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Noch einmal Blackwater
Ich stehe auf dem mit rutschfesten Gumminoppen gesprenkelten Deck der Gatta Maru unter einem schmerzhaft blauen Himmel, und kotze mein Mittagessen in einen Blecheimer. Bis runter aufs Klo hätte ich es nicht mehr geschafft, und Valerie hat mir verboten, über die Reling zu kotzen. Zwei Meter weiter hat sich Haskell zu mir umgedreht und lacht.
„Hätte nicht von Ihnen gedacht, dass Sie so empfindlich sind!“
Haskell, das Arschloch! Ich will ihm etwas entgegnen, aber mein Magen kommt mir zuvor. Ich würge eine weitere Portion halbverdaute Nudeln in den Eimer, und Haskell hält sich, immer noch grinsend, den Feldstecher an die Augen, um wieder die Suppe zu beobachten.
***
Die Suppe hatte ihren Namen von Rubens erhalten, der gleich am ersten Tag meinte, wenn man erst mal unten wäre, würde man sich wahrscheinlich vorkommen wie in einem Teller Backerbsensuppe.
Ich bin inzwischen dreimal unten gewesen, davon zweimal mit Valerie, aber wie in einer Backerbsensuppe habe ich mich dabei nie gefühlt.
Eher – ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll... Der Seegang hier im Golf war ohnehin schon gering, aber in der Suppe schien er fast gar nicht vorhanden. Valerie paddelte drei Meter über mir, ihre vom engen Neopren betonte Silhouette hob sich fast schwarz gegen die grüne Wasseroberfläche ab. Das Wasser in der Suppe war irgendwie trüb, so, dass die Sonnenstrahlen sichtbare Bahnen in die Tiefe zeichneten, die von hellgelb zu tannengrün wechselten, bis sie sich in der bodenlosen Schwärze unter unseren Füßen gänzlich verloren. Und um uns herum, über und unter uns, soweit man im trüben Wasser sehen konnte, schwebten die Blasen. Von der Form her ein wenig an Ingwerknollen erinnernd, hatten die kleinsten einen Durchmesser von etwa einem Meter, die größten mindestens fünf. Rubens schwört, dass er eine gesehen hat, in der ein Schulbus Platz gefunden hätte, aber unter Wasser ist das mit Größenangaben so eine Sache.
Wenn man sie gegen das Licht betrachtete, sah man, dass die Blasen bis auf einige undurchsichtige, dunkle Regionen transparent waren, gelbgrün bis braun, und von einer gallertartigen Konsistenz. Nahe der Oberfläche waberten sie harmonisch im sanften Wellengang, und verformten sich deutlich, wenn der Seegang etwas stärker wurde.
Ich hatte eine Kryptonlampe an meinem Gürtel hängen, und aus Neugierde schaltete ich sie ein, richtete den hellen, blauweißen Strahl direkt auf eine der dunkleren Blasen. Valerie gestikulierte sofort, dass ich das gefälligst bleiben lassen sollte, aber der kurze Moment hatte ausgereicht, tiefer in das Innere der Blase hineinzusehen: Unter der durchsichtigen Oberfläche wurde das Licht von grüner Gallerte geschluckt, die stellenweise von dunklen Äderchen durchzogen war. Und noch tiefer, dort wo der Strahl der Kryptonlampe nicht mehr gegen die Blase ankam, schien ein runder, schwarzer Kern zu lauern wie kranker Dotter in einem verdorbenen Ei.
***
Was genau Valerie bei diesen Ausflügen gemacht hatte, habe ich immer noch nicht verstanden. Ich bin nur hier, um mit meiner Unterwassererfahrung die Tauchgänge zu überwachen, und im Notfall (wie auch immer so ein Notfall aussehen würde, man hatte mich da völlig im Dunklen gelassen) helfend einzugreifen. Doch in meiner momentane Verfassung bin ich zu gar nichts nütze – und wie zur Bestätigung krampft sich mein Magen erneut zusammen.
Haskell setzt den Feldstecher ab und blickt zu mir, die Gläser des Fernglases blitzen in der Sonne.
„Rubens und Valerie kommen zurück. Sieh zu, dass die Winde klar ist, wenn sie hier sind!“
Eigentlich hat Haskell mir gar nichts zu befehlen, er ist Meeresbiologe, genau wie Valerie. Aber die Gelegenheit, von Haskell wegzukommen, jetzt, wo mein Magen endlich leer scheint, möchte ich mir nicht entgehen lassen. Ich gehe in Richtung des Windenhauses, um dem Kranführer Bescheid zu sagen und bei den notwendigen Vorbereitungen behilflich zu sein.
„He!“, kläfft Haskell mir nach, und zeigt auf den Blecheimer: „Das willst du doch nicht hier stehen lassen!“
Ich übergebe mich in hohem Bogen über die Reling, und lasse den verdatterten Haskell mit offenem Mund stehen, den Feldstecher in beiden Händen, wie ein Eichhörnchen eine besonders große Nuss...
Valerie und Rubens haben es tatsächlich geschafft – an den Monofaserseilen der Winde, die bisher außer dem Beiboot wahrscheinlich nur Walbabys und Delphine hoch- und wieder runterbefördert hatte, hängt ein mit trübem Suppenwasser gefüllter Kunststoffcontainer, und darin wabert, gelbgrün und mysteriös, eine der Blasen.
***
Entdeckt wurde die Suppe erst vor etwa zwei Wochen, als ein argentinischer Tanker meldete, irgendwas hätte sich in der rechten Schiffsschraube verfangen. Das Schiff wurde in den nächsten Hafen geschleppt, und dort entdeckten Taucher eine deformierte, aber durchaus noch intakte Blase im Gehäuse der rechten Schraube. Valerie meint, das Sonar des Tankers hätte die Suppe nicht registriert, weil die Blasen die Eigenschaft hätten, Schall einfach zu absorbieren.
Die Blase wurde geborgen, und angeblich fiel sie schon nach wenigen Stunden außerhalb des Wassers in sich zusammen und löste sich auf. Was die Eierköpfe aber in diesen Stunden zu Gesicht bekamen, machte sie so nervös, dass schon kurze Zeit später ein Expertenteam – darunter ich, der einzige seekranke Hochseetaucher der Welt – an Bord der Gatta Maru auf dem Weg zur Suppe war. Ich hatte zuvor in einem provisorischen Büro einer Behörde, von der ich bis letzte Woche noch nie etwas gehört hatte, eine Geheimhaltungserklärung und noch ungefähr fünfzehn andere Papiere unterschrieben, damit ich auch nur einen Fuß auf die Gatta Maru setzen durfte. Drei Stunden nach dem Auslaufen erfuhr ich, dass unsere Mission dementiert wurde, und die Gatta Maru offiziell gar nicht existierte.
***
Die Blase – eineinhalb Meter Durchmesser an der dicksten Stelle – befindet sich jetzt in einem Glastank im abgedunkelten Labor unter Deck. Das trübe Wasser wird von mehreren Leuchtstoffröhren beleuchtet, deren Spektrum dem der Sonne in zehn Metern Wassertiefe gleichen soll. Ringsherum werfen verschiedene Geräte, angestrahlt vom grünen Unterwasserlicht aus dem Tank, bewegte Schatten an die Wand. Unwillkürlich muss ich an Irrlichter denken, die Boten der Fäulnis, die früher in der Takelage manövrierunfähiger Schiffe tanzten.
Ich bin nicht alleine im Labor – vor einem Terminal, das die vergrößerte Abbildung eines dieser dunklen Knoten im Inneren der Blase zeigt, unterhält sich Rubens leise mit Cornell, dem Bioinformatiker. Eigentlich bin ich nur hier unten, um mir noch eine Tasse Kaffee aus der Espressomaschine im Vorraum zu holen, aber gerade, als ich an den beiden Wissenschaftlern vorbeigehe, klingelt mein Mobiltelefon. Cornells Gesichtsausdruck nach muss ich wohl ziemlich dämlich aussehen, als ich nacheinander alle meine Taschen nach dem Gerät absuche.
„Hallo?“ Endlich gefunden, halte ich mir das Telefon ans Ohr. Doch aus dem kleinen Lautsprecher kommt nur unregelmäßig pulsierendes Rauschen. Und mit einem Mal fällt mir ein: das Mobiltelefon dürfte hier auf offener See gar keinen Empfang haben...
***
Gleich am Tag nach unserer Ankunft, der Steuermann hatte die Gatta Maru darauf programmiert, dreihundert Meter von der Suppe entfernt die Position zu halten, verloren wir Arielle. Da die Suppe auf Satellitenbildern unsichtbar war – sowohl im sichtbaren, als auch im infraroten Spektrum – entschloss sich Dr. Vriess, der Leiter der ganzen Aktion, die Suppe mit dem ferngelenkten Roboter zu vermessen.
Den Datenhelm auf dem Kopf und die Hände in Eingabehandschuhen, sah ich die Suppe durch Arielles Kameraaugen zum ersten Mal aus der Nähe. Fünfzig Meter vom äußeren Rand entfernt begann das Wasser trüb zu werden, und bekam die für die Suppe charakteristische grüne Farbe. Danach kamen die ersten Blasen, anfangs nur vereinzelt, aber schon bald so dicht, dass ich mich darauf konzentrieren musste, Arielle nicht gegen eines der Gallertgebilde zu steuern.
Das Gebiet der Suppe hatte einen Durchmesser von etwa vierhundert Metern, und war beinahe kreisrund. Nach einer kompletten Umrundung, die das Team gebannt auf den Monitoren mitverfolgt hatte, entschied Dr. Vriess, dass Arielle am Rand der Suppe nach unten tauchen sollte.
Ich setzte den Datenhelm wieder auf, und begann, Arielle in die Tiefe zu steuern. Fünfzehn Meter unter der Oberfläche reichte das Licht nicht mehr aus, und ich schaltete nach Rücksprache mit Vriess die Aussenscheinwerfer an. Die hellen Strahlen trieben die Dunkelheit ein wenig zurück, und die Telepräsenz-Ausrüstung vermittelte mir das Gefühl, nicht mehr in dem gepolsterten Drehstuhl inmitten all der Terminals zu sitzen, sondern zusammen mit Arielle in der ewigen Nacht der Tiefe zu versinken.
Es schien, dass der Durchmesser der Suppe mit zunehmender Tiefe abnahm. Wir gehen heute davon aus, dass die Suppe die Form einer Halbkugel hat, die mit der Schnittfläche nach oben im Wasser treibt. Als Arielle langsam tiefer sank, und aus der Dunkelheit immer wieder die geisterhaft durchsichtigen Blasen im Scheinwerferlicht auftauchten (waren es nicht größere Blasen, als an der Oberfläche?), verschwand der Roboter plötzlich vom Sonarbild. Nicht verwunderlich, da sich inzwischen genügend Blasen zwischen Arielle und Gatta Maru befanden, die den Schall des Sonars schluckten. Doch Sekunden später wurde das Bild der Kameras undeutlich, und fiel dann ganz aus. Unfähig, den Kurs des Gefährts zu beeinflussen, hörte ich noch zwei Minuten lang, von den Außenmikrofonen des Roboters aufgenommen, das tiefe Surren der Propeller, danach verstummte Arielle...
***
Es hat keine halbe Stunde gedauert, bis die Crew um Rubens die Anzahl der Meßgeräte um den Glastank verdoppelt hatte. Das pulsierende Rauschen ist jetzt aus den Lautsprechern der Terminals zu hören, und spektral aufgefächert auf unzähligen Bildschirmen zu sehen. Die Blase scheint von der aufgekommenen Hektik unbeeindruckt, doch die Messgeräte zeigen Potentialunterschiede in der äußeren Gallerte. Und aus dem Inneren, irgendwo aus den schwarzen Gewebeknoten, dringt ein nicht endender Strom von Radiowellen, der die Bandbreite des Mobiltelefons bei weitem übersteigt.
Warum gerade mein Telefon die Blase zum Leben erweckt hatte, konnte sich niemand erklären. Andererseits, seit ich hier mit all den Doktoren zusammenlebe, habe ich noch keine einzige vernünftige Erklärung gehört. Immer nur Spekulationen, die sich bisher ohne Ausnahme als haltlos erwiesen haben.
Die Espressomaschine im Vorraum ist seit sechs Stunden nicht mehr zur Ruhe gekommen. Während draußen die Sonne genau in die Suppe zu sinken schien (ich bin wahrscheinlich der einzige, der dieses Schauspiel mitverfolgt hatte) und einem sternenklaren Nachthimmel Platz gemacht hatte, wurde im Labor pausenlos an der Decodierung des Signals gearbeitet. Haskell betont immer wieder, dass er zwar kein Mathematiker sei, ihn das Spektrum aber an irgendwas erinnere, doch schlussendlich ist es dann doch Vriess, dem der Durchbruch gelingt:
„Die Blöcke erinnern irgendwie an komprimierte Bilddaten...“, sagt er mehr zu sich selbst, und Cornell spuckt sich den Espresso auf die ausgebleichten Jeans.
„Digitales Fernsehen...“, erklärt er, während seine Finger über die Tasten eines Terminals fliegen. Ich verstehe nicht das Geringste von dem, was er in den Computer tippt, aber den Anweisungen nach, die Cornell gleichzeitig für die Recherchesoftware in das Mikro spricht, sucht er einen Dekodieralgorithmus für digitale Bildströme.
Es dauert noch eine Viertelstunde, die wir gebannt um Cornells Terminal stehen, dann ist er fertig.
„Start!“ Die ganze Anspannung der letzten Stunden entlädt sich in diesem einen Befehl an das Terminal.
Der Bildschirm wird schwarz, und – was dann folgt, halte ich anfangs für einen schlechten Scherz. Doch die Gesichter der anderen machen deutlich, dass die Sache ernst ist: Auf dem Monitor erscheint – ohne Ton, aber unverkennbar – eine Szene aus der Rinky Dinky Rabbit Show. Mit offenem Mund starren ein Dutzend Akademiker auf Rinky, den rosaroten Hasen, der einen mindestens doppelt so großen Eber mit einem Stahlrohr verprügelt.
***
Was hatte ich mir in den letzten Tagen nicht alles für Hypothesen anhören müssen – fossiles Leben, wiedererweckt durch die Klimaveränderung... kontrollierte Evolution von Nanoassemblern... eine Zwischen-Biologie, die eine Brücke von organischem zu anorganischem Leben schlagen sollte. Haskell stempelte sich endgültig als Volltrottel ab, als er Spekulationen über außersolares Leben ins Spiel brachte, ein Thema, das von den Anderen nicht ohne Grund vermieden worden war.
Aber Erklärungen hatte niemand. Die Datenbank füllte sich stündlich mit neuen Fragen zur Natur der Suppe, beantwortet wurde keine einzige. Klar, es gab Fakten. Strukturformeln der kurzkettigeren Moleküle in den äußeren Gallertschichten der Blase. Die Zusammensetzung des Suppenwassers, Feldstärke zwischen benachbarten Blasen, Gigabyte an Daten – doch all das gab nur noch mehr Rätsel auf.
„Manchmal glaube ich, die Suppe will nicht von uns verstanden werden...“, meinte Valerie nach einem unserer Tauchgänge, Meerwassertropfen glitzerten auf ihrem nackten Oberkörper. Ich erinnerte mich daran, dass ich von meiner Exfrau genau das gleiche gedacht hatte. Valerie lachte, als ich ihr davon erzählte.
***
Die Blase ist ein gigantischer Datenspeicher. Gott allein weiß, was sie sonst noch alles drauf hat – aktiv ist nur ein kleiner Teil des Gewebes – aber fürs erste wissen wir, dass sie voller Daten ist. Fernsehsendungen, Krankengeschichten, Telefongespräche. Wetterdaten und Steuererklärungen, private Websites, ein Bericht der Untersuchungskommission zum amerikanisch-chinesischen Rüstungsabkommen, hochintegriert gespeichert auf submolekularer Ebene. Cornell hat recherchiert: die Rinky Dinky Rabbit Show lief zuletzt vor drei Jahren auf RAISAT, einem italienischen Satellitenkanal, dessen Ausstrahlungsbereich sicher nie über dem Ozean gelegen hatte. Diese Frage beschäftigt die Forschercrew momentan am meisten: wie in drei Teufels Namen sind diese Daten da rein gekommen? Wir wissen nicht, ob die Blasen immer schon hier im Meer trieben, ob sie vielleicht menschlichen Ursprungs sind (obwohl das von allen hier an Bord bezweifelt wird), ob es irgendwo in den Ozeanen dieser Welt noch andere Suppen gibt...
Noch reicht der Speicherplatz der Gatta Maru aus, um die Daten, die jetzt auf dreiundzwanzig Kanälen gleichzeitig aus der Blase strömen, mitzuspeichern. Cornell sagt, es sind hauptsächlich belanglose Dinge, eins-zu-eins-Kopien von Daten, die über MandaNet oder AOL genauso zugänglich wären. Doch zwei spezielle Datenfragmente irritieren ihn: Der Bericht der Rüstungsuntersuchungskommission – erst drei Tage alt, und streng vertraulich – und Teile des Speichers einer Spy Box. Er nimmt einen Schluck Espresso aus seiner Halblitertasse (die dritte heute Vormittag), und erzählt: „Spy Boxes waren eine Erfindung der Chinesen im vorletzten kalten Krieg. Das Problem der bisherigen Vor-Ort-Abhörsysteme war ihre Aktivität: Egal, ob nanotechnische Einheiten, subkutane Wanzen oder Makromembranen, irgendwie mussten diese Systeme die abgehörten Informationen nach außen weitergeben.“
Die Abhörsysteme, von denen Cornell da spricht, kenne ich nicht. Ich stelle mir die subkutane Wanze als eine Art Stahlinsekt vor, das im Körper des ahnungslosen Opfers herumkriecht, gierig auf Informationen wartet, und einen kleinen Hügel auf dem Unterarm erzeugt, während es seine schallempfindlichen Fühler durch die Haut seines Wirtes streckt. Unsinn natürlich, aber das Bild verfolgt mich, während Cornell fortfährt: „Sobald die Wanzen die gesammelten Informationen nach außen senden, sind sie aufspürbar.“
Er nimmt noch einen Schluck aus seiner Tasse: „Spy Box – der Name ist eine Erfindung der Amerikaner, und kommt wahrscheinlich von 'Black Box', einem Begriff aus der Elektronik, der ein System beschreibt, von dem man nicht weiß, was innen alles abgeht. Spy Boxes also senden überhaupt keine Informationen nach außen. Solange sie im Überwachungsmodus sind, sind sie komplett unaufspürbar. Es gibt keine Möglichkeit, die Daten aus der Spy Box herauszuholen.“
Ich sitze gegenüber von Cornell auf einem dieser wegklappbaren Kunststoffstühle im Vorraum des Labors, und folge seinen Worten.
„Erst wenn man einen bestimmten Code an die Spy Box sendet, gibt sie ihre Informationen preis. Spy Boxes werden meist über die Nahrung aufgenommen, oder heften sich an die Kleidung der Abhörziele. Da sie in Unmengen eingesetzt werden, ist es nicht unwahrscheinlich, dass früher oder später zum Beispiel im Abwasser der abzuhörenden Gebäude wieder welche auftauchen.“
Ich muss grinsen, als ich mir eine Truppe chinesischer Geheimagenten vorstelle, die in der Kanalisation des Pentagons nach kleinen schwarzen Spy Boxes angelt. Cornell ignoriert meinen Gesichtsausdruck.
„Die Dinger wurden nutzlos, als man entdeckte, dass sich Spy Boxes mit kurzwelligen, gepulsten Röntgenstrahlen sehr einfach zerstören lassen. Erinnerst du dich noch an den Metalldetektor, den wir alle beim Betreten der Gatta Maru passiert haben?“
„Ja...“ Ich weiß nicht, worauf er hinaus will.
„Das war kein Metalldetektor. Jedenfalls nicht nur.“
„Aber impotent wird man davon nicht, keine Angst!“, fügt Cornell lachend hinzu, als ich ihn verblüfft anstarre. „Zumindest nicht sofort...“
„Jedenfalls, um nicht zu sehr vom Thema abzuschweifen, der Datenstrom aus der Blase enthielt Aufzeichnungen einer Spy Box im Überwachungsmodus. Es ist unmöglich, an solche Daten heranzukommen. Wie auch immer die Blase das hingekriegt hat, mit menschlicher Technologie ist es sicher nicht passiert.“
Ich brauche einige Augenblicke, um mir der Tragweite dieser Tatsache bewusst zu werden. Als ich antworten will, werde ich von Valerie unterbrochen, die ihren schwarzgelockten Kopf durch die Tür streckt: „Versammlung in der Messe, in fünf Minuten!“, sie lächelt kurz, und ist schon wieder verschwunden.
Die Messe der Gatta Maru ist an drei Seiten verglast, so dass man einen guten Panoramablick auf den Ozean hat. Hinter mir muss sich irgendwo die Suppe befinden. Obwohl ich sie von meinem Platz aus nicht sehe, glaube ich, ihre Anwesenheit irgendwie zu fühlen, wie das leichte Kribbeln im Nacken, wenn man von jemandem beobachtet wird...
Vom Boden zur Decke, genau durch den ovalen Tisch in der Mitte, ragt der Kohlefasermast, der das Hauptsegel der Gatta Maru trägt. An guten Tagen, erklärte mir der Steuermann vor einigen Tagen bei einer Partie Poker, bringt das Segel siebzig Prozent der Antriebsenergie auf. Jetzt sitzt er ein paar Plätze weiter – wenn er nach links sehen würde, könnte er die Suppe wahrscheinlich sehen. Ich nicke ihm zu, doch er blickt auf Dr. Vriess, der aufgestanden ist, um das Wort an die versammelte Mannschaft zu richten:
„Wahrscheinlich jeder auf diesem Schiff, ob Wissenschaftler oder Matrose, wird inzwischen von den besorgniserregenden Eigenschaften der Suppe gehört haben...“
Kurzes Gemurmel, als Vriess von besorgniserregenden Eigenschaften spricht.
„Die Blasen haben uns das Tor zu einer Technologie geöffnet, mit der es in absehbarer Zeit möglich sein wird, Zugriff auf alle Informationsspeicher der Welt zu bekommen. Ohne direkte Verbindung. Ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen.“
Sein Blick schweift über die Gesichter der Anwesenden, und er fährt fort:
„Ich habe diese Crew immer demokratisch geführt, und in diesem Punkt ist es unvermeidlich. Die Frage, die ich euch nun stelle – euch allen – ist die: Wollen wir das? Wollen wir einen zweiten Blackwater-Vorfall? Wollen wir das Gleichgewicht der Supermächte derart beeinflussen? Ich sage nein. Ich sage, wir müssen unsere Forschungsergebnisse frisieren, und die Blasen als uninteressante Einzeller darstellen. Und ich erwarte, dass jeder von Ihnen die Hand hebt, der mit mir einer Meinung ist.“
Vereinzelt gehen Hände hoch. Valerie. Haskell – hätte ich nicht von ihm gedacht. Immer mehr. Fast hätte ich vergessen, meine eigene Hand hochzuhalten. Und schließlich sind alle Hände oben. Bis auf...
„Es liegt nicht mehr in ihrer Kompetenz, das zu entscheiden!“ Rubens ist aufgestanden, und präsentiert mit bestimmender Geste einen in Folie geschweißten Ausweis. „Dieses Schiff und alle Daten, die sich darauf befinden, sind ab sofort Eigentum der Vereinigten Staaten.“
***
Ich weiß nicht, was in diesen Sekunden in mich gefahren ist. Ich erinnere mich noch, dass ich über den Tisch auf Rubens zugesprungen bin, und zu einem Schwinger in sein selbstgefälliges Gesicht ausgeholt hatte, aber irgendwas ging schief. Rubens war schnell – viel schneller, als ich ihm zugetraut hätte. Und plötzlich lag ich auf dem Boden der Messe, mein linkes Auge schmerzte, als wäre es zwei Zentimeter zu groß, und Valerie wischte mir das Gesicht mit einem feuchten Tuch ab. In der Ferne hörte ich das Knattern von Helikoptern.
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Ich sitze zwischen Valerie und Haskell in Bauch eines Transporthubschraubers. Man hat uns nicht gefesselt, aber ein kurzhaariger Marine mit rastlosen, schmerzhaft blauen Augen und einem Schockgewehr in beiden Händen macht deutlich, dass an Gegenwehr nicht zu denken ist. Die Gatta Maru kippt hinter uns weg, für Sekundenbruchteile sehe ich die Suppe ein letztes Mal: ein ruhiger Kreis auf dem ansonsten aufgewühlten Ozean. Im Osten geht die Sonne auf, blutrote Botin eines neuen Tages. Doch der Helikopter fliegt Richtung Westen, knapp über den Schaumkronen auf dem dunklen Wasser in eine unbestimmte Zukunft...