Noch ein Tausch
22 Uhr. Sein Büro machte eher den Eindruck eines heruntergekommenen Kellerraumes. Bis auf einen verfaulenden Aktenschrank und seinen völlig leeren metallenen Schreibtisch war dort nichts zu sehen. Die Wände aus kahlem Stein zeigten Anzeichen eines Wasserschadens. Die einzige bereits flackernde Leuchtstoffröhre über seinem Kopf warf ein bedrückend weißes Licht in den Raum und war gerade hell genug, um die tickende Uhr lesen zu können. Für einen Moment saß er ausdruckslos mit halboffenem Mund auf seinem ungemütlichen Metallstuhl, bis er schließlich seine Augen auf die Uhr richtete. Er wirkte ausgelaugt. Zahllose Narben pflasterten seine Haut.
Mit leerem, emotionslosem Gesichtsausdruck zog er die Schublade hervor, womit er ein lautes Quietschen erzeugte, das aus dem Korridor zurückhallte. Dann war es wieder leise. Die Uhr tickte, die Leuchtstoffröhre summte und zuckte. Er griff hinein, um eine lange, schwere Taschenlampe herauszuziehen. Mehr war dort nicht. Die anderen Utensilien, ein Schlagstock, ein Paar Handschellen und ein großer Schlüsselbund, waren an seinem Gürtel befestigt. Erschöpft und durch irgendwas offensichtlich genervt löste er sich von seinem Stuhl.
Als er durch den langen und ebenso kahlen Korridor taumelte hielt er seine Taschenlampe so fest in der Hand, dass sein ganzer Arm zitterte. Aggression staute sich in ihm auf. Plötzlich krümmte er sich, ließ die Lampe fallen und hielt sich die Ohren zu, als ob ihn ein furchtbar lautes Geräusch quälen würde. Klirr. Er biss die Zähne fest zusammen und quiekte leise. Nach kurzer Zeit entspannte er sich jedoch wieder, hob die Lampe auf und ging weiter, nun aufrecht und zielgerichtet.
Bevor er die Tür am Ende des Korridors erreichte, prüfte er seine Taschenlampe, doch sie war kaputt. Er blieb stehen und starrte irritiert auf die zersprungene Glühbirne. Wieder zitterte sein Arm durch die übertriebene Kraft, die er auf das Gehäuse ausübte. Dann senkte er den Arm und legte seinen Kopf in den Nacken. Seine Augen waren geschlossen, doch seine heruntergezogenen, zuckenden Mundwinkel verrieten seine innere Verärgerung.
Auf der anderen Seite der Tür blickte er in einen weiteren, noch längeren Gang hinein. Schwere, durchnummerierte Zelltüren befanden sich in regelmäßigen Abständen auf der linken Seite. Während er durch den Gang schritt, hämmerte er mit seinem Schlagstock gegen die Wand, bis er bei der ersten Zelle ankam. Wie alle anderen Türen hatte diese einen vergitterten Schlitz auf Augenhöhe, über dem eine Zahl eingraviert war: 1.
Er presste seinen Kopf gegen die Gittern und tastete mit seinen Augen die gesamte Zelle ab. Niemand da. Hinter der Tür sah er lediglich das Bett, das in keinem besseren Zustand war als alles andere an diesem Ort. Die Wände schimmelten bereits. Noch ganze zwei Minuten hatte er dort gestanden, als er sich endlich von den Gittern löste und weiterging. Dasselbe wiederholte sich für zehn weitere Zellen.
Hinter Zelltür 12 saß ein Mann in zerrissener weißer Kleidung auf dem Bett. Als er in den Raum hineinblickte, starrte dieser ausdruckslos auf den Boden. Auch diesmal stand er steif vor der Tür und suchte alles ab. Dann trat er einen Schritt zurück, schloss die Augen und hielt für einen Moment inne. Schließlich öffnete er seine Augen wieder und ging die Schlüssel an seinem Schlüsselbund durch.
Mit einem lauten Quietschen zog er die schwere Tür auf und näherte sich dem Gefangenen, der noch immer unbeeindruckt auf dem Bett saß. Gereizt gab er seine Taschenlampe in die linke Hand, löse seinen Schlagstock vom Gürtel und hielt ihn fest in der rechten. Seine Augen hatte er weit aufgerissen, seine Hände zitterten. So stand er minutenlang neben ihm und wartete. Der Sitzende fing plötzlich an, langsam und mit tiefer, fast liebevoller Stimme zu singen: “Einmal mehr, was soll’s. Noch ein Tausch, was soll’s. Einmal mehr, was soll’s. Noch ein Tausch, was soll’s…”
Während er sang, erhob der Stehende langsam seinen Stock. Der andere Mann schloss die Augen und sang einfach weiter.
Der Gesang hallte durch den gesamten Korridor. Plötzlich kam ein dumpfer Knall aus der Zelle, anschließend ein kurzes Poltern. Dann war es wieder still. Nur noch das leise Summen der endlos aneinandergereihten Leuchtstoffröhren war zu hören.
Mit einer blutenden Wunde am Kopf lag der Gefangene nun reglos auf dem Boden seiner schäbigen Zelle. Sein Peiniger stand schnaufend neben ihm. Er hob seinen Stock erneut und schlug auf ihn ein. Und nochmal, und nochmal. Er konnte sich nicht bremsen. Seine Schläge wurden immer heftiger, obwohl sein Opfer offensichtlich schon tot war. Als er sich endlich beruhigte, biss er die Zähne fest zusammen und starrte den Toten mit seinen blitzenden Augen an.
Im Augenwinkel bemerkte er allerdings, dass die Zelltür geschlossen war. Instinktiv fasste er sich an seinen Gürtel, doch sein Schlüsselbund war nicht mehr bei ihm. Er rannte mit einem lauten Schrei auf die Tür zu und trommelte wild mit seinem Stock und seiner Lampe dagegen. Er schrie endlos. Sein Wutausbruch jagte einen furchtbar lauten Lärm durch den Korridor. Er raste und tobte. Doch bald war seine Energie verbraucht, und er glitt erschöpft an der Tür hinunter.
Nach einer Weile drehte er sich um und blickte in die Zelle hinein, die abgesehen vom Bett völlig leer war. Schwerfällig kroch er zu eben diesem und kletterte auf die dreckige Matratze, wo er sich flach auf den Rücken legte. Stundenlang starrte er gegen die Decke. Seine Erregung hatte schon lange nachgelassen. Sein Gesichtsausdruck war wieder leer und emotionslos.
Lange konnte er nicht geschlafen haben, als ihn ein lautes Hämmern aufweckte, das durch den Türschlitz kam. Er fand sich selbst in zerrissener weißer Kleidung auf dem Bett liegend wieder. Das Hämmern hörte auf, doch kurze Zeit später ging es wieder los; wieder und wieder. Er richtete sich auf und atmete kurz tief durch. Anschließend setzte er seine Füße auf den Boden. Das Hämmern kam näher.
Auf der anderen Seite der Tür tauchte ein Mann auf, der mit großen, aggressiven Augen in seine Zelle hineinschaute und den ganzen Raum musterte. Er selbst war so müde, dass er völlig ausdruckslos auf den Boden starrte. Mit einem lauten Quietschen ging die schwere Tür auf, und der Mann in Wärteruniform kam auf ihn zu.
Der Wärter hielt seinen Schlagstock in der Hand, als er, der nun der Gefangene war, mit tiefer, fast liebevoller Stimme sprach: “Ich frage mich, wie lange wir dieses Spiel wohl schon spielen.” Keine Antwort.
21:55 Uhr. Er wachte in seinem Büro auf, das eher den Eindruck eines heruntergekommenen Kellerraumes machte. Benommen und verwirrt blickte er auf die Uhr.