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Noch 200 Meter bis zum Arbeitsmarkt
Noch 200 Meter bis zum Arbeitsmarkt
Im dichten Kleinstadtgedrängel geht manchmal ganz schön die Post ab. Man trifft auf einer Strecke von nur 200 Metern Fußgängerzone etliche verschollenene oder tot geglaubte Bekannte, und solche, bei denen man sich wünscht, sie wären verschollen oder tot geglaubt geblieben. Doch leider zwangen mich damals die unbarmherzigen Gesetze des Arbeitsmarktes dazu, häufig zur besten Einkaufszeit eben diese 200 Meter des blanken Einzelhandelwahnsinns zu gehen.
An einem Tag, wo wirklich niemand so richtig was zu sagen hat, kann man die 200 Meter in guten 3:30 min zurücklegen. Den Weltrekord über die 200 werde ich wohl nie brechen, aber mit einer Bestzeit von 2:32 min liege ich doch schon ganz gut im Rennen.
Auf dem Weg zur Spätschicht in ein bekanntes Einkaufszentrum kehrte ich noch mal bei Olaf’s ein und machte mich fit für den Endspurt. Nach einem Pott Kaffee und sechs Zigaretten atmete ich noch mal tief durch, hustete ab und bog dann nach links in die Fußgängerzone ein.
Torsten K. aus meiner alten Klasse war an diesem Tag der erste.
„Na? Machst’n du hier? Und? Wie isses?“
„Naja und bei dir?“
„Ja, muss, nich? Na denn!“
„Jau!“
Diese Hürde war schon mal genommen. Hatte auch gar nicht lange gedauert.
Anja B., das Tier im Manne, geschwätzig wie eh und je, lief mir seit zehn Jahren das erste Mal wieder über den Weg und fing schon sieben Meter bevor wir auf gleicher Höhe waren an zu reden.
„…na du siehst ja aus, und die Jacke hast du auch schon seit zehn Jahren an, und ich war letztens auf dem Stadtfest, wo ihr gespielt habt, das muss ja nicht sein, dass das immer so laut ist, ach ja, ich hab’ Beate getroffen, die fand das auch viel zu laut…“
Wir waren jetzt auf gleicher Höhe, und ich tat so, als hätte ich sie eben erst bemerkt. Im Vorbeigehen versuchte ich noch Unschuld zu heucheln.
„Ach? Hallo!“
Aber Anja B. ließ sich in ihrem Redefluss nicht unterbrechen.
„…also ich arbeite jetzt bei der Sparkasse, und meine Freund fand das mit eurer Musik auch voll doof, na ja ihr wart ja in der Schule schon was Besseres, hätte mich auch gewundert, wenn sich bei euch was geändert hätte, ein richtiger Job ist das ja nu auch nicht, zumindest könntet ihr mal anständige Musik machen…
Den Rest ihrer Ausführungen nahm ich nur noch in Trance war und hätte dabei fast die Frau umgerannt, die mir einst meine Unschuld raubte. Ja, sie raubte mir die Unschuld gegen meinen Willen. Sie hatte wohl damals meinen, vom Alkohol geschädigten und durch erschlaffte Nackenmuskulatur nach vorn fallenden Kopf als ein „Ja“ zum Beischlaf gewertet.
„Sieh mal mein Schatz“, sagte sie zu einem übel dreinblickenden 14-jährigen Giftzwerg, „ … das ist dein Vati.“
Erstarrt vor Entsetzen richtete ich meinen Blick auf den Jungen, der mir mit voller Wucht einen Tritt vor das Schienbein gab.
„Keine Angst wegen der Alimente. Ich bin jetzt mit Kohlen-Lehmann verheiratet, der hat genug Knete. Kannst aber ruhig mal wieder auf ein Stößchen vorbei kommen.“
Sprach’s und ging weiter.
130 Meter in glatten zwei Minuten geschafft. Der Rekord war greifbar nahe, doch da bemerkte ich schon die Mobiltelefongewinnspielglücksradfee. Und sie bemerkte mich.
Die Fußgängerzone war schmal, nicht viele Möglichkeiten zum Ausweichen. Mit den Rubbelkärtchen im Anschlag musterte mich das Mädchen und nahm mich ins Visier. Ich beschleunigte meinen Schritt und versuchte, nach links auszuweichen. Sie folgte meinen Bewegungen so, dass ich sie immer genau vor mir hatte und ihr direkt in die Augen schauen musste. Sie versperrte mir den Weg. Ich bewegte mich nach rechts. Da kam auch schon ihre Kollegin. Beide versuchten mich in die Zange zu nehmen. Keine Chance zu entkommen. Gerade wollte die eine Mobiltelefongewinnspielglücksradfee zum Gespräch ansetzen, da brüllte ich los:
„Ich stell’ mich hier nicht hin und rubbele auf bescheuerten Kärtchen rum, und ich dreh’ auch nicht an diesem dämlichen Glücksrad und mache mich vor allen Leuten hier zum Trottel!“
Eine der beiden brach sofort in Tränen aus, die andere legte die Rubbelkärtchen beiseite und versuchte ihre Kollegin zu trösten. Einige Passanten wurden von meinem Gebrüll aufgeschreckt und standen rührend um die weinende Mobiltelefongewinnspielglücksradfee herum.
„Sie Schwein! Nun sehen sie, was sie angerichtet haben. Die is ja völlig fertig, die Kleene.“
Einer der Passanten versuchte, mir eine Entschuldigung ab zu nötigen. Ich aber weigerte mich. Taschentücher wurden herumgereicht, und die Leute hassten mich. Ich wollte mich gerade vom Acker machen, da hielten mich zwei stämmige Kerle zurück. Als Wiedergutmachung musste ich drei Kärtchen aufrubbeln. Verdammt! Zwei Freilose und eine Niete. Noch mal rubbeln. Wieder ein Freilos. Ich rubbelte weiter. Dieses Mal gewann ich einen Mobilfunkvertrag mit 100 Freiminuten und 50 kostenlosen SMS. Die zwei stämmigen Kerle schauten grimmig. Also musste ich den Vertrag unterschreiben. Zusätzlich konnte ich bei Abschluss des Vertrages noch dreimal in die Lostrommel greifen. Niete, Niete und ein Dreh am Glücksrad. Wieder drei Freilose. Dies schien mein verdammter Glückstag zu sein.
Nach etwa eine Stunde hatte ich unzählige Freilose erspielt, 5 Mal am Glücksrad gedreht und 7 Mobilfunkverträge abgeschlossen.
„Reicht das jetzt?“, fauchte ich die Mobiltelefongewinnspielglücksradfee an.
„Aber ich mach doch nur meinen Job!“, wimmerte sie.
„Ja, ja, und ich muss meinem Chef erklären, warum ich heute eine Stunde zu spät zu meinem Job komme.“
Den Rekord konnte ich mir für diesen Tag abschminken.
„Sie sind 1 Stunde und 7 Minuten zu spät“, plärrte mich der Chef an, „Aber heute ist ihr Glückstag, sie wurden soeben für den Arbeitsmarkt zu Verfügung gestellt. Na das ist doch was, oder? Am besten, sie machen sich gleich auf den Weg zum Arbeitsmarkt. Ich gebe ihnen noch die zwei Kollegen vom Sicherheitsdienst mit, damit sie schneller aus dem Gebäude kommen. Sie wollen noch nicht gleich am ersten Tag auf dem Arbeitsmarkt zu spät kommen, oder?
Da stand ich nun vor der Tür eines renommierten Kaufhauses. Job weg, und vor mir die 200 Meter lange Schlucht des Grauens, die ich jetzt wieder in umgekehrter Richtung beschreiten musste. Ich dachte, wo ich schon mal hier bin, geh’ ich doch noch was shoppen. Ist ja auch bald wieder Weihnachten.