit niemals unterbrechen.“ Was für ein dummer Satz. Das Lachen der Beamten, das Lachen von Martin fügt mir bei der bloßen Vorstellung eine Gänsehaut zu. Ich stelle mir vor, wie ihre Münder vor Lachen weit auseinandergezogen sind. Die Lippen geben die Zähne frei, blut tropft hinunter, das Lachen stelle ich mir als ein grausames Lachen vor. Die übelste Sorte eben!
Eine Weile blieb ich vor dem Klo sitzen und fragte mich, was ich machen soll, wenn Martin zurückkehrt. Wie ich ihm gegenübertreten soll. Das kann ich nicht. Ich entschied mich dazu, zu flüchten, packte meine wenigen Sachen, die ich mit hatte und eilte zur Wohnungstür. Dort schaute ich durch den Türspion und sah verschwommen den leeren Flur vor der Wohnung. Ich merkte erst jetzt, dass ich weinte. Das darf man aber nicht sehen, dass würde verdächtig sein. Ich wischte mir die Tränen weg und ging leise aus der Wohnung. Auf der Treppe nahm ich so stark an Geschwindigkeit zu, dass ich dachte, ich würde diese jeden Moment hinunterstürzen. Bis ich auf dem letzten Treppenabsatz Martin sah. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Dieses Mal merkte ich die Tränen sofort. Und dann tat ich etwas, wovon ich noch heute ganz überrascht bin. Fest entschlossen ging ich auf Martin zu, schaute ihm direkt und vorwurfsvoll in die Augen, bis dieser seinen Kopf abwendete. Ich sagte: „Wie kannst du nur unsere kleine freie Welt aufgeben?“ Er blickte auf und erwiderte: „Ich kann nichts aufgeben, was nie existiert hat.“
Das traf mich, verletzte mich tief. Noch heute spüre ich die Narben. Nicht weil er mit diesem Satz auch uns verleugnet hat, sondern weil es der Wahrheit entsprach. Es gab niemals diese kleine freie Welt. Vielleicht, werden wir das nie erleben. Ich habe es aber zu spät erkannt. Zu spät erkannt, dass der Wunsch des Nichtaneckens mich zu einem Spielball machte. Und die Stasibeamten und Martin haben vergnüglich mit mir gespielt. Sie haben meiner Sehnsucht nach Liebe, nach einer Zweisamkeit mit einem Mann, meinen Wunsch des Nichtaneckens gegenübergestellt und gewartet, bis entweder die Sehnsucht oder der Wunsch die Oberhand gewinnt. Aber ich hatte nie die Oberhand, die hatten immer die Stasi und Martin.
Martin kam mit seinem Gesicht näher und sagte leise aber bestimmend: „Glaubst du, die anderen werden etwas bewirken? Ich bewirke etwas, indem ich den Mitarbeitern der Stasi erkläre, was es eigentlich bedeutet als Schwuler in der DDR zu leben.“ Ich schaute Martin an, wir beide wussten, dass er log, dass er nicht nur mich, sondern auch sich belog. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut und er sagte halb schreiend: „Denkst du einmal daran, dass sie auch mich in der Hand haben könnten? Eine Hand wäscht die andere! Eine Liebe, eine noch so klitzekleine freie Welt kann ich mir nicht leisten.“
Mir liefen die Tränen hinunter, ob nun die Nachbarn aus ihren Wohnungen kamen oder durch die Haustür ins Treppenhaus, war mir egal. Martins Unterlippe begian zu beben. „Glaubst du, ich habe keine Schwierigkeiten? Glaubst du, dass ich … .“ Er brach ab und fasste sich.
„Dem Staat ordnen sich auch im Wohnzimmer sitzende Männer unter, dem Staat ordnet sich alles unter.“
„Auch die Liebe?“ antwortete ich und war selbst über diesen Idealismus, über diese naive Nachfrage verwundert. Es brauchte keine Antwort, die Antwort wussten wir beide. Martin schüttelte den Kopf, brummte ein du verstehst es nicht und ging an mir vorbei.
Wortlos ging ich weiter, blieb an der Haustür stehen und wusste, wenn ich diese nun aufmachte, durfte keine Träne zu sehen sein. Ich musste mich normal verhalten. Als ich die Tür hinter mir schloss, drehte ich mich zur Sonne, schaute direkt in diese hinein und legte meine Hand als Sichtschutz an die Stirn. Eine Weile tat ich so, als wüsste ich nicht, wohin es gehen solle, doch es war nur ein Trick, um Kraft zu sammeln. Plötzlich fiel mir ein weißer Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf. Zwei Menschen saßen darin. Mir fiel auf, wie oft ich in diesem Auto zwei Menschen sah und ich begann zu denken, dass diese von der Stasi sein müssten, die selbstverständlich Martin überwachten und seine Geschichten bestätigen konnten. Ich weiß bis heute nicht, ob dies stimmte, aber es war der Moment, wo ich wusste, ich brauche eine Maske, um Leben zu können. Und so setzte ich mir vor der Haustür die Maske des jungen heterosexuellen Studenten auf. Martin versuchte ich aus meinen Gedanken zu verbannen und die Maske wurde zu einem Anzug. Diesen trage ich immer, auch heute noch. Doch er wird schwerer. Von Tag zu Tag.
Den restlichen Abend sitzt Norbert Hainemann schweigsam an der Bar, trinkt noch zwei Bier und beschließt in seinem Auto zu übernachten. Als er die Bar wieder verlässt, sitzt der Anzug wieder eng und schwer. Ein Automatismus. Doch am Ärmel hat sich ein Faden gelöst, das erste Mal seit mehr als 30 Jahren.