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Nola in Neu-Tenochtitlan
Die Gesichter der Städter erinnerten Nola an Haie. An bleiche Haie, die mit starren Augen eine für Nola unsichtbare Beute fixierten. Sie jagten in rechten Winkeln über ein trübes Meer aus Pflaster, bis sie untertauchten, wo Nola gerade ans Tageslicht gekommen war: Aus der U-Bahn-Station, deren Name klang wie ein Jagdspiel im Dschungel. Die Symbole auf dem gelben Schild blieben für Nola rundliche Schnörkel, die Geheimschrift der Neuen Azteken.
Wie Maiskörner durch Finger rieselten die Haie an Nola vorbei. Sie hielt ihre bunte Tasche fest und versuchte, sich zu orientieren. Blaue Lichter, dröhnende Autos, ein Film mit jubelnden, bunt bemalten Azteken in einem Schaufenster; Werbung für ewige Jugend vielleicht. Eine Hai-Hoffnung, aber ein Tausch von Leben gegen Grauen für Nolas Schwester Riane. Letzten Monat, vor ihrem Zusammenbruch, hatte sie sie dabei erwischt, wie sie alle Schränke zerwühlte.
»Was tust du denn da! Mutter würde...« »...chimfn! Laff!« »...schimpfen, ja!« Nola versuchte, ihre Schwester festzuhalten, aber Riane fuhr damit fort, die alten Fotoalben zu zerfleddern. Die Bilder, die sie selbst zeigten, entstammten der Vor-Zeit. So nannte sie ihre ersten 16 Lebensjahre, die Zeit vor dem Krebs, der ihr Gesicht fraß. Nola erwischte den Arm ihrer Schwester.
»Die auf den Bildern ekfiftiert nift mehr«, keuchte Riane, wand sich aus Nolas Griff.
»Natürlich existierst du!« Nolas Augen sprachen andere Worte, als Riane ihr einfach nur ins Gesicht sah. Hinter der wuchernden Maske musste sich irgendwo ihre Schwester verbergen, das wusste Nola. Herunterreißen! Man musste die Maske herunterreißen, und alles wäre wieder da: Das Lächeln, das Leuchten aus tiefbraunen Augen.
In diesem Moment brach eine der Beulen auf; heraus quoll eine Art Schlamm, der Nola an die Lawine letzten Herbst erinnerte.
»Lass mich dir helfen.« Eine mechanische Stimme, die sich bemühte, freundlich zu klingen. Nola fuhr herum und sah eine braune Maske, die das Gesicht eines Mexikaners nachahmte.
»Warum maskierst du dich?«, wollte Nola fragen, aber es wurde ein »Ja... bitte«.
»Ich bin ein Führer. Die Fremdenpolizei. Dein Freund und Helfer«, rezitierte der Mann und wiegte seinen Körper, als würde er zum Tanzgott Ixtilton beten. »Das dir vertraute Gesicht hilft, dein Vertrauen zu gewinnen. Was tust du in Neu-Tenochtitlan?«
Haie strömten an Nola und dem Führer vorbei. Aus der braunen Wolke über der Stadt fielen Staubkörner und verfingen sich in Nolas offenem Haar. Erst viel später schaffte sie es, eine Antwort zu geben, aber da saß sie schon in einer Art Schrank.
»Du bist nur zu Besuch, was?«, hatte der Fremdenführer gelächelt. »Du hast keinen Aufenthalts-Chip. Das ist überhaupt kein Problem. Du begleitest mich. Dann bekommst du deinen Chip. Es wird nicht wehtun. Hast du mich verstanden? Das freut mich.«
Der Schrank befand sich neben vielen anderen Schränken im Keller eines Gebäudes der Fremdenpolizei. Wie aus einem einzigen Stück Plastik schien der Schrank gemacht. Aus weißem Plastik mit bunten Mustern. Es gab eine Art Sitz, den man aufklappen konnte, so dass er als Toilette diente. Man konnte sich anlehnen, um zu schlafen. Ein Spender auf der Hinterseite lieferte Wasser und Nährriegel.
Sie hatten Nola die Kleidung weggenommen, um sie auf Viren und Würmer zu untersuchen. Die Mexikanerin saß stundenlang in ihrem Schrank und starrte in den auf Augenhöhe angebrachten Fernsehschirm. Freundliche Mexikanergesichter, die allesamt unecht waren, freuten sich über die erstaunliche Qualität der Nahrungsmittel, die der Haikonzern Anahuac zu sensationell günstigen Preisen anbot. Geschminkte Haifrauen hielten die neuesten animierten Gesichtsmuster in die Kamera – die Frau, der die Götter wohlgesonnen waren, trug heute sonniges Morphup von Xipe Totec. Dazwischen kamen Sprachrätsel der Tlamantinime, die Nola zu kompliziert waren. Schade, man konnte eine Menge Geld gewinnen, wenn man anrief und die richtige Antwort kannte. Hunk hätte vielleicht die eine oder andere erraten. Hunk war freundlich, schlau und zärtlich.
Nola schrak aus dem Halbschlaf, als zwei scharf riechende Kittelhaie ihr etwas in den Arm spritzten. Es tat nicht weh, genau wie der Fremdenführer versprochen hatte. Ein Prickeln trieb Nolas Körper in die Arme der Engel, und sie träumte vom Schaukeln mit ihrer Schwester.
Sie holte Schwung, mehr, immer mehr, vor, zurück, lachte, jauchzte. Ab einer bestimmten Höhe konnte Nola über die Wellbleche sehen, die den Hof umgaben. Dahinter, unter einer braunen Wolke, die Stadt.
»Geh nicht«, hatte Hunk gesagt. Er war ihr Cousin und hatte sie auf ihrem 14. Geburtstag entjungfert, nachdem sie sich tief in der Nacht über die von den Erwachsenen zurückgelassenen Aroma-Alcopops und Noname-Joints hergemacht hatten.
»In der Stadt wohnen Azteken. Sie opfern junge Mädchen auf dem Altar. Sie reißen ihnen die Herzen raus. Mit Messern aus Obsidian. Das gefällt ihren Göttern.« Hunk war gebildet. Er konnte sogar ein bisschen lesen.
»Neu-Azteken«, schüttelte Nola den Kopf. »Sie sind nicht von hier. Sie bezeichnen uns als Fremde. Dabei sind sie fremd hier. Gekommen, weil sie in ihrer Heimat nicht mehr leben konnten.«
Hunk nickte weise und kratzte sich geronnenes Blut aus den geschorenen Haaren. Nola wusste nicht, mit wem er sich diesmal geschlagen hatte. Sie nahm sich einmal mehr vor, ihn nicht zu heiraten. »Nola«, sagte Hunk in verschwörerischem Tonfall, »sie sind hierher gekommen, weil sie unser Land gekauft haben. Sie haben unendlich viel Geld.«
»Unendlich viel«, echote Nola. »Das geht doch gar nicht.«
Hunk zuckte mit den Schultern. »Sie machen Geld mit Zahlenmagie. Habe ich gelesen. In einem Buch.« Stolz klang heraus; Bildung war durchaus hilfreich, wenn man eine Familie gründen wollte, hier draußen, zwischen Schlammlawinen und Feldern von mutiertem Genmais, der in Mondnächten Gedichte zu rezitieren schien. Lyrik von Korn, Rispen und der Abstammung von der Teosinte.
Als Nola aufwachte, beugte sich der Fremdenführer über sie. Oder ein anderer, der die gleiche Maske trug. »Du bist wach. Das ist gut. Du kannst jetzt gehen.« Er sprach langsam und deutlich, damit sie ihn verstand. »Wir bringen dich zu deinem Ziel.«
»Totec«, lallte Nola. Sie lag auf weichem Polster. Es war der Rücksitz eines großen Autos. Der Fremdenführer saß ihr gegenüber. Das Fahrzeug vibrierte, Nolas Magen auch.
»Ich weiß«, nickte der Führer freundlich. »Unser Auto erreicht gleich die Konzernzentrale von Xipe Totec. Ich glaube aber nicht, dass sie dich nehmen. Du kannst ja nicht einmal lesen und schreiben.« Er winkte mit einer Mappe.
»Doch«, beeilte Nola sich zu versichern. Sie riss dem Führer die Mappe aus der Hand. »Das ist meine Bewerbung.«
Ein Windhauch ließ das Lächeln des Fremdenpolizisten schwanken wie ein Maisfeld. »Ich weiß«, sagte der Mann. »Es steht vorne drauf.« Er beschrieb einen Kreis mit der Hand. Nola merkte, dass sie die Mappe verkehrt herum hielt. »Du bist fremd hier«, sagte der Führer. »Aber du weißt ja, dass die Fremdenpolizei immer für dich da ist. Du brauchst nur zu rufen. Dann bringen wir dich gerne aus der Stadt.«
»Mir der gelben Linie«, sagte Nola automatisch.
Der Führer nickte freundlich, dann hielt das Auto. Die Tür wurde geöffnet, und Nola schlüpfte hinaus in den lärmenden Staub der Haistadt Tenochtitlan.
Vor dem Firmensitz von Xipe Totec empfingen sie animierte, lächelnde Skulpturen des Frühlingsgottes, nach dem der Konzern benannt war. Rot und weiß die Zehennägel, schwarz und weiß die Schlange, die dem Gott als Gürtel diente. Ein glänzender Haarschopf fiel der Statue auf die steinernen Schultern, als er Nola entgegensah.
Die Neu-Azteken beachteten Nola nicht, als sie durch die weite Glasfront trat und in der blumengeschmückten Lobby nach einem Ansprechpartner suchte. Es gab bunte Schilder, aber die konnte sie nicht entziffern. Schließlich entschied Nola sich für eine blasse Frau, die hinter einem niedrigen Tresen telefonierte. Aus ihrem bemalten Gesicht bohrten sich messerscharfe Blicke in Nolas Stirn, während sie unbeirrt mit dem Hörer redete.
Als die Frau ihr Gespräch beendet hatte, ignorierte sie Nola eine Weile, dann nahm sie wortlos die Bewerbungsmappe entgegen, die Nola ihr die ganze Zeit schon entgegen hielt.
Akkurate Muster aus Rot und Weiß flirrten auf dem Gesicht der Haifrau. Personifizierte Werbung für die Lifestyle-Erzeugnisse des Totec-Konzerns. Lebendiges Makeup für die moderne Neu-Aztekin und für alle, die welche sein wollten. Wie Riane.
»Eine Bewerbung als Model?« Die Haifrau richtete ihre Muster zum ersten Mal frontal auf Nola. Die morphenden Schnörkel ähnelten Schlangen, dann wieder Buchstaben, vielleicht zeigten sie ein Rätsel der Tlamantinime, drahtlos aus dem Äther in die Schminke projiziert. Nola spürte ein Prickeln im Arm, genau an der Stelle, wo man ihr den Chip eingepflanzt hatte. Vielleicht Einbildung. Oder der Äther fragte den Chip nach ihren persönlichen Daten. Nach ihrem Gewicht, Größe, Blutgruppe, Genstempel.
»Ja«, entgegnete Nola. »Es steht außen auf der Mappe.«
Die Aztekin deutete ein Nicken an. »Viertes Stockwerk, Zimmer acht. Frau Suckin wird mit dir sprechen. Der Aufzug ist da drüben.« Die Haifrau reichte die Mappe zurück und griff nach dem Telefon. Es war eines der modernen Göttermodelle. Quetzalcoatl hielt den Hörer vor seiner Brust wie eine Opfergabe der Neu-Azteken an einen alten, gütigen Gott, dessen Odem Fruchtbarkeit und Wachstum versprach. Für die, die zu ihm beteten und ihm Opfer darbrachten.
Nola fand Stockwerk und Zimmer, indem sie Aufzugknöpfe und Türen abzählte.
Die Wände in Zimmer acht waren himmelblau, verziert mit Blüten und Tiersymbolen. Frau Suckin, die an einem Tisch voller Töpfchen, Flaschen und Tuben stand, trug pechschwarze Haare und ein gelbes Morphup, das randomisierte Sonnenmuster auf die Wangen malte.
»Mein Name ist...«, stotterte Nola und hielt ihre Bewerbungsmappe so fest, dass sie verknickte. »Nola«, ergänzte sie, »Nola Sanchez. Ich komme aus...«
»Egal«, sagte die Sonnenfrau und hielt ihr die Hand hin. Nola wollte sie ergreifen und schütteln, aber Frau Suckin wollte nur ihre Bewerbungsmappe. Sie klappte den Deckel auf, überflog die Zeilen zwischen den ordentlich gezeichneten Blumenmustern.
»Was soll das? Sowas ... ach, ich verstehe, ist das eine besonders kreative Bewerbung?«
Nola hatte die Buchstaben aus einer weggeworfenen Zeitschrift abgemalt, sie ergaben keinen Sinn, sahen aber hübsch aus, wie sie fand. »Ich habe Ihnen etwas zu sagen.«
Die Sonnen der Aztekin rotierten langsamer, als könnten sie die Spannung spüren, die sich im Raum breit machte. Nola holte tief Luft. Dann schleuderte sie der Person, die Totec in diesem Moment repräsentierte, all die Vorwürfe entgegen. Eine Schlammlawine, schwarzen Hagel, eitrigen Ausfluss aus platzenden Wucherungen. Die Azteken-Schminke hatte das Gesicht ihrer Schwester krank gemacht, zerfressen, aufplatzen lassen, dabei wollte sie nur aussehen wie die schönen Menschen aus dem Fernsehen, die Tenochtitlan, die neue Stadt der Götter, gebaut hatten, auf den Trümmern des Molochs von Mexico. Riane, Opfer des Pharma-Beauty-Konzerns Xipe Totec, konnte sich die einfachste Morphup-Tube leisten, nachdem sie wochenlang das Geld für ihr Mittagessen gespart hatte, hungerte, zehn Kilo abnahm. Für einige Monate war sie die bestaunte Schönheit der Erntebrigade. Dann war die Tube leer.
Die Tabletten gegen die Nebenwirkungen konnte sie sich nicht leisten. Die Muster auf Stirn, Nase und Wangen verblassten. Pickel und Rötungen traten an ihre Stelle. Dann Schwellungen. Chronischer Schnupfen, wässrige Augen, beißender Atem, die dicke, blaue Zunge ließ sie lallen.
Sie konnte sich keinen Arzt leisten, aber der hätte sowieso nur erklärt, dass sie das Mittel gegen die Nebenwirkungen hätte nehmen sollen. Dabei wollte sie nur sein wie die Fremden, die den Göttern gefielen, denn schließlich wohnten sie in einer herrlichen Stadt, nicht in Wellblechhütten zwischen Schlammlawinen und dichtenden Genmaisfeldern. Sie wollte mehr sein. Und war jetzt... Asche.
Nola zitterte am ganzen Körper, als ihr die Kraft ausging, die Aztekin von Totec weiter anzuschreien.
Es dauerte eine Weile, bis beide Frauen tief Luft holten.
»Seniora Sanchez«, sagte Frau Suckin und reichte Nola die Hand. Die griff überrumpelt zu. »Xipe Totec bietet einer hübschen Einheimischen wie Ihnen gerne eine Stelle als Werbe-Model an. Das Einstiegsgehalt liegt bei 250 Dollar die Woche.« Eine Sommerbrise erfüllte den Raum, als die Aztekin mit einem strahlenden Sonnenlächeln ergänzte: »Das Mittel gegen die Nebenwirkungen ist natürlich inklusive.«
Thema des Monats Oktober/November 2008: Strange Metropolis