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- 02.01.2011
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Noah, der Deutsche
»D-Die Amerikaner«, sagt Tarek, und blickt vom flackernden Fernsehbildschirm auf, »i-ich will, dass die Amerikaner kommen!«
Ständig redet Tarek von den Amerikanern. Dass es das Größte wäre, gegen die Amerikaner zu kämpfen, hier, auf muslimischem Boden. Wir sind nicht mal seit drei Monaten raus aus Deutschland, und trotzdem bin ich fast erschrocken, wie sehr sich Tarek verändert hat. Nichts mehr übrig von dem schüchternen, blassen Jungen, dem neben mir in der Schule der Schweiß ausgebrochen ist, wenn ihn die Lehrerin aufgerufen hat; nichts mehr übrig von dem Counterstrike-Zocker, dem Kiffer, der sich bei jeder Gelegenheit über seinen Vater aufregt, wenn der ihm mal wieder ’ne Standpauke gehalten hat, wenn der ihm mal wieder gesagt hat, dass er doch endlich mal sein Leben auf die Reihe kriegen soll, dass er sich ’ne ordentliche Ausbildung suchen soll und das alles.
Jetzt liegt Tarek neben mir, auf dem Teppichboden, in seinem blauen, arabischen Gewand, mit dem schwarzen Tuch um den Kopf gebunden, und zappt durch die Fernsehsender, von denen wir nur einzelne arabische Fetzen verstehen.
»D-Die A-Amerik-kaner«, sagt Tarek wieder, deutet auf den Fernseher und beginnt dabei, diebisch zu grinsen. Bloß das Stottern hat ihm Allah, subhanahu wa ta’ala, noch gelassen, denke ich mir, dann drehe ich mich auf die Seite, ziehe mir die Decke über die Schultern und schließe meine Augen.
Nachts bombardieren die Amerikaner. Die Explosion kommt sehr unerwartet – der Knall reißt uns alle schlagartig aus dem Schlaf: Das ganze Haus wackelt, die Fensterscheiben platzen, Glas, Staub und heiße Asche fliegen uns sofort um die Ohren. Der Einschlag muss sehr nah gewesen sein, das ist mir gleich klar. Als Tarek und ich zehn Minuten später zum Fenster robben, sehen wir das zerstörte Haus am Ende der Straße; das ganze Gebäude ist ein einziger Schutthaufen, grelle Flammenzungen lecken aus den Trümmern hervor, zwischen Stahlträgern und einzelnen, noch stehenden Wänden. Jetzt rennen unten die ersten Leute auf die Straße, weißhaarige, alte Irakis und hysterische Frauen, die vor lauter Schreck vergessen haben, sich das Haupt zu bedecken; sie fluchen und schreien, schlagen sich die Hände über dem Kopf zusammen – ich winke ihnen zu, dass sie wieder reingehen sollen, rufe in meinem schlechten Arabisch: »Yallah, yallah, bayt, bayt!«, aber sie verstehen es nicht; jederzeit kann noch eine zweite Bombe einschlagen – vor ein paar Wochen haben die Amerikaner gewartet, bis die ersten Frauen auf die Trümmer gestiegen sind, um nach ihren Verwandten zu graben – und dann haben sie die zweite, die heftigere Bombe abgefeuert, die Schweine, die Kufar.
Ein Dutzend Alte und Frauen sind in dieser Nacht gestorben.
»D-Die Amerikaner!«, sagt Tarek wieder, diesmal mit weit aufgerissenen, irren Augen; jetzt kommt auch der Pakistani ans Fenster gerannt, der sich mit uns das Zimmer teilt, und ich sage zu Tarek, dass er keine Angst haben braucht, dass Allah, subhanahu wa ta’ala, den Zeitpunkt bestimmen wird, an dem wir sterben, dass auf uns der Himmel wartet, dass wir direkt ins Paradies kommen, dass Gott die liebt, die sich für ihn hingeben. Ich spule das alles so herunter, wie es mir Ibrahim Caftici gelehrt hat, damals, vor Jahren, in unserer Hinterhof-Moschee in Mönchengladbach; und während all die Worte aus meinem Mund laufen und sich mein Atem langsam wieder beruhigt, starre ich weiter auf das brennende Haus: Ich rieche den schwarzen Dunst des Feuers, ich höre die Schreie der weißhaarigen Irakis, der aufgebrachten Frauen – diese hohen, verbitterten Schreie, ich spüre die Hitze auf meinem Gesicht.
Es fallen keine weiteren Bomben mehr. Nach zwei Stunden legen wir uns wieder auf den Boden und wollen etwas schlafen, aber es geht nicht: Die Fensterscheiben sind hinüber und es ist kalt, stinkend und laut: Kalt, wegen der frischen Nachtluft, die durchs kaputte Fenster zieht, stinkend, wegen der ganzen Asche, die in unserer Wohnung hängt, und laut, wegen den Menschen, die auf den Trümmern stehen, die schreien, fluchen, flehen; und auch laut wegen den Drohnen, die immer nach den Bomben kommen: Sie kreisen jetzt direkt über uns, mit diesem Surren, diesem alles durchdringenden, monotonen Surren. Wir wissen nie, was die Amerikaner mit ihren Drohnen da oben vorhaben, wir wissen nie, wann die nächste Bombe fällt. Ich schalte den Fernseher ein und lasse ihn die ganze Nacht laufen, es ist das Einzige, was wirklich gegen dieses gottverdammt Surren hilft. Gegen die Kälte, die durch die kaputten Fenster zieht, und den Ruß und den Rauch, der in unserer Wohnung hängt, können wir nichts machen, außer uns unsere Decken bis zur Nase hochzuziehen.
Ich kriege kein Auge zu.
Am nächsten Morgen steht Abu al-Chattab vor uns, dieser Bär von einem Mann, breit grinsend und mit frischem Fladenbrot und Kiri-Käse in den Händen.
»Alles gut? Wie geht’s?«, fragt er mich mit seinem bosnischen Akzent, als ich noch unter meiner Decke auf dem Boden liege. Ich erzähle ihm vom Angriff letzte Nacht, und ob er das zerstörte Haus gesehen hätte. Abu al-Chattabs Grinsen verschwindet. Er holt tief Luft, schüttelt den Kopf, und dann zitiert er einen Koranvers auf Arabisch, den ich nicht kenne.
»Wir los müssen«, sagt er schließlich, »geben viel zu tun heute, much work.«
Ich war noch nie an der Front. Nachdem wir die türkische Grenze bei Kilis passiert hatten, haben sie mich und Tarek vier Wochen lang in so ein Ausbildungslager gesteckt. In den ersten beiden Wochen haben wir den Koran gelesen, in den letzten beiden gelernt, wie man schießt, wie man kämpft – hauptsächlich an »der Russischen«, an der Kalaschnikow: wie man sie auseinander- und zusammenbaut, wie man mit ihr auf fünfzig Meter Entfernung einem Mann das Gehirn aus dem Schädel schießt, wie man mit der Schulterstütze zuschlagen muss, um zu töten.
Nach diesen vier Wochen ist Abu al-Chattab auf mich zugekommen, weil er davon gehört hatte, dass ich drei Semester lang Maschinenbau studiert habe, in Aachen – »Deutschland«, »studiert«, dann noch etwas mit Maschinen: Das beeindruckt hier. Tarek war damals schon nicht mehr Tarek – er hieß fortan Abu Nuh al-Almani, »Abu Noah, der Deutsche«, und ging gleich los, an die Front, um Gottes Willen zu vollstrecken, um gegen die Ungläubigen, die Kufar, zu kämpfen, um die Muslime vor ihren Schlächtern zu beschützen, vor Assad und den Amerikanern.
Ich habe keine Angst davor, zu sterben – denn alhamdulillah, inschallah, wenn meine Absicht rein ist, dann sterbe ich für Allah. Der größte Beweis, dass du Allah liebst, sagt Gott im Koran, ist der Dschihad. Und ein guter Muslim liebt Allah mehr als sich selbst, ein guter Muslim liebt Allah mehr als sein Essen oder seinen Schlaf, oder seinen Körper oder sein Leben.
Und ich will ein guter Muslim sein, ich will Gutes tun.
Ich bin mir sicher, dass der Westen die Muslime unterdrückt. Nicht diese Wischi-waschi-Muslime, die lieber Schweinefleisch fressen und Alkohol trinken, anstatt in die Moschee zu gehen – sondern die echten Muslime, die wahren Gläubigen, die so leben wollen, wie der Prophet es vorgelebt hat.
Wieso sonst hat der Direktor Tarek und mir in der Oberstufe keinen Gebetsraum gegeben? Wieso sonst wurde Tarek gleich mit von der Schule verwiesen, obwohl es bloß ich gewesen war, der jeden Tag um 12 Uhr seinen Gebetsteppich im Klassenzimmer ausgebreitet hat? Wieso sonst werden überall auf der Welt Muslime erschossen, Muslime von Drohnen weggebombt? Wieso sonst ist der Westen in den letzten hundert Jahren mehr als fünfzig Mal in muslimische Länder einmarschiert? Wieso sonst sind unter Bush und Blair eine Millionen Muslime getötet worden?
Ich hasse die heuchlerische Art des Westens, wie er von Freiheit redet; aber was Freiheit wirklich bedeutet, davon hat der Westen keine Ahnung: Freiheit bedeutet eben nicht, alles tun und lassen zu können, was man will, sondern Freiheit bedeutet, frei von weltlichem Verlangen zu sein, frei von der Gier zu sein: der Gier nach Sex, nach Geld, nach Besitz, nach Status. Freiheit bedeutet, nur für Gott leben zu können. Freiheit bedeutet, für Gott sterben zu können, wenn man das will.
Ich weiß, dass wir siegen werden. Die USA sind keine Supermacht, Gott ist eine Supermacht. Und egal, wie viele Drohnen die Ungläubigen, die Kufar, uns noch auf den Hals hetzen, egal, wie viele unserer Frauen und Kinder sie töten – wir werden siegen. Da bin ich mir ganz sicher. Das Leben ist ein Test, bei dem wir Gott zeigen müssen, dass wir wahre Muslime sind, dass wir so leben, wie er es uns im Koran vorgeschrieben hat. Ich fürchte den Tod nicht, ich fürchte bloß die Hölle, in die ich einkehren werde, wenn ich jetzt kein guter Muslim bin.
Gott ist mit uns, ich spüre es jeden Tag, und das ist alles, was zählt.
Wir fahren mit Abu al-Chattabs Toyota aus der Stadt raus, durch karges, felsiges, ödes Land, bis wir schließlich in diesem kleinen Ort ankommen. Ich sitze die ganze Zeit auf dem Rücksitz, neben Tarek, und habe nichts Besseres zu tun, als ihn zu beobachten; er hat sich verändert, seitdem ich ihn vor ein paar Wochen das letzte Mal gesehen habe, im Trainingscamp, da bin ich mir ganz sicher. Die ganze Fahrt über habe ich darüber gegrübelt, was es denn genau ist, das sich so sehr an ihm verändert hat: Ist es seine neue, gerade, selbstbewusste Haltung, oder der dichte, schwarze Vollbart? Als wir im Ort ankommen und vor einer kleinen Scheune aussteigen, fällt es mir auf: Es ist sein Blick, es ist dieses diebische Grinsen; da ist irgendetwas an ihm, das neu ist, das irgendwie nicht zu Tarek gehört, das mir vorkommt, als sei es wie ein Dschinn, wie ein schlechter Geist, der in ihn eingekehrt ist, und der von ihm Besitz ergriffen hat. Tarek grinst, kratzt sich an der Nase, dann blickt er mich an, mit diesem neuen, mit diesem unheimlichen, wahnsinnigen Blick.
»Alles klar bei dir, Mann?«, sagt er zu mir. »Glotzt mich aber heute ganz schön komisch an«, sagt er, dann lacht er, und ich lache mit.
Abu al-Chattab ist von der Medienabteilung des Kalifats, und da gibt es diesen einen Panzer, einen amerikanischen Abrams, den die Brüder voriges Jahr bei der Einnahme von Mossul erbeutet haben; Mann, war das eine Aktion: 300 Mudschahidin stürmen auf Mossul zu, und zwanzigtausend dieser schiitischen Feiglinge rennen Hals über Kopf aus der Stadt, und lassen uns all das Gerät da, all die Panzer, all die Gewehre und Raketen. Nur dumm, dass das Kalifat viel zu wenige Panzerfahrer hat, es dürften nur eine Handvoll sein, und die sind alle im Kampf, in Kobane und bei Homs; aber Abu al-Chattab will der Welt zeigen, dass wir eine schlagkräftige Armee sind, dass wir ’ne Menge Panzer haben, die wir auch fahren können – deswegen hat er mich dazu abkommandiert, dass ich herausfinde, wie man dieses verdammte Ding fährt, damit wir ein kleines Video drehen können, für das Internet, ich habe das ja drei Semester lang studiert, Maschinen. Einen Bruder sollte ich mir noch aussuchen, der das Geschütz steuert, und da in meiner Einheit kaum einer Englisch oder Deutsch spricht, ist mir auf die Schnelle kein anderer als Tarek eingefallen – der war am Anfang natürlich ganz schön angepisst, weil er hier weg von seiner Einheit ist; aber als ihm Abu al-Chattab gesagt hat, der Kalif höchstpersönlich hätte das angeordnet, und Allah, subhanahu wa ta’ala, würde ihm seine Verdienste hinter der Front hoch belohnen, da hat er sich damit abgefunden.
Zum Glück ist es wolkig. Bei bedecktem Wetter kommen keine Bomben, die Amerikaner sehen nichts durch die Wolkendecke hindurch, und so tief fliegen, dass sie etwas sehen könnten, trauen sich diese Feiglinge dann doch nicht.
Der Panzer steht in der Scheune, ’ne Menge Benzin-Kanister stehen daneben, genug, dass wir einmal nach Kobane und zurück fahren könnten.
Wir bekommen das mit dem Panzer nicht hin. Das Ding springt an, aber irgendetwas stimmt mit der Lenkung nicht, ich kann immer nur geradeaus fahren. Abu al-Chattab ist ganz schön verärgert. Er und zwei andere Brüder, die hier beim Panzer stationiert sind, wollen endlich filmen, draußen, in den Sanddünen, aber es geht nicht, wir kommen nicht mal aus der Scheune raus. Die Stimmung ist gereizt, Abu al-Chattab brüllt irgendetwas auf Bosnisch, das ich nicht verstehe, dann wirft er die Kamera durch die Gegend und stampft davon.
Später beten wir und essen wieder Fladenbrot mit Kiri-Käse, dazu gibt es für jeden eine Flasche Pepsi, die kriegt man hier trotz des Krieges an jeder Straßenecke. Als es dämmert, fahren wir zurück in die Stadt, ohne auch nur eine Minute gedreht zu haben. Niemand sagt ein Wort, bloß die Naschids, die islamischen, hypnotischen A-capella-Gesänge, schallen aus dem Autoradio.
Als wir zurück nach Mossul kommen, herrscht dort großes Treiben. Überall Leute, die Straßen sind voll mit Autos und Motorrädern, fast jeder Laden hat noch geöffnet; Eis, Kaffee, Nüsse, Rosinen und Trockenfrüchte gibt es zu kaufen. Das ist nicht ungewöhnlich für einen Tag wie heute, an dem die Wolken so dicht über uns hängen, dass die Leute keine Angst haben, auf die Straßen zu gehen; plötzlich bleiben wir im Verkehr stecken.
Eine aufgebrachte Menschentraube hat sich drei Autos vor uns gebildet. Abu al-Chattab steigt aus und läuft in Richtung der Menschentraube, und als er zwei Minuten später nicht wieder da ist, steigen auch Tarek und ich aus. Sofort sehe ich den Typen, der auf der Ladefläche des weißen Pick-Up-Vans inmitten der Menschenmasse steht: ein schwarzhaariger, dünner Kerl, in meinem Alter, mit zugeschwollenem, blaugeschlagenem Gesicht; seine Arme sind seitlich ausgestreckt und mit Kabelbindern an eine Holzlatte gebunden, und sein Blick ist müde nach unten gerichtet, auf seine Füße. Ein Kurde, ein YPG-Kämpfer, denke ich gleich. Auf dem Van stehen auch noch fünf, sechs andere Jungs, ganz in schwarz gekleidete Kämpfer, Mudschahidin , mit Sturmmasken und Kalaschnikows, die sie in die Luft strecken. Einer der Mudschahidin hat das Mikrofon in der Hand, er heizt die Menge an. Ich verstehe bloß einzelne Worte, Worte wie: »Kurde«, »Kobane«, »Abtrünniger«, »Allah«, »tot«, und »Allahu akbar!«
Die Menge pfeift und klatscht, immer wieder strecken sie ihren Zeigefinger in die Höhe – der islamische Gruß, der bedeutet, dass man nicht vergessen soll, dass dort oben jemand ist, im Himmel; viele Kinder und Halbstarke sind dabei, auch einige Alte, keine Frauen; manche sind eifriger und steigen auf die »Takbir!«-Rufe des Vorsprechers ganz energisch mit »Allahu akbar!«-Schreien ein und strecken immer wieder den Finger nach oben – andere sind verhaltener, skeptischer, stiller, aber niemand verlässt den Platz.
Auch ich brülle mit, auch ich strecke meinen Finger nach oben, in Richtung Himmel, in Richtung Gott.
»Komm«, sagt Tarek auf einmal zu mir, »lass’ weiter vorgehen!«
Wir quetschen uns durch die Menschenmasse, und als wir schließlich fast in der ersten Reihe stehen, blicke ich noch einmal hoch zu dem Kurden, der auf dem weißen Pick-Up steht, der ganz blass auf seine Füße starrt, dessen Arme an die Holzlatte gebunden sind, und hinter dem schon einer der Mudschahidin mit seinem Messer herumspielt. Ich blicke diesem Kurden ins Gesicht, noch mal und noch mal, und auf einmal kommt mir da etwas vertraut vor, auf einmal habe ich das Gefühl, diesen Kerl schon mal gesehen zu haben, irgendwann, irgendwo; ich denke noch weiter darüber nach, dann tippe ich Tarek auf die Schulter und sage: »Sag’ mal, ist das nicht Boran?«
Jetzt blickt auch Tarek dem Kurden ins Gesicht.
»Scheiße«, sagt er, »ja, das könnte er sein, oder?«
Wir gehen noch ein Stück vor, und jetzt sind wir uns ganz sicher: Ja, das ist er, Boran, der Kurde aus der Oberstufe, der Basketball-Star unserer Schule, der Frauenheld; eine dieser Figuren, von dem die Mädchen im Pausenhof schwärmen, und mit dem jeder Typ befreundet sein will. Tarek und ich können es nicht fassen. Boran. Hier. In Mossul.
Plötzlich steht Abu al-Chattab neben uns.
»Ihr ihn kennen?«, fragt er uns in brüchigem Englisch, und nickt in Richtung des weißen Vans. Wir nicken, dann versuchen wir ihm klarzumachen, dass wir auf der gleichen Schule gewesen waren und das alles. Abu al-Chattab ist plötzlich ganz aus dem Häuschen. Sofort rennt er zurück zum Toyota, und zwei Minuten später steht er auch schon wieder neben uns, mit der Kamera in den Händen. Dann geht er vor, zu den Jungs auf dem Pick-Up, spricht mit ihnen, hebt die Kamera hoch und deutet auf uns.
»You will kill him«, sagt Abu al-Chattab, als er wieder vor uns steht, und grinst breit dabei. »You will kill him and I will film it.«
Ich schlucke. Ja, klar, wir werden ihn töten. Wir müssen ihn töten. Als ich hierher gekommen bin, war mir klar, dass ich töten werde. Um all meine Brüder und Schwestern zu schützen, vor dem Schlächter Assad und dem Bombenteufel Amerika. Boran, dieser Kurde, hat sich gegen uns gestellt, und wer gegen uns ist, muss sterben.
Ich weiß nicht, wieso ich jetzt an den alten tunesischen Imam denken muss, der in meiner ersten Moschee in Mönchengladbach gepredigt hat, noch vor meiner Zeit bei Ibrahim Caftici. Ich weiß nicht, wieso ich jetzt an all die Streite denken muss, die wir jungen Konvertiten damals mit diesem alten, tunesischen Imam hatten: Wir wollten die besten Muslime sein, wir wollten leben wie der Prophet höchstpersönlich, und deswegen haben wir uns Tag für Tag mit ihm angelegt, mit dem Imam: wegen der Digitaluhr, die im Gebetsraum hing, die aber in unseren Augen unislamisch war, weil der Prophet unmöglich selbst eine Digitaluhr benutzt haben kann; und hätte Gott gewollt, dass wir Digitaluhren benutzen, hätte sie der Prophet doch benutzt – er hat es nicht getan, also will Gott auch nicht, dass wir es tun, so einfach ist das. Wir haben uns auch wegen dem Schaf gestritten, das einige Gemeindemitglieder zur Feier unserer Konvertierung schlachten wollten, weil das unserer Meinung nach Bid’a war, ein neuer religiöser Akt, der in den Überlieferungen über das Leben Mohammads nicht vorkomme; und wir wollten doch genauso leben wie Mohammad, weil wir darin die einzige Chance gesehen haben, vor Gott nichts falsch zu machen, und mit Sicherheit ins Paradies zu kommen – und letztendlich haben wir uns täglich mit dem Imam gestritten, haben ihn als Heuchler beschimpft, haben ihm vorgeworfen, dass er kein wahrer Muslim sei – also sind wir rausgeflogen, aus der Moschee. Irre hat uns der Imam genannt, Wahnsinnige und Ungebildete, und ein Großteil der Gemeinde stand auch noch hinter ihm, hinter diesem Murtad, hinter diesem Abtrünnigen.
Aber das ist jetzt egal – denn jetzt sind wir hier, in Mossul, und Abu al-Chattab steht vor uns, und der graue Himmel spannt sich über uns, und die schnaufende, schreiende und schwitzende Menschenmasse steht hinter uns, vor uns, neben uns, und Boran, der Basketballer, ist fünf Meter vor mir auf dem Pick-Up, und jetzt blickt er mich an, und er ist kreidebleich, und Tarek und ich sind nicht mehr Tarek und ich, wir sind Abu Nuh al-Almani und Abu Musa al-Almani, und Abu al-Chattab steht vor uns und sagt, dass wir Boran töten sollen, und dass wir davor auf Deutsch sagen sollen, dass wir ihn kennen, dass auch wir früher Deutsche gewesen wären, aber dass wir nun zum Islam gefunden hätten, und dass alle deutschen Muslime es uns gleich tun sollen, und jedem die Kehle durchschneiden sollen, der sich gegen das Kalifat, der sich gegen Allah, subhanahu wa ta’ala, stellt.
Meine Beine werden weich und zittrig, ich stehe wie versteinert da. Plötzlich wird mir speiübel – aber nein, ich muss, ich will kämpfen, ich will Gutes tun; auch der Prophet ist in den Krieg gezogen, auch der Prophet hat das Schwert gegen seine Feinde gerichtet.
Als mein Studium immer schlechter lief, als ich die ganzen Berichte über das Kalifat und die Hinrichtungen gesehen habe, da war mir klar, was auf mich zukommt; da war mir klar, dass ich erst töten werden müsse, um dann ein gottgerechtes Leben führen zu können, im Kalifat, im einzigen islamischen Staat. Doch wieso muss es jetzt Boran sein, den ich töten muss? Wieso muss es Boran sein – Boran, der Schülersprecher, Boran, der einer der Wenigen gewesen war, die sich für meinen Gebetsraum eingesetzt haben? Boran, der mich immer nett grüßte, wenn wir im Gang aneinander vorbeigelaufen sind? Boran, Boran ...
»Was ’n los mit dir?«, sagt Tarek plötzlich von der Seite zu mir, er lacht, dann klopft er mir auf die Schulter. »Auf geht’s!«, sagt er. »Wollen wir dieses Schwein mal schlachten, oder?«
Ich nicke, sage: »Ja, los geht’s«, und dann klettern wir auch schon rauf, auf den Pick-Up; vor mir Abu al-Chattab, der jetzt die Kamera auf das Stativ setzt und sie auf uns positioniert, vor mir die aufgebrachte, schnaufende Menschenmenge – die Mudschahidin heizen ihnen jetzt wieder ordentlich ein, »Takbir!«, schreien sie, »Allahu akbar!«, schallt es zurück, »Takbir!«, »Allahu akbar!«
Jetzt wird es plötzlich still. Abu al-Chattab nickt uns zu, dann fängt Tarek das Reden an: Was er genau sagt, bekomme ich nicht mit, so schwindelig ist mir. Ich beiße mir auf die Zunge, krampfe meine Fäuste zusammen; all die Menschen, sie starren uns an, und ihre Gesichter sind nicht voller Hass oder voller Zorn oder Neugier, ihre Gesichter kommen mir vor wie die von Besoffenen: aufgedunsen, müde, zerschunden, mit glasigem Blick.
Als Tarek fertiggeredet hat, schauen alle auf mich. Aber ich schaue bloß Boran an, und auch sein Gesicht ist aufgedunsen, müde und zerschunden; aber seine Augen sind so grün und so stechend, wie sie schon immer gewesen waren.
Dann schüttelt Boran auf einmal den Kopf, atmet tief ein und blickt auf die Menschenmasse vor uns – und plötzlich kommt diese Stimme aus ihm heraus, diese tiefe, kräftige, bebende Stimme: »Ihr Schweine!«, schreit er auf Deutsch, und die Leute blicken sich fragend an, sie verstehen es nicht. »Ihr dreckigen Hunde! Das verzeiht euch Allah nicht! Allah liebt die, die Gutes tun! Allah liebt die, die Frieden stiften! Und Allah hasst euch Schlächter! Er hasst euch, ihr dreckigen Sadisten! Ihr werdet schon noch sehen, mit wem Allah ist! Ihr werdet schon sehen, was er euch antun wird, ihr –«
Plötzlich versagt Boran die Stimme, ich höre ihn neben mir röcheln, und als ich mich umdrehe, sehe ich Tarek, wie er breit grinsend das Messer in der Hand hält, wie er Boran an den Haaren hält und den Schnitt langsam und sauber durch seine Kehle führt; dunkles, schwarzes Blut strömt aus der Wunde, dann läuft es Boran auch aus dem Mund, er hustet, spuckt es heraus, zappelt herum – dann wird Boran ruhig und still, sein Körper sackt in sich zusammen, seine grünen, stechenden Augen drehen sich in den Schädel. Die Menge tobt, sie strecken die Finger wieder nach oben und schreien: »Allah! Allahu akbar!«
Tarek brüllt: »Takbir!«, »Takbir!«, und dann grinst er bis unter beide Ohren und hält das blutige Messer in Siegerpose hoch. »Takbir!«, schreit er, »Takbir!« – und da ist es wieder, dieses Neue an Tarek: diese diebisch-strahlenden Augen, die selbstbewusste Körperhaltung, das Blut an seinen Händen, auf seinem Gewand. Tarek schreit und die Menge tobt.
Ich gebe zu, ich kenne nicht den ganzen Koran. Aber das meiste. Ich kenne die Suren, die das Töten erlauben, ich kenne die Aussprüche über den Dschihad, über den Heiligen Krieg. Ich bin hierher gekommen, um ein besseres Leben anzufangen, um Buße zu tun, um all die Sünden meines früheren Lebens wiedergutzumachen. Ibrahim Caftici hat damals, in der Hinterhof-Moschee in Mönchengladbach, immer gesagt: Eine Stunde Dschihad auf dem Schlachtfeld sind mehr wert als 60 Jahre in der Moschee. Ich glaube ihm. Ich will ihm glauben. Ich laufe hin und her, in der Wohnung. Ich bete, lange und intensiv, aber dieses Gefühl in mir, es verschwindet nicht, es wächst weiter an, bringt mich um den Verstand. Ich sehe Boran vor mir, wie er mich mit seinem blaugeprügelten Gesicht ansieht; und dann sehe ich Tarek, wie er grinsend den Schnitt ansetzt, wie das ganze Blut da herausläuft, wie Boran röchelt, hustet, und schließlich sein eigenes Blut auskotzt. Ich laufe hin und her. Ich will ein guter Mensch sein, ich will ein guter Muslim sein. Ich will leben, wie es mir der Prophet vorgelebt hat, in einer rein islamischen Gesellschaft, fernab jeder westlichen Verführung. Ich will die Menschen vor Assad schützen. Ich will die Menschen vor ihren Schlächtern schützen.
Tarek bekommt nichts von alldem mit. Er liegt schon wieder in seiner Decke gehüllt vor dem Fernseher und schläft. Immer und überall einschlafen zu können, das lernt man an der Front, hat Tarek noch zu mir gesagt.
Ich frage mich, was er noch alles gelernt hat, an der Front.
Es vergeht keine Stunde, da fallen auf einmal wieder Bomben – grelles Licht blitzt für den Bruchteil einer Sekunde durch die kaputten Fenster, bumm, bumm, die Einschläge sind so laut, dass sie mir bis ins Mark fahren, das ganze Haus fängt zu Beben an; auf einmal steht Tarek vor mir, ganz aufgebracht – er packt mich am Arm und schreit: »Los! Raus! Raus hier!«
Wir rennen die Treppen hinunter, das ganze Haus wackelt so sehr, dass es uns gegen die Wände wirft. »Raus! Raus!«, schreit Tarek, die Beleuchtung des Treppenhauses flackert, erlischt – schließlich rennen wir durch Dunkelheit, bloß die Blitze der Bomben erhellen kurz das Treppenhaus.
Als wir schließlich im Erdgeschoss stehen, zittere ich am ganzen Körper – bumm! bumm!, eine Bombe nach der anderen schlägt vor uns, neben uns, über uns ein; Helligkeit, Dunkelheit, dieser Lärm, ich verstehe nicht, was Tarek sagt, ich sehe bloß sein Gesicht, seinen Mund, der sich bewegt, die weit aufgerissenen Augen – dann kracht es direkt über uns, und das ganze Haus bebt so arg, dass ich sofort auf dem Boden liege – und, ich weiß nicht, wie das möglich ist; ich weiß nicht, wie das sein kann, dass ich plötzlich wieder seine Stimme höre: Aber zwischen all diesem Donnern und dem Blitzen und Beben kann ich ihn wieder hören: Boran, mit seiner tiefen, kräftigen Stimme: »Ihr werdet schon noch sehen!«, brüllt er, »ihr werdet schon sehen!«, brüllt er, »ihr werdet –«