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Noch ein Selbstmord

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15.02.2003
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Noch ein Selbstmord

Ohne Worte

Das da in ihren Augen sind keine Tränen. Das ist Mineralwasser. Aus meinem Glas. Ich habe es ihr ins Gesicht geschüttet. Weil sie mich auch nicht retten kann. Sie ist nicht Jesus.
„Du bist nicht Jesus“, sage ich.
Aber Lina hört mich scheinbar gar nicht.
Sie läuft rastlos im Zimmer umher wie ein aufgezogenes Spielzeug. Alle paar Sekunden bleibt sie stehen und schnaubt verächtlich.

„Wie lange soll das denn noch so gehen?“, fragt sie. „Dieses blöde Märtyrer-Spiel. Und vor allem warum das alles?" Sie steht direkt neben mir und ihr Atem bläst mir ins Gesicht, feucht und warm wie der eines Stiers.
„Entschuldigung“, sage ich. Ich reiße ein Taschentuch aus der Packung neben mir und tupfe ihr die Mineralwassertröpfchen von der Nase. „Aber ich habe Probleme, psychische Probleme. Das ist der Grund.“

Lina zieht die Luft scharf ein und kneift die Augen zusammen. Ihr Blick wird hart und berechnend. „Ich verstehe es immer noch nicht. Du willst dich also umbringen. Den Grund willst du mir nicht sagen. Meinetwegen! Aber wieso denn gerade mit einem ... mit einem Fernseher?“ Das letzte Wort kreischt sie beinahe.

„Wegen der Symbolkraft.“

Sie redet einfach weiter, bricht plötzlich in ein wildes Lachen aus, ein hysterisches Wiehern. „Ich weiß gar nicht, weshalb ich mich mit so einem wie dir überhaupt unterhalte. Muss ja so aussehen, als wäre ich hier die Verrückte.“
Dann hält sie verdutzt inne und starrt in den Papierkorb, der vollkommen leer ist bis auf das eine Taschentuch, das ich ihr eben gegeben habe.
„Wieso hast du überhaupt diese ganzen Taschentücher hier rumliegen?“ Ich lasse meinen Blick beiläufig über die Pappschachteln mit den Tempos wandern. Ich sage: „Falls ich weine. Oder die, die mich finden. Oder du.“

Im Anschluss an diesen Satz würde ich gerne lachen, um seiner Lächerlichkeit Willen, aber das Lachen bleibt mir im Hals stecken wie ein kleiner spitzer Stein.
„Das ist eigenartig“, sage ich. „Vor zwei Wochen, da gab es doch dieses Comedy-Special im Fernsehen. Seither kann ich nicht mehr lachen, nichts ist mehr wirklich witzig.“
Lina sagt nichts dazu, sie starrt weiter auf das einzelne Taschentuch auf dem Boden des Papierkorbs. Ich lehne mich zurück und schaue auf den Fernsehapparat. Ich sonne mich im bläulich schimmernden Licht der Bildröhre, nehme das Geflacker in mich auf, wie ich es seit Wochen tue. Ununterbrochen. In der Hoffnung, dadurch zugrundezugehen. Ein Zeichen zu setzen.

Lina ist im Bad verschwunden, hantiert vermutlich mit irgendwelchen Kosmetika, ich kann hören, wie sie mit Dingen aus Glas klappert, den Wasserhahn aufdreht. „Und wie lange noch?“, ihre Stimme klingt dumpf durch die dünne Wand, die die beiden Zimmer trennt. „Wie lange, glaubst du, wirst du noch durchhalten? Hast du schon einen bestimmten Todestag im Auge?“
Ich weiß nicht, was ich ihr nun antworten soll. Vielleicht ist das mit dem verschwundenen Lachen nur eine kurzzeitige Überreizung. Wie damals, am sechsten Tag, als ich über Stunden hinweg die Farben nicht mehr unterscheiden konnte. Aber die Vorfälle häufen sich. Manchmal höre ich ein Summen, erst gerade wieder, ich weiß nicht, ob es aus dem Fernseher kommt, oder ob ich einfach nur verrückt werde.

Lina ist inzwischen wieder zurück, unverändert, ich weiß nicht, was sie da drinnen gemacht hat, geschminkt hat sie sich jedenfalls nicht. Sie hält mir ein Glas Orangensaft vor die Nase. Ich blinzle in die gelbe Flüssigkeit, betrachte ratlos die zitternde Oberfläche des Getränks, auf der sich das blassblaue Licht des Fernsehapparates bricht. „Woher hast du das?“, frage ich, ohne das Misstrauen in meiner Stimme zu verbergen.
Lina hat ihr Gesicht abgewandt, sie scheint mir gar nicht zuzuhören. Ihre linke Hand zittert. Im Glas schlagen gelbe Wellen mit einem leisen Plätschern an die Wände. „Trink“, sagt sie, und immer noch sieht sie mich nicht an.

„Du lebst hier wie ein Maulwurf. Völlig im Dunklen.“ Lina dreht sich unvermittelt um, geht mit großen Schritten zum Fenster und zieht die Gardinen auseinander. Sie haben die Farbe von Himbeeren. Soweit ich mich erinnern kann.
Ich lasse den Bildschirm nicht aus den Augen, werde ihn bis zuletzt nicht aus den Augen lassen, er ist wie das flackernde Licht am Ende meines Tunnels. „Ich lebe nicht, ich sterbe. Siehst du doch. Die ganze Zeit schon.“
„So“, sagt Lina. „Jetzt ist es besser.“ In ihrer Stimme schwingt der armselige Versuch eines Lächelns mit, als wäre mein Sarkasmus überhörbar.

Meine Hand greift wie von selbst zur Fernbedienung. Zehn Ziffern. Die Klaviatur meiner Langeweile. Das wohltemperierte Klavier meiner Verzweiflung. Zapp Zapp. Nachrichten.
„Ach übrigens, morgen ist Bingoabend. Die anderen würden sich sicher freuen, wenn du kommst.“ Lina reibt den Saum der linken Gardine zwischen Daumen und Zeigefinger, ihr Blick verliert sich im trüben Nebel vor dem Fenster.
„Ich habe keine Zeit“, sage ich.

„Aber du willst sicher nicht", fällt Lina mir ins Wort. "Oder hast keine Zeit, oder irgendeine andere Ausrede. Du bist ja schließlich mit deinem Selbstmord beschäftigt. Hast gar nichts anderes mehr im Kopf als deinen groß inszenierten Abgang. Pah!“ Sie dreht sich um, zieht die Augenbrauen hoch und deutet verächtlich auf den Fernseher. „Würde mich nicht wundern, wenn sie dir das Ding bald wegnehmen.“

Meine Hand schließt sich unwillkürlich fester um die Fernbedienung. Meine Stimme klingt auf einmal wieder sehr entschlossen.
„Niemand nimmt mir meinen Fernseher weg“, sage ich. „Selbst wenn sie mir den Strom abstellen, macht das nichts. Ich habe Notstrom, und Batterien, ganze Berge von Batterien. Keiner wird mich an meinem Selbstmord hindern. Auch du nicht.“
Lina sagt nichts, sie ist wieder im Bad verschwunden. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass sie doch noch etwas gesagt hat.

Es ist seltsam. Immer häufiger entgehen mir einzelne Worte, manchmal ganze Sätze. Die Phasen meiner Konzentration werden immer kürzer. Ich sehe die Bilder, aber nur einzeln, als Bilder, nicht als Film. Ich sehe den Reporter auf der Mattscheibe, er trägt ein Khakihemd mit bunten Kugelschreibern in der Brusttasche und steht vor einem zerbombten Haus, seine Haare sind ungewaschen, zerzaust vom Wind, er ist unrasiert und voller feinem Sand. Seine Lippen bewegen sich schnell, aber nichts von dem, was er sagt, kommt bei mir an. Die Frage, die sich mir aufdrängt, ist, weshalb ich Lina noch verstehen kann. Hat es etwa mit ihrer Hysterie zu tun?

Ehe ich den Gedanken zu Ende denken kann, ist Lina wieder zurück, immer noch unverändert, bis auf einen Notizblock, den sie nun unverständlicherweise in der Hand hält, und nun fasst auch sie den Bildschirm ins Auge. „Ich hasse diesen Scheißkrieg“, sagt sie, während sie langsam den Kopf schüttelt. Ihre Hand liegt auf der Kommode, mit den Fingern zupft sie am weißen Saum des Spitzendeckchens. „Weißt du überhaupt, welchen ich meine?“ Ihre Stimme klingt beiläufig, und diesmal entgeht mir die darin liegende Ironie nicht.
Ich blicke erneut auf die Lippen des Reporters, die sich jetzt immer schneller zu bewegen scheinen, und zappeln wie die Beine von Fröschen, als wollten sie weg von dem Mund des Reporters. „Den im Fernsehen meinst du doch.“

Lina schweigt. Sie geht auf und ab im Zimmer, dann und wann bleibt sie stehen und wirft mir einen nachdenklichen Blick zu. Einmal sagt sie leise, wie zu sich selbst: „Nein, natürlich weißt du das nicht. Ich sollte dir nicht soviele Fragen stellen.“

Einige Zeit vergeht, während ich weiter auf den Bildschirm stiere und Lina mit energischen Schritten durch das Zimmer streift.
„Sag mal, du glaubst doch nicht wirklich, dass das funktioniert, dass du an ... an Langeweile sterben wirst?“ Ich spüre ihren skeptischen Blick. Ich zucke mit den Schultern.
„Wer weiß. Ich bin der erste, der es versucht. Ernsthaft versucht. Und ich ziehe die Sache durch, glaub mir.“ Wieder keine Reaktion von ihrer Seite. Sie scheint irgendwie betäubt zu sein.

Meine Hand schießt automatisch vor zur Fernbedienung. Ich habe den Reporter satt, seine Sätze, die ich nicht verstehe, die eingespielten Beiträge, die mich langweilen. Immer wieder dieselben kaputten Häuser; und diese rußigen Gesichter in Endloswiederholungsschleifen unter dem immergleichen zugequalmten Himmel. Ich kann es nicht mehr sehen, das alles ist mir mittlerweile unerträglich. Sieht so aus, als wäre mein Ziel nicht mehr weit entfernt, das Ende meiner Reise.

Zwischen der Fernbedienung und meinem Bauch stoße ich an ein Hindernis.
Das Glas mit dem Orangensaft rutscht über die Tischkante und zerspringt mit einem leisen Knacken auf dem Teppichboden. Genau vor Linas Füßen. Das Gelb breitet sich über den Boden aus und kriecht in Linas Socken. Sie legt den Notizblock weg und sagt nichts. „Ich habe das Glas nicht gesehen“, sage ich. „Tut mir leid. Okay?“
Sie sagt immer noch nichts, aber jetzt bückt sie sich ganz langsam, um die Scherben aufzusammeln.

Ich wende mich wieder dem Fernseher zu, wo gerade das Gesicht einer jungen Frau zu sehen ist, ihre Haare sind blond und zu einem aufwendigen Zopf geflochten, sie ist schön, oder zumindest glaube ich das, weil sie im Fernsehen ist. Lina ist nicht schön. Die junge Frau zieht eine Pistole und schießt auf einen Mofafahrer. Sie brüllt irgendetwas, das ich nicht verstehe. Da ist wieder dieses Summen, ich denke, der Fernseher muss kaputt sein.
„Der Fernseher muss kaputt sein“, sage ich in das Gesumme hinein, das ein bisschen wie Dunkelheit zum Hören ist.

Als von Lina keine Antwort kommt, stelle ich den Ton etwas leiser und schaue zu ihr hinüber, schaue, was sie da macht.
Sie hat mir ihr Gesicht zugewandt und bewegt die Lippen, so wie es die alten Leute tun, ohne etwas zu sagen.
„Jetzt fang du nicht auch noch an“, sage ich. „Es reicht.“
Sie brabbelt einfach weiter, ihren sinnlosen Kauderwelsch, den niemand versteht. Wie denn auch, bei dem entsetzlichen Gesumme.
„Lina?“

Das ist zuviel. Etwas in mir klickt, knackt, bricht. Ich kann nicht an mich halten und brülle wie von Sinnen los: „Haha! Wo ist die Kamera? Wo ist denn das Vögelchen, na? Na? Ihr könnt reinkommen. Ich bin fertig. Ich weiß, was ihr da treibt. Deutschland sucht den Superselbstmörder! Pah! Aktion abgebrochen, ihr könnt die versteckten Kameras abbauen. Hier läuft nichts mehr, nicht mit mir!“

Nichts passiert. Ich bin allein mit dem Summen, und es ist wie das Gegenteil von Stille. Ich schaue wieder zu Lina, die immer noch auf dem Boden kniet, im Orangensaft, ein paar Scherben in der offenen Hand.
Sie glotzt mich an, verständnislos, erschrocken, stumm wie ein Tier. Dann verändert sich etwas in ihrem Blick, die Erschrockenheit weicht etwas anderem. Mitleid.
Sie streckt ihre Hand aus, hält sie mir vors Gesicht, bewegt sie langsam hin und her.

„Was machst du da? Was zum Teufel machst du da?“ Meine Stimme zittert, ich fühle mich in die Enge getrieben. Das Summen nimmt nun den ganzen Raum in Anspruch und dröhnt in meinem Kopf wie eine defekte Stimmgabel, die immer lauter wird statt leiser.
„Lina! Verdammt, hörst du mich überhaupt? Verstehst du überhaupt, was ich sage? Gott nochmal Lina?“
Ihre Lippen bewegen sich wieder, ganz langsam. Als wollte sie mich beruhigen. Aber, scheiße, ich kann sie nicht hören. Dann fühle ich ihre Hand auf meinem Arm und sehe die Spritze in ihrer anderen Hand. Ich sträube mich, schreie und reiße an ihrem weißen Kittel, auf dem der Orangensaft überall gelbe Flecken hinterlassen hat.
Und sie hat, glaube ich, Tränen in den Augen.

 

Hallo Christoph,
wieder eine ziemlich deprimierende, aber wie immer sehr gut geschriebende Geschichte.
Ich dachte zuerst, der Typ würde in seinem eigenen Wohnzimmer sitzen, und Lina wäre seine Frau oder Freundin. Deswegen kam es mir schon teilweise etwas merkwürdig vor, wie kühl sie reagierte.
Aber wenn ich es richtig verstanden habe, ist der Prot in einer Psychatrischen Klinik, und Lina eine Krankenschwester?

Ein kleiner Tippfehler ist mir aufgefallen:
"Ehe ich den Gedanken zu Ende denken kann, ist Lina wieder zurück, immer noch unverändert, bis auf einen Notizbloch, den sie nun unverständlicherweise in der Hand hält,..."
Notizblock

Vom Schreibstil her hat mir Deine Geschichte wieder sehr gut gefallen, ich würde nur mal gerne etwas weniger Deprimierendes von Dir lesen.;)
Such Dir doch mal ein humorvolleres Thema aus. :D

LG
Blanca :)

PS. Hat es einen besonderen Grund, dass die Geschichte zwei verschiedene Titel hat?

 

Hi Blanca

Hm, eigentlich finde ich die Vorstellung, dass jemand mittels Dauerfernsehen Selbstmord begehen will, schon komisch genug :)

Freut mich, dass dir der, für mich etwas ungewohnte, Stil dieser seltsamen, tristen Pointen-Satire (;)) gefallen hat.
Deine Vermutung mit der Krankenschwester stimmt, die verhält sich allerdings auch nicht gerade therapeutisch korrekt.
Der zweite Titel soll nur andeuten, dass der Prot vielleicht selbst die ganze Zeit nur Unverständliches von sich gibt, ohne es zu merken. Und der erste Titel soll die Leser anlocken :D

LG
Christoph

 

Ich werde das Gefühl nicht los, dass der Mann eine Art Altsheimer-Krankheit besitzt, da die Krankenschwester ihn oft auf die Probe stellt. Sie hebt ihm das Glas mit Saft vor die Augen, nur um bemerken zu müssen, dass er es gleich darauf vergessen hat. Er hat es umgestoßen...
Auch der Krieg, den sie erwähnt..alles, um sein Gedächtnis zu testen. Vielleicht irre ich mich aber auch.
Eigentlich ein bedrückendes Thema, aber irgendwie...lässt es mich lächeln. Die Art, wie der Patient mit seinem Schicksal klarkommt, seine Dickköpfigkeit...und das Verhältnis zwischen den Beiden.

Salú

 

Hi mindsounds

Das Gedächtnis des Prots ist sicher auch belastet durch wochenlanges Dauerfernsehen, seine ganze Wahrnehmung ist ja gestört. Wie schon gesagt wollte ich sogar die Möglichkeit offen lassen, dass der Prot die ganze Geschichte über stumm bleibt und sich nur einbildet, mit Lina zu reden. Sie geht schließlich nie auf seine Sätze ein.

Dass du lächeln konntest, freut mich besonders. Ich hab mit Absicht den ganzen Weltschmerz der Selbstmordstories weggelassen, damit man auch mal lächeln darf ;)

LG
Christoph

 

Hqllo Wolkenkind…

Ich dachte zuerst auch, dass es sich bei Lina um die Freundin, oder eine nahe Verwandte handelt.
Wenn ich sie als Betreuerin/Schwester sehen, ist ihr ganzes Handeln nämlich auch nicht so sinnvoll…ich denke, man hätte ihm den Fernseher schon lang aus dem Zimmer entfernt. Die Dialoge, der Verlauf ist Dir gut gelungen. Gut geschrieben ist das wieder, vor allem der Anfang mit den Mineralwassertröpfchen und dann der Bogen zum Schluss haben mir sehr gut gefallen. Die Idee ist verrückt genug. :D Am Verhalten Linas hab ich allerdings meine Zweifel…

Schöne Grüße
Anne

 

Hi Maus :)

Hm, da hast du wohl recht, Linas Verhalten wirkt offenbar nicht besonders glaubwürdig. Die pendelt so ein bisschen zwischen neurotischer Krankenschwester und resignierter Psychologin, deren Schauspieleinlagen nichts bewirken. Hätte mich zwischen den beiden vielleicht entscheiden sollen :hmm:

Dass man dem Prot gleich den Fernseher weggenommen hätte, wage ich allerdings zu bezweifeln. Außer ihm glaubt ja keiner, dass Dauerfernsehen ernsthafte Schäden zur Folge hat, das will er ja gerade zeigen mit seiner Aktion ;). Und solang er damit keinem wehtut...

LG
Christoph

 

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