Nobby war's
Alle nannten ihn Nobby. Er selber nannte sich so in den wenigen Worten, die er sprach. „Nobby Hunger“ oder „Nobby müde“. Mit vier anderen geistig behinderten jungen Menschen und ihren Betreuern lebte er in einer Wohngemeinschaft. Nobby sprach und dachte wie ein kleines Kind. Aber er war vierundzwanzig Jahre alt, hoch aufgeschossen und kräftig. Wenn er nicht in der Werkstätte für behinderte Menschen arbeitete, spielte er mit anderen Kindern, am liebsten mit den Konfirmandinnen der Stadtkirche. Wer Hilfe benötigte, ging zum Spielplatz und holte Nobby zum Anpacken. „Nobby komm“, antwortete er dann und half, ohne Murren, ohne Fragen, immer mit einem Grinsen im Gesicht. Er verstand einfache Sätze, besonders wenn sie mit Gesten untermalt wurden. Die Mädchen liebten ihn als Spielkameraden, der alle Ideen mitmachte und helfen konnte, wenn Kraft oder Körperlänge erforderlich waren. Die Jungs beachteten ihn einfach nicht. Anfangs, als er neu im Ort war, hänselten sie ihn, aber er reagierte nicht auf sie. Daraufhin schlugen ihn einige größere Halbstarke. Nobby schaute sie nur verwundert an. Nach einem harten Schlag sagte er wohl mal „Nobby Aua.“ Aber sonst schien er gar nicht zu begreifen, was ihm die Jungen antaten. Also zeigte er auch keine Angst. Er lief nicht weg, sondern ging auf seine Gegner zu. Bald machte es ihnen keinen Spaß mehr, ihm in den Magen zu boxen oder ihm Ohrfeigen zu verpassen. Außerdem kümmerten sich die Mädchen zunehmend um ihn und beschützten ihn.
Wahrscheinlich kannten ihn alle Einwohner in der kleinen Stadt und hielten ihn für freundlich und harmlos, bis an einem Frühlingstag der Schlachtermeister lauthals verkündete, Nobby habe seine dreizehnjährige Tochter Bianca im Garten vergewaltigt. Das habe er vom Wohnzimmerfenster aus genau gesehen, aber er habe nicht rechtzeitig eingreifen können. Die Polizei brachte Nobby erst einmal in die Arrestzelle und wartete auf das Eintreffen eines Kriminalbeamten. Im Internet brach binnen Minuten ein - zunächst lokal begrenzter - Shitstorm los. Als sich dann empörte Bürger vor der kleinen Wache zusammenrotteten und Nobby massiv Vergeltung androhten, setzte sich der diensthabende Polizist mit dem Ermittlungsrichter in Verbindung und der entschied sofort, dass Nobby in die geschlossene Psychiatrie in der Hauptstadt verbracht werden sollte. Im Schutz der Dunkelheit wurde er dorthin gefahren. Am Folgetag erfuhr die anwachsende Menge vor der Wache, der Verdächtige sei in eine geschlossene Anstalt gebracht worden. Zu seinem Schutz vor der drohenden Lynchjustiz. Aber das erklärte der Beamte den aufgebrachten Menschen nicht. Sie verliefen sich dann auch bald und fortan herrschte gespannte Ruhe im Ort.
Kommissar Wiegand brütete über seinen Ermittlungsakten, als die Amtsärztin in sein Büro kam. Beide standen vor ihrem fünfzigsten Geburtstag, waren gemeinsam alt geworden und liebten ihre Arbeit. Sie waren angesehene Fachleute auf ihren Gebieten. Vor allem konnten sie gut miteinander zusammenarbeiten und konnten so manche komplexen Fälle schnell und sicher lösen. Da war es nicht ausgeblieben, dass sie sich seit einigen Jahren duzten.
„Grüß dich, Regina, hast du deine Untersuchungen durchführen können?“
„Sei gegrüßt, Harald. Ja, ich denke meine Ermittlungen sind soweit abgeschlossen.“
„Soweit? Aber?“
„Das wirst du bei meinem Bericht erkennen. Lass uns erst einmal einen Kaffee trinken. Ich habe schon einen langen Tag hinter mir“ Frau Dr. Wolter nahm in einem Sessel in der kleinen Sitzecke Platz und zündete sich ein Zigarillo an.
Wiegand stellte seine Kaffeekanne, die er gerade neu gefüllt hatte, auf das Tischchen und holte zwei neue Becher aus dem Aktenschrank. Dann setzte er sich auf den zweiten Sessel und nahm das angebotene Zigarillo von Regina.
Beide rauchten schweigend einige Züge und tranken ihren schwarzen Kaffee, dann begann die Amtsärztin zu berichten: „Ich war zunächst im Kreiskrankenhaus und habe Bianca untersucht. Auf Einzelheiten möchte ich jetzt nicht einzugehen. Sie wurde missbraucht und zwar recht brutal und sie wird vorsorglich weiter im Krankenhaus bleiben, bis wenigstens die körperlichen Verletzungen geheilt sind.“
„Aber psychisch? Hat sie sich geäußert?“
„Nein, sie ist sehr verstört und hat kein Wort über den Vorfall verloren. Sie machte auf mich den Eindruck, dass ihr von einem Menschen, dem sie sehr vertraute, Gewalt getan wurde.“
„Nun ja, das trifft ja auf Nobby zu, nicht wahr?“
„Ich möchte sie bei Gelegenheit von unserer Psychologin untersuchen und vor allem befragen lassen. Ich habe den Verdacht, dass noch mehr hinter diesem Schweigen steckt. Aber dazu komme ich noch.“
„Du bist mal wieder sehr geheimnisvoll heute.“
„Kommen wir zu Herrn Mühler.“
„Zu wem?“
„Ja, das habe ich gemerkt. Alle kennen Nobby, aber anscheinend weiß niemand mehr von ihm. Welche Daten hast du in deiner Akte?“
„Nobby Müller, vierundzwanzig Jahre, Findelkind, Geburtsdatum unbekannt, wohnhaft Brauerstraße 11.“
„Ah ja, das ist die Version, die im Wohnheim kursiert. Ich habe in verschiedenen Dienststellen nachgeforscht und einiges mehr erfahren. Und das muss ich dir erst einmal berichten: Norbert wurde vor sechsundzwanzig Jahren in einem Dorf im Ruhrgebiet geboren. Seine Eltern sind einfache Menschen, beide haben die Hilfsschule besucht. Sie erzogen ihr Kind nach bestem Wissen und haben wahrscheinlich seine schwere Behinderung gar nicht recht wahrgenommen. Irgendwie haben sie es mehrere Jahre geschafft, ihn an behördlichen Klippen vorbei zu lotsen. Als die Schulbehörde die Familie aufsuchte, weil Norbert nicht eingeschult worden war, hatte er gerade seinen neunten Geburtstag gehabt. Die kleine Wohnung der Familie war nach dem Bericht der Sozialarbeiterin ein Müllhaufen. Die Eltern waren wohl kaum noch in der Lage, ihr eigenes Leben auf die Reihe zu bekommen. Der Ehemann war als Aushilfe tätig und sie hielten sich weitgehend mit Bettelei und kleinen Ladendiebstählen über Wasser. Nach diesem Besuch wurden sie in ein Heim für geistig behinderte Menschen gebracht, in dem sie auch heute leben. Bei der Befragung der Eltern gaben sie an, Norbert sei ihnen vor Jahren zugelaufen und niemand hätte ihn vermisst. Die Erzieherin, die ihn in ein Kinderheim mitnahm, hielt diese Angaben wohl für zutreffend und so kamen die falschen Daten in die Akte des Wohnheims. Norbert besuchte zwei Jahre die Hilfsschule und kam dann einige Jahre später in eine Werkstatt für geistig behinderte Menschen. In den Unterlagen des Heims sind keine Auffälligkeiten vermerkt, er wird als stiller und freundlicher Mensch beschrieben. In den medizinischen Akten und beim Standesamt ist er als Norbert Mühler eingetragen, wobei anscheinend die Verbindung von Norbert Mühler und Nobby Müller übersehen wurde.“
„Na gut, werde ich also die Akte ändern, aber als Erfolgsmeldung kann ich das ja kaum verbuchen.“
„Nein, aber ich denke, nun wird es interessant. Körperlich scheint Norbert voll entwickelt, aber geistig ist er auf dem Stand eines vierjährigen Kindes.“
„Was stimmt dann nicht, wenn du scheint sagst?“
„Nun ja, offensichtlich ist nicht nur die geistige, sondern auch die psychische Entwicklung im Kindesalter stehengeblieben.“
„Ich sage es nicht gerne. Aber wenn du jetzt erklären willst, dass du ihn für schuldunfähig hältst, wird das an den erforderlichen Konsequenzen nichts ändern. Wenn die Hormone sein Verhalten steuern, darf er nicht mehr frei herumlaufen.“
„Entschuldige Harald, dass ich dir so umständlich berichte. Aber dieser Fall ist vielschichtiger, als es auf den ersten Blick scheint. Ich hatte von Beginn an Zweifel, ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat. Tatsächlich habe ich keine Hinweise gefunden, dass sich sein Verhalten in den Jahren, seit er im Heim ist, geändert hätte. Selbst wenn er erst spät in die Pubertät gekommen wäre, hätten sich Auffälligkeiten ergeben sollen. Aber ich hatte nach den Berichten den Eindruck, dass eine geschlechtliche Entwicklung gar nicht stattgefunden hat. Sexualität hat für Norbert offensichtlich keine Bedeutung, er sieht in den Mädchen, mit denen er spielt, sicher keine begehrenswerten Sexualpartner.“
„Aber er hat Bianca sexuell missbraucht.“
„Davon sind wir ausgegangen, aber inzwischen ist mir klar, dass Norbert nicht der Täter sein kann.“
„Ist er impotent, kriegt er seinen Penis nicht hoch?“
„Nein, er hat gar keinen.“
Kommissar Wiegand war sprachlos und konnte sein Gegenüber nur anstarren. Schließlich fasste er sich wieder und fragte: „Was soll das heißen? Wenn er kein Mann ist, Ist er ein - wie heißt das - Eunuch?“
„Nun, die Eltern Mühler haben sich wohl beide einen Jungen gewünscht. Die Mutter spielt gerne mit Puppen, aber anscheinend hat sie immer nur Barbies geschenkt bekommen. Der Standesbeamte hat vielleicht nicht genau auf die Geburtsbescheinigung geschaut und nach den Angaben des Vaters Norbert Mühler eingetragen. Aber bei meiner körperlichen Untersuchung hat sich eindeutig ergeben, dass der Beschuldigte ein Mädchen ist.“
„Ein Mädchen“, stöhnte Wiegand. „Es ist also völlig egal, ob er, ich meine sie, physisch und psychisch entwickelt war. Er, nein, sie, kann die Kleine nicht vergewaltigt haben. Aber Bianca ist misshandelt worden. Wer war dann ... Moment mal.“
„Ja“, erwiderte die Amtsärztin. „Eine Person, die dem Opfer sehr nahe steht, hat diese Tat gesehen und angezeigt.“
Kommissar Wiegand antwortete nichts weiter, sondern griff zum Telefon: „Harry, wir brauchen einen Wagen. Sofort.“