No Connection to the Mainland
I
Eli hatte noch gesagt, wir sollten in Daressalam Geld abheben, bevor wir die Fähre nach Sansibar bestiegen. „Man weiß doch nie, wie es woanders ist“, meinte sie. Ich lachte nur, weil ich glaubte, dass sich ein wegwischendes Lachen auf einer unbeschwerten Reise in solch einem Moment gehöre. „Lass uns lieber die Sonne genießen“, raunte ich ihr auf der Kaimauer im Hafen von Daressalam zu. „Und schau nur die Daus auf dem Ozean, dem Indischen Ozean, Eli, dem Indischen. Sie werden jetzt im Sommer immer nach Osten getrieben, das lernten schon die Portugiesen, als sie das erste Mal hier vorbei kamen und rüber nach Indien wollten. Wenn ich jetzt meine Coladose ins Wasser werfe, segelt sie südlich von Sri Lanka direkt bis Indonesien!“. Eli warf mir nur einen stummen Blick zu, der mir verbot, auch nur daran zu denken meine Coladose jetzt tatsächlich ins Wasser zu schmeißen, von wegen der Delfine und Wale und so. „Wir sollten Geld abheben“, wiederholte sie ohne die Spur eines Lächelns.
Als wir drei Stunden später in Stone Town die Fähre verließen, waren alle Geldautomaten auf der Insel ausgefallen. „There is no connection to the mainland“, klärte uns ein Wächter auf, als wir uns nicht von dem schwarzen Bildschirm des Automaten der People's Bank of Zanzibar losreißen konnten, der keinen Hinweis, keine Erklärung gab - und kein Bargeld. „No bank gives no money in Stone Town today“, schob er lachend hinterher. Es war nichts zu machen. „Wir hätten Geld auf dem Festland abheben sollen“, sagte Eli ganz beiläufig, ohne die Spur eines Vorwurfs, und ich liebte sie dafür.
Wir besaßen noch 38 Dollar, gerade genug für ein Taxi an die Ostküste, nach Jambiani oder Paje, aber wovon sollten wir dort den Wein zahlen, den gegrillten Hummer und die frischen Mangos, von denen Eli mir ständig erzählte, seitdem Navid ihr davon vorgeschwärmt hatte. 38 Dollar. Selbst ich, der ich die Aussicht gar nicht so übel fand, eine Woche lang von den 18 Dollar zu leben, die wir nach der Taxifahrt noch übrig haben würden, jede Nacht an einem anderen Strand campierend, Bananen und Mangos klauend, vielleicht sogar Kokosnüsse, wenn ich diese krummen Palmen hochkäme, selbst ich musste mir eingestehen, dass eine Hochzeitsreise anders auszusehen hat.
Wir kauften vorerst nur eine Flasche Wasser, trotteten eine Weile am Hafen herum, als ob unser angestrengtes Starren in Richtung Daressalam die Verbindung zum Festland wiederherstellen könnte, schauten spöttisch den dicken Amerikanern und ein paar einheimischen Bling-Bling-Jugendlichen dabei zu, wie sie Cola und Whiskey schlürften, während wir in gemeinschaftlich beschlossenen Intervallen an unserer Wasserflasche zogen, um möglichst lange ohne weitere Ausgaben über die Runden zu kommen. Wir nickten uns bei jedem Schluck verschwörerisch zu, um anschließend in unser schelmisches Lächeln zu fallen, weil wir die Not genossen, die uns so unerwartet getroffen hatte. Eine echte Not, ein authentischer Mangel, wie selten das ist, so selten, dass wir unsere Situation als etwas Frisches, Unverbrauchtes, Neuentdecktes genossen. Bald solidarisierten wir uns mit den zwielichtigen Gestalten, die am Hafen herumlungerten, die genau wie wir gestrandet waren, etwas länger schon, aber eben auch gestrandet und mittellos im Gegensatz zur fettwanstigen Haute Volée des Geldadels im Restaurant gegenüber, und doch sprachen wir unsere Hafenbrüder nicht an, da wir noch zu frisch waren im Spiel, zu begierig, bald wieder auf die andere Seite zu wechseln.
Irgendwann begannen wir unsere Touren. Zu Fuß natürlich, innerhalb von vier Stunden drei Mal zu jedem der acht Geldautomaten der Stadt. Immer die identische Route: vom Hafen an den portugiesischen Kanonen vorbei zum omanischen Palast, zum alten britischen Konsulat, scharf links am persischen Hamam in den indischen Basar und zurück zum Hafen, immer erfolglos. „Seit tausenden Jahren ist schon alles globalisiert auf dieser Insel, aber der freie Markt ist trotzdem im Eimer“, lachte Eli, die diese politischen Spielchen liebte, auch wenn sie nur ein Witz waren, nie mehr, aber eben auch nicht weniger, wie etwa ein Schweigen, wie eine völlige Gleichgültigkeit.
In der zweiten Runde erkannten uns die Sicherheitsleute der Banken bereits, nickten uns freundlich zu. No connection to the mainland. Jedes verdammte Mal. Schließlich fragten wir in den großen Hotels, ob man uns dort Bargeld auf Kreditkartenrechnung herausgeben könnte, auf fingierte Quittungen, auf nicht verbrachte Nächte und nicht verzehrte Abendessen, aber der Rezeptionist sah uns an, als seien wir lästige Streuner. „Just wait a couple of hours“, sagte er stumpf, „just wait“.
Feodor und Anastasya waren es schließlich, die uns retteten. Wir trafen auf die beiden, als sie in der Shangani Street aus einem Taxi stiegen, unbeschwert dem Fahrer ein kleines Bündel tansanischer Schilling in die Hand drückten und schnurstracks auf eines der kleinen Touristencafés zusteuerten, die wir seit Stunden links liegen ließen. Wir müssen sie mit offenen Mündern angestarrt haben, als wären sie zwei Millionäre, die ein Fünfsternelokal aufsuchten, um dort ein paar Tausend Dollar auf den Kopf zu hauen, obwohl sie doch nur wir waren - wir mit einer Verbindung zum Festland. „Something wrong?“, fragte mich Feodor. Wir zuckten kurz zusammen, ertappt bei der Imagination fremder Genüsse, und ich musste mich tatsächlich kurz sammeln, bevor ich antworten konnte. „No, nothing wrong, it's just... no, it's nothing“, unterbrach ich mich selbst. „Common mate, let's sit together and you guys tell us what's bothering you“, schlug Feodor mit einer solchen Freundlichkeit vor, dass ich Langeweile dahinter vermutete, die Lust auf eine fremde Geschichte, die sie unterhalten, die Lust auf ein fremdes Problem, das sie lösen, belohnt mit einer Episode, die sie zu Hause erzählen würden. Eli war es, die mit einem Lächeln den Schritt in das Café tat, ganz natürlich Feodor und Anastasya folgend, wie immer pragmatischer als ich. Es war nicht ihre Art, hinter jedem selbstlosen Angebot eine Falle zu vermuten. „You won't believe what happened to us...“, sagte sie und blickte dabei unseren beiden neuen Bekannten direkt in die Augen.
II
Drei Stunden später saßen wir zu viert auf dem Holzdeck des Indian Pacific über der Bucht von Jambiani und schlürften Bloody Marys. „That's the life“, sagte Anastasya und zeigte auf die Daus der Fischer, die am Ende der Bucht gegen den Wind kreuzten, um weiter hinaus auf den Ozean zu gelangen, während wir den gegrillten Hummer bestellten, den Navid empfohlen hatte. Die anderen Hotelgäste, britische Kitesurfer, verstauten ihre Segel. Noch vor einer halben Stunde hatten wir sie im Ozean beobachtet. Für einen kurzen Moment waren sie geflogen, manchmal sogar einige Sekunden lang, sie hatten dann das Board hochgerissen, erst nach vorne, schließlich nach hinten, aber der Flug hatte nie so lange gewährt, wie ich es bei ihrem Absprung vermutet hatte, als die Leine des Drachens sich straffte, als das Windsegel sich prall spannte. Jetzt standen sie ein paar Schritte neben uns und rieben sich unter der Außendusche den Sand aus den Poren. Ihr lässiger Enthusiasmus ließ sie einen kurzen Moment lang sehr glücklich erscheinen.
Der Barmann spielte „Journey to Jah“ von Gentleman. Eli sang eine Strophe mit und schrieb sofort eine Mail an Tine, die vor Jahren auf einem Transatlantikflug neben dem Sänger gesessen hatte. „Small world“, sagte Anastasya und schüttelte den Kopf in ungespieltem Erstaunen.
Wir gruben unsere Geschichten von Zufällen aus, die wir einander natürlich nicht so ganz abnahmen, aber es vertrieb die Zeit. Irgendwann erzählte Eli, wie Tine nach St. Petersburg geflogen war, um ihre Doktorarbeit im Archiv der Eremitage zu schreiben, dort eines Abends von einer russischen Kommilitonin auf die Party eines befreundeten Künstlers in einer abgerissenen Galerie am Ufer der Newa mitgenommen wurde und zwischen absurden Installationen aus dem Metall abgetakelter sowjetischer Atom-U-Boote – just als sie ihrer neuen Freundin von ihm erzählte – Michi wiedertraf, ihren Ex-Freund aus Potsdam, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Und es kam, wie es kommen musste. „You mean Igor's Gallery?“, fragte Feodor, und als einige schnelle Mails später feststand, dass sich Tine und Michi auf der Party von Igor wiedergetroffen hatten, der ein alter Schulfreund von Feodor war, beschlich uns alle diese verdammte Ehrfurcht vor dem Schicksal, das nicht mehr war als ein bisschen Stochastik, aber in solchen Momenten eben eine Stochastik mit Bühnentalent.
Wir wurden still, weil wir doch etwas ergriffen waren von diesem Zufall, der nun obendrein durch defekte Geldautomaten in Sansibar eine weitere Kurve geschlagen hatte, doch die Stille kam nicht nur aus uns. Auch die langgezogene Bucht machte Feierabend, während die Fischer heimkehrten, von ihren Frauen und Kindern ohne Zärtlichkeit in Empfang genommen, reduziert auf den Erfolg ihres Fangs. Ich ging an die Bar. „That singer you just played is from my city“, sagte ich zum Kellner, der das für einen Witz hielt. „Nah, he from Jamaica“, meinte er. „Nah, he from Germany“, hielt ich dagegen. Er wurde unsicher. „He whitey?“, fragte er mich. „Yeah, he whitey“, antwortete ich, „whitey like me.“ Er zog ungläubig die Augenbrauen hoch. „Whitey like you, hmm.“
Sobald es dunkelte, starteten die Angestellten das Dieselaggregat und hunderte kleine Lampions erhellten das Deck, während um uns herum das Dorf in Schwärze versank. Kinder kreischten dort unentwegt, irgendwann mischten sich Männer ein, die im Suff grölten oder einfach so über die Straßen schrien und manchmal fuhr gespenstisch langsam ein Fahrradfahrer am geöffneten Tor des Indian Pacific vorbei, dessen Lichtbogen die unbewachte, aber von beiden Seiten respektierte Grenze zwischen Hotel und Dorf markierte. Wir begannen Wein zu trinken, rückten näher zusammen, Eli an mich, Anastasya an Feodor, wir vier aneinander, bis wir nur noch flüsterten, da alles andere uns vorgekommen wäre, als brüllten wir.
III
Es dauerte nicht lange, bis wir völlig betrunken waren. Ein langer Tag, Sonne, drei Bloody Marys und ein halber Liter Wein sorgten bei jedem von uns dafür, dass wir bald über alles lachten, was der andere sagte. Natürlich feierten wir nur den Alkohol, während wir dachten, uns zu feiern, aber noch heute bin ich nicht bereit, dies als Fehler einzugestehen.
„Let's have a last wine“, schlug Feodor vor und torkelte zur Bar, bevor wir überhaupt antworten konnten. Als er nach einigen Minuten nicht zurückgekehrt war, blickte ich mich um und sah, wie er mit dem Kellner diskutierte und immer wieder nach unten auf den Strand zeigte. Unter dem Deck hatte sich eine Traube an Kindern versammelt, die den Schein einiger an der Unterseite des Decks angebrachter schwacher Lampen nutzten, um Fußball zu spielen. Sie hatten ihr Spiel unterbrochen, sobald sie Feodor oben auf dem hell erleuchteten Deck entdeckten und nun, als ich neben ihn getreten war, verdoppelte sich die Lautstärke ihrer Rufe. „Muzungwu“ schrien sie, steigerten sich hinein in dieses Wort, von dem wir gar nicht wussten, was es bedeutete, bis uns der Kellner aufklärte: „It means whitey colour, like you“. So standen wir da auf den dicken Holzbohlen des Decks, das aus alten Daus zusammengezimmert worden war, wie der Hotelprospekt verlauten ließ, und schauten hinunter, konnten nichts zurückrufen, und mit jedem „Muzungwu“, das zu uns hinaufschallte, kam ich mir rassistischer vor, obwohl ich doch gar nichts getan hatte, sondern nur mit einem Glas Weißwein in der Hand dort oben neben Feodor und dem Kellner stand. Genau in dem Moment, in dem die Situation zu schmerzen begann und ich an unseren Tisch zurückkehren wollte, sprang einer der Jungen unter uns auf einen Felsbrocken und rief: „Muzungwu, play football!“. Ja, dachte ich, das war das Medikament, das die Schmerzen vertreiben würde – Kooperation, Vermischung, Grenzen einreißen und so, das alles spielerisch! Ich klopfte Feodor auf die Schulter, riss ihn geradezu die Treppe hinunter, sodass ihm kaum noch Zeit blieb, Anastasya und Eli zuzurufen, sie sollen uns folgen.
Es wurde ein Riesenspaß, natürlich. Wir kickten eine halbe Stunde um die Wette, jeder von uns mit drei kleinen Kindern am Bein jagten wir bis in die Brandung hinein dem Ball nach, der eine bemitleidenswerte Pille war, zusammengenäht aus Plastik und ein paar Lederresten, aber es kümmerte niemanden, da er doch seinen Zweck erfüllte, uns und ein paar dutzend Einheimischen Freude zu verschaffen. Sogar Eli, die eigentlich nie für so etwas zu haben war, wetzte über den Strand, grätschte einmal einem der Kinder die Beine weg, was so urkomisch aussah, dass wir uns im Sand kugelten vor Lachen. Es war alles so, wie es sein sollte.
IV
Als das Indian Pacific den Generator ausschaltete, fiel der Strand in tiefe Dunkelheit. Die Kinder verzogen sich zur Brandung und begannen mit einem Spiel, dessen Ablauf und Sinn uns völlig abging. Sie schubsten sich wild, aber doch mit gewissen Regeln, bis schließlich eine Seite durch eine Nichtigkeit, eine kleine Berührung oder ein Stolpern, den Sieg davontrug und alles wieder von vorn begann.
„They seem pretty happy“, sagte ich in unsere kleine Runde, „happier than I thought they would be.“
„Yeah right“, erwiderte Feodor mit seinem harten russischen Akzent, „but why shouldn't they be? It's mostly you who assume they couldn't be happy.“
Ich entschloss mich die Spitze nicht wahrzunehmen, die in seiner Antwort versteckt war, entschloss mich dieses kleine „you“ nur auf mich zu beziehen, nicht auf irgendetwas Größeres, dessen Teil ich war, Europa oder der Westen oder was auch immer, kam mir dabei nachgerade staatsmännisch vor, ganz als hätte ich besonderen Sportlergeist gezeigt, indem ich die Anspielung ignorierte, eben den Sportlergeist, der nötig ist, wenn man im Spiel der ganz Großen mitmischen will, wo es auch mal nötig ist zu schweigen, um keine Rote Karte zu riskieren. Derweil lotste uns Eli wie immer souverän aus der kleinen Sackgasse, in die ich uns hineinmanövriert hatte, indem sie einfach sagte: And how sweet these kids are! Es ging weiter, wir rollten wieder.
Bald kramte Anastasya ein Päckchen Crescent Star hervor, eine einheimische Marke, was mir noch verruchter erschien als die Aussicht, endlich wieder zu rauchen, obwohl wir doch schon vor Jahren nach zähem Kampf damit aufgehört hatten. So saßen wir auf den Treppenstufen, die hinauf aufs Holzdeck führten, und zündeten uns gegenseitig tansanische Zigaretten an. „What a night“, sagte Anastasya. „A night to remember“, sekundierte Eli, was natürlich abgeschmackt war, mich aber damals überhaupt nicht störte, weil es doch tatsächlich schön war, dort zu sitzen und eine neue Freundschaft zu feiern, gemeinsam zu rauchen, gemeinsam in die Richtung zu schauen, in der wir das Meer wussten, schlicht alles das zu tun, was einen Abend in unserer Erinnerung mit großer Wahrscheinlichkeit langlebig machen würde.
„Look, the kids are still there“, unterbrach Feodor die Stille und zeigte auf das Knäuel der Kinder, das sich balgend den Strand entlang bewegte. „Hey“, brüllte er hinüber, um uns einen Zigarettenzug später lächelnd zuzuflüstern, man müsse diese ewige Prügelei doch endlich stoppen. „Hey, come over here, I got some questions“.
Sie gehorchten, reihten sich bald eins nach dem anderen in einem Halbkreis um uns herum auf, plötzlich ganz schüchtern, schweigend, erwartungsvoll, was in mir die typische Panik auslöste, die panische Antizipation der Peinlichkeit, die nun folgen musste, denn ein Gespräch mit den fremden Kindern würde unmöglich sein. „We stay here for a while. What is there to see in your village?“, fragte Feodor in die Runde, ruhig, fast beiläufig. Niemand antwortete, natürlich, nein, sie glotzten uns einfach an, erst Feodor, dann mich, dann Eli, dann Anastasya, jedes der bestimmt zwanzig Augenpaare dieser Reihenfolge gehorchend, als sei es naturgegeben, zuerst Feodor anzuschauen, dann mich, dann Eli und dann Anastasya. Die Peinlichkeit stellte sich ein wie erwartet, pünktlich sozusagen, ohne jedwede Überraschung, denn wie hätte das alles auch anders ausgehen sollen? Nur Feodor schien erstaunt, dass keines der Kinder in fließendem Englisch antwortete. „Nothing to see in your village? Common, there must be something!“, versuchte er es erneut.
Die Pein trieb mir den Alkohol und das Nikotin in die Schläfen. Mir war urplötzlich kotzübel, sodass ich eigentlich nur noch weg wollte, ins Bett neben Eli, dort den Wellen lauschen, dem Rauschen der Palmenblättern über dem Dach unserer Hütte lauschen, aber in diesem Moment zu gehen wäre ein Tort an der jungen Freundschaft mit Feodor und Anastasya gewesen. Ich starrte an allen vorbei in der Hoffnung, aus der Haftung dieser Geschichte genommen zu werden, wenn ich nicht hinsah.
Ich hörte Feodor etwas auf Russisch vor sich her ranzen, wohl weil noch immer niemand antwortete. Sein kleiner Ausbruch klang so authentisch, dass er mich fast zum Lachen brachte, aber ich spürte, ihm war die ganze Angelegenheit zu ernst, als dass ich hätte lachen dürfen. Jetzt schrie er die Kinder in voller Lautstärke auf Russisch an und Eli zog die Augenbrauen hoch, suchte meinen Blick, doch ich starrte weiter stoisch an allen vorbei hinaus auf die schwarze See.
Es blieb nur der Rückzug. Feodor trat gegen einen der Holzpfosten des Decks, bevor er die ersten Treppenstufen hinauf nahm. Eli und Anastasya drängten sich geradezu hinter ihn, um möglichst schnell das Obderdeck zu erreichen, und auch ich ließ mich anstecken von der plötzlichen Eile. Auf einer der letzten Stufen angekommen drehte sich Feodor erneut um. Wieder murmelte er etwas halblaut auf Russisch vor sich hin - er schien sein Englisch völlig vergessen zu haben – und schnippste seinen Zigarettenstummel in weitem Bogen in den Sand. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie einer der Jungen den Strand nach der Kippe absuchte, hin und her lief, bis er sie gefunden hatte. „Mister, Mister!“, rief er hoch zu Feodor, bevor er mit heller Kinderstimme fragte: „Tastey good?“. Wir blieben alle stehen. „Tastey good?“, fragte der Junge wieder, während er die Kippe staunend zwischen den Fingern drehte, dann vorsichtig an die Lippen nahm, als sei sie etwas sehr Wertvolles, das schnell zerbrach. Er hatte wohl zuvor noch nie jemanden rauchen sehen, zumindest keinen Weißen. Ich schaute Feodor an, nickte ihm zu, auf dass er jetzt nicht wieder Russisch sprechen möge, es gab schließlich die kleine Chance, auch noch diese letzte Szene eines wunderbaren Abends zu retten. „Yes, tastey very good!“, rief Feodor hinunter. Eli zuckte zusammen, sagte aber nichts.
V
Die Frauen des Dorfes wateten in den Ozean, bis ihnen das Wasser über die Hüften schwappte. Sie griffen rhythmisch in die Bucht, mit einer Hand, mit beiden Händen, und zogen etwas hervor, das aus der Ferne nicht wirklich erkennbar war, faserig war es, lang, dunkel, glänzend. Um die Taille hatten sie große Körbe gehängt, die sie ab und zu an den Strand zurückbrachten und gegen leere Körbe eintauschten. Ich überlegte kurz, vom Deck hinunterzugehen und mir das Schauspiel aus der Nähe anzuschauen, aber mein Kater hielt mich davon ab, besser war es, viel besser war es, einfach sitzen zu bleiben, einen Kaffee und einen Obstsalat zu bestellen und auf den Kellner zu warten, der sicher Bescheid wusste. „Aquaculture“, sagte er gelehrt, bevor ich ihn überhaupt fragen musste, „for your soap and your beer“.
Eli kam bald hinzu und wir schauten in aller Stille auf die Ernte. Ich suchte nach einem Muster in den Bewegungen der Dorffrauen, nach der Systematik des Ablaufs, nach Claims in der sanften Bucht, die jeder Familie gehörten, aber ich fand nichts dergleichen, nur die Frauen, deren Wege sich immer wieder mitten im Wasser kreuzten, die kaum ein Wort wechselten, wenn sie sich begegneten, kaum den Takt des Beugens und Hebens verloren, den sie sich angewöhnt hatten. Das Ganze wirkte hypnotisierend, so sehr, dass ich bald die Augen schloss und sich die Bewegungen der Frauen hinter den Lidern fortsetzten, als säßen sie dort direkt über meiner Netzhaut und beugten sich wieder und wieder hinein.
Anastasyas Stimme brachte mich zurück. „They grow and harvest seaweed“, sagte sie laut zu Eli, während sie sich an den Nachbartisch setzte. „It's a shitty business.“ Ich wunderte mich, woher sie das wusste, hatten wir doch jede Minute in Jambiani bisher zusammen verbracht, doch bevor ich sie fragen konnte, wollte Anastasya wissen, was hier eigentlich los sei.
Eli und ich schauten uns irritiert an, schließlich war gar nichts los, es war ein alltägliches Frühstück am Meer. Feodor, der unbemerkt an den Tisch getreten war, obwohl er einen knallgrünen Trainingsanzug von Zenith St. Petersburg trug, nickte bestätigend: „Something is up“. Und tatsächlich, in diesem Moment bemerkte ich es auch. Seitdem wir auf dem Deck saßen, hatte sich eine kleine, aber stetig wachsende Traube an Einheimischen vor dem Tor des Indian Pacific versammelt. Was ich zuerst als alltäglichen Vorgang verbucht hatte - Taxifahrer, Schlepper, Touristenführer vor dem Hotel auf Kundschaft wartend - zog inzwischen auch die besorgten Blicke der Kellner auf sich, die immer wieder einige Schritte vor die Bar traten, um die Menschen vor dem Tor im Blick zu behalten. Wir zuckten die Schultern, doch die Beiläufigkeit Feodors und Anastasyas kam mir gespielt vor, als wüssten sie etwas, oder vermuteten zumindest etwas, das Eli und mir unbekannt war. Ich mied Elis Blick, der unablässig meine Augen suchte, als wollte sie mir ein Signal geben, mit ihrem Blick erklären, was hier eigentlich los war, und entschied mich, keinen Anflug von Unruhe diesen Morgen am Meer zerstören zu lassen.
„Why is it a shitty business?“, fragte ich Anstasya, um auf ein anderes Thema zu kommen. Sie murmelte etwas von Entwicklungshilfe, die schief gelaufen sei und von einem indonesischen Konzern, der eingesprungen sei, um die aufgebaute Infrastruktur nicht völlig vor die Hunde gehen zu lassen. Danach schwieg sie und starrte auf das Tor. Ein Junge wagte sich über die Schwelle, bevor ihn die anderen zurückzogen. Ab und zu schallte ein Ruf zu uns hinein, inzwischen mussten es Dutzende Menschen sein, die auf der matschigen Straße vor dem Tor warteten. Vielleicht hatte der Hotelmanager den Fisch nicht bezahlt, den die Männer des Dorfes abends in die Küche brachten, vielleicht hatte er eine der Putzfrauen begrapscht, vielleicht waren sie wütend, weil er auf einer muslimischen Insel Alkohol ausschenkte, es konnte alles und nichts sein und ich hielt es weiterhin für müßig, sich mit einer Frage auseinanderzusetzen, die wir nicht beantworten konnten, die uns nicht einmal jemand gestellt hatte. Ich blickte auf das Meer und den Strand, da es trotz der Unruhe eigentlich nichts zu sehen gab.
Als der Kellner das nächste Mal an unseren Tisch trat, fragte Feodor, was denn los sei. „Just rumours, don't worry about it“, wiegelte er ab. Ich tippte insgeheim weiter auf einen korrupten, unanständigen Hotelmanager, sagte aber nichts, da die anderen inzwischen recht beunruhigt ausschauten. Nachdem der Kellner seine Bestellung aufgenommen hatte, stand Feodor auf, verschwand im Hotelzimmer und kehrte wortlos wieder.
Es passierte genau in dem Moment, in dem ich Feodor und Anstasya fragen wollte, was sie denn augenscheinlich wussten und uns nicht mitteilten, was Feodor mitten im Frühstück plötzlich in seinem Hotelzimmer zu schaffen hatte und wieso Anastasya so gut über das lokale Seetanggeschäft Bescheid wusste, genau in dem Moment, in dem ich meinen Mund öffnete, brach die Meute vor dem Tor los.
Dreißig, vierzig Männer rannten mit Gebrüll über die Schwelle, nahmen Besitz vom Indian Pacific, indem sie ein paar Stühle umstießen und auf dem Weg an die Theke die Sitzkissen der Sonnenliegen in den Swimming Pool warfen. Ein Geruch von Fisch und Benzin kam mit ihnen und erst jetzt, als diese Veränderung meiner Umgebung bereits stattgefunden hatte, bemerkte ich, dass es zuvor so sommerlich nach schwüler Luft und Salzwasser gerochen hatte. Die Meute hatte keinen Anführer, niemanden, der voran ging, und fast schien es nach den ersten wüsten Schritten, als wollten die Männer, die das Tor des Indian Pacific als erste passiert hatten, möglichst schnell wieder zurück ans Ende der Mobs, der sie aber unnachgiebig weiter über das Deck schob.
Was mir bald klar wurde: Wir waren ihnen augenscheinlich egal. Sie umgingen unseren Tisch in weitem Bogen, ließen trotz ihrer Wut nur schüchterne Blicke in unsere Richtung wandern. Der Hotelmanager, triumphierte ich innerlich. Doch dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Die Männer reihten sich vor der Theke auf und wurden still, vielleicht erschrocken über ihren Wagemut und wohl auch unsicher, was nun zu tun sei. Selbst das Plätschern der Wellen war wieder zu hören, das Knirschen des Sandes, als ein Fischer seine Dau auf den Strand schob. Es war nahezu surreal, sodass ich fast schon erwartete, einer der Männer würde als nächstes in ruhigem Ton sagen: Just a regular beer, please. Und wir alle würden lachen.
Doch nichts dergleichen geschah. Nach einigen Augenblicken flutete die Diskussion an der Theke wieder auf, war auch bei uns am Tisch hörbar, und obwohl wir nichts verstanden, spürten wir doch, dass die Stimmung gereizt war. Eli bemerkte es als erste. „Warum schauen sie in unsere Richtung?“, fragte sie mich auf Deutsch, die Anwesenheit von Feodor und Anastasya völlig vergessend. Ich zuckte mit den Achseln, wollte wieder mit meinen Augen auf das Meer flüchten, aber das wäre in diesem Moment tatsächlich idiotisch gewesen. Die Stimmen an der Theke wurden langsam leiser, bis sich der inzwischen hinzugerufene Hotelmanager auf den Weg an unseren Tisch machte. „Kurios“, dachte ich nur, blickte zu Feodor hinüber, der wie immer die Ruhe in Person war und sich beiläufig eine Zigarette anzündete, bevor er dem Hotelmanager direkt in die Augen schaute und ihn ohne eine Spur von Unbehagen in der Stimme fragte: „What do they want?“. Und was der kleine Herr mit seinen hängenden Schultern nun sagte, die Augen hinter einer prahlerischen Sonnenbrille versteckt und doch mit Bedauern in der Stimme, mit einer Scham sogar, die gar nicht zu seinem Stolz passte und die hervorgerufen wurde von dem, was er uns Sekunden später mitteilte, obwohl es ihm schwer fiel und was uns allen, nun auch Feodor, die Augenbrauen in die Höhe zog - was der Hotelmanager also sagte, während Feodor genüsslich an seiner Zigarette zog, war keine Auskunft sondern ein Befehl: „You have to go with them.“
VI
Wir schauten uns an, eher verdattert denn erschrocken, da es ja ganz selbstverständlich war, dass wir uns diesem Mob nicht ausliefern würden, aber da stand der Manager, in dessen Windschatten die ersten Hotelstürmer an unseren Tisch herangetreten waren, und sie alle forderten uns auf von unserem Frühstück aufzustehen und das Hotel zu verlassen. Ich machte den ersten Fehler. Anstatt direkt die Polizei zu rufen fragte ich in die Runde: Why do they want us to go with them? Es wurde übersetzt, diskutiert, wütend auf uns gezeigt, bis die Antwort kam: They don't want to tell you what the problem is, they want to show you.
Feodor sprach mit Anastasya auf Russisch, kurz, knapp, fast militärisch, in genau dem Ton, den wir noch vom Vorabend kannten und der wohl seine Art war, auf Stress zu reagieren. Nachdem Anastasya mit einem kurzen Nicken zu verstehen gegeben hatte, mit allem Gesagten einverstanden zu sein, wandte er sich Eli und mir zu und fragte in akzentfreiem Deutsch: „Meine Freunde, was machen wir jetzt?“. Und obwohl ich bisher nicht in Panik verfallen war, denn was sollte diese ganze Angelegenheit anderes sein als ein schlechter Scherz, der nach ein paar Minuten verklungen sein würde, riss mich Feodors Satz in eine tiefe Verunsicherung, in das plötzliche Gefühl völlig allein zu sein und völlig unwissend, was hier eigentlich vorging, in ein Gefühl, das nichts anderes war als eine konkrete Angst vor dem Unmittelbaren, auf das ich keinen Einfluss haben würde, nicht die berühmte German Angst, die ich nur zu gut kannte und die doch immer auf eine als grau imaginierte ferne Zukunft ausging, nein, ich hatte Angst vor dem, was in den nächsten Minuten geschehen würde, ganz gleich, wie ich handelte. Travelling makes you a child again, hatte ich vor unserer Abreise in einer Safari-Broschüre gelesen, und ein Kind war ich urplötzlich geworden in meinem Widerwillen gegen die imminente Ungewissheit, gegen die Auslieferung in eine Welt, die ich nicht verstand.
„You speak German?“, presste ich heraus, am Ende fast in ein Kreischen abirrend und doch mit dem Wissen, dass diese Frage und ihr Ton der Situation nicht gerecht wurden, denn ich hätte wüten müssen, um dem doppelten Spiel, das Feodor offensichtlich mit uns trieb, gebührend zu entgegnen. „Habe in Berlin studiert“, erklärte Feodor beiläufig, „aber das tut jetzt nichts zur Sache“. Eli schaute ihn mit ihrem seltenen Blick des Widerwillens an, der vernichtend war, wie man so sagt, in ihrem Fall aber meistens auf sich selbst gerichtet, denn war die Unvollkommenheit der Welt, wie sie sich in Feodors Unehrlichkeit materialisierte, nicht die Schande eines jeden Erdenbürgers, der dieser Unvollkommenheit keinen Widerstand leistete, indem er alles und alle besserte? Und so sah ich, wie Eli mit sich rang, etwas zu sagen, das der Situation angemessen war, das produktiv war und gleichzeitig ihrer Abscheu vor den Lügen Feodors Ausdruck verlieh, doch da war nichts, was sie sagen konnte, denn während sie überlegte und ich sie dabei beobachtete, drangen die Hotelstürmer auf uns ein, forderten uns hektisch auf, nun endlich aufzustehen und mit ihnen zu kommen, und als dies nichts half und wir stoisch nichts taten, was sie von uns forderten, rückten sie die Stühle nach hinten, auf denen Eli und Anastasya saßen, wohlwissend, dass Feodor und ich dies nicht hinnehmen würden.
VII
Auf den letzten Metern zum Dorfplatz von Jambiani wuchs die Menge, die uns folgte, gewaltig an. Aus allen diesen pittoresken Korallenhäusern mit ihren palmwedelgedeckten Dächern, gestern von uns noch freudestrahlend fotografiert, traten neue Gesichter neben uns, die mir rachsüchtig erschienen und zugleich darauf bedacht, uns nicht zu nahe zu kommen. Niemand berührte uns, niemand hatte uns auf dem gesamten Weg von unseren zurückgeschobenen Plastikstühlen im Indian Pacific bis hierher berührt oder auch nur mit uns gesprochen und doch gingen wir hintereinander wie Gefangene mit unseren immergleichen Bewachern, die uns gestern noch Zahnpasta verkauft oder den Weg zur Red Monkey Bay gewiesen hatten.
Der Dorfplatz war mir am Vortag nicht aufgefallen, da er so unscheinbar wie die trostlosen, aus Treibholz zusammengenagelten Läden war, die ihn umgaben. Ein bisschen Schotter, eine Palme in der Mitte, ein paar gebrochene Plastikstühle aus den Restaurants am Strand, mehr war nicht zu sehen gewesen, als wir aus dem Taxi ausgestiegen waren. Nun drängten sich die Einwohner von Jambiani um das Zentrum ihres Dorfes, um die schiefe, im Vergleich zu den stattlichen Exemplaren in den Gärten hinter der Hauptstraße eher mickrige Kokospalme und als wir den ersten Ring der Menge erreichten, tat sich wortlos eine Gasse auf, das Stimmengewirr, schon von weitem zu uns gedrungen, verstummte. Je näher wir der Palme kamen, desto deutlicher hörte ich die Stimme eines einzelnen Mannes, der dort vor sich hin sprach, fast schon murmelte. Eli stieß mich hektisch an der Schulter an und brachte mir so ihre Existenz in Erinnerung, denn ich war so tief in das Loch meiner Verlorenheit gefallen, dass ich sie für einige Augenblicke vergessen hatte. Ich drehte mich um, doch verstand ihre Gesten nicht und wagte nicht, näher zu ihr zu treten, unsere Kolonne dadurch aufzuhalten.
Ich erinnere mich bis heute, dass ich in diesen Minuten sehr langsam dachte, äußerst vorsichtig sozusagen, um im Denken keinen Fehler zu machen, der sich im Handeln später fortsetzte, und so ging ich in meinem Kopf behutsam alle Gründe durch, die zu unserer Situation geführt haben mochten: Eli und Anastasya in Bikinis am Strand einer muslimischen Insel und wir alle vier recht betrunken am Vorabend, meine Unterhaltung mit dem Kellner über Gentleman, unser Fußballspiel mit den Kindern im Sand – alles war unbedenklich gewesen, nichts blieb haften an dem Klebestreifen, mit dem ich über die letzten 24 Stunden fuhr. Ich ging die Details durch, einzelne Blickwechsel mit Vorbeigehenden, die Höhe der Trinkgelder, die Feodor gegeben hatte, schließlich unser Gepäck, unser Schuhwerk, unsere Frisuren, einfach alles. Und während mir nichts in den Sinn kam, was den Zorn der Einwohner von Jambiani geweckt haben könnte, tat sich der letzte Ring der Umstehenden auf, den Blick freigebend auf die Ursache all der Unruhe und ich spürte eine Erleichterung, die in ihrer Tiefe dem Gefühl der Verlorenheit nahe kam, das mich seit einer halben Stunde nicht verlassen hatte. Dort, neben dem alten Mann, dessen Murmeln das plötzliche Schweigen der Menge gefüllt hatte, lag ein Junge, vielleicht acht Jahre alt, im Staub des Dorfplatzes und wand sich in Schmerz, mit einem feuchten Tuch auf der Stirn, das der alte Mann vorsichtig hob, um an ihm zu riechen. „Natürlich“, durchschoss es mich, „sie brauchen Hilfe, den Jungen zu retten.“ Es war keine Wut in den Augen der Hotelstürmer gewesen sondern Verzweiflung, gar Angst, und der rüde Umgang mit uns diente nur dem Ziel sicher zu stellen, dass wir mit ihnen gingen. „Der Quacksalber weiß nicht weiter“, rief ich Feodor zu, fast jubilierend.
VIII
Als wir zu viert neben dem Dorfmediziner saßen, der kein Wort in unsere Richtung sprach, nur kurz den Kopf drehte, jeden von uns ernst ansah, um sich in einer Bewegung wieder dem Jungen zuzuwenden und ihm weiter ins Ohr zu flüstern, fand sich endlich eine Gelegenheit, mit Eli zu sprechen. „Was haben wir dabei?“, raunte ich ihr zu, denn sie war schließlich Krankenschwester und seit Jahren für unsere Reiseapotheke verantwortlich. Angespannt zählte sie alles auf: Amoxicillin, Doxycyclin, Cetirizin, Perenterol, Elotrans, Ibuprofen, Malarone. „Da wird schon was dabei sein“, murmelte ich ihr mit einem Lächeln zu, das sie mit ihrem fassungslosen Gesicht erwiderte, den weit geöffneten Augen mit der nicht verkennbaren Spur eines moralischen Vorwurfs und der hochgezogenen Stirn, die sich im letzten Drittel vor dem Haaransatz in Rillen legte. Sie schien nicht erleichtert zu sein.
„Shall we get our medicine box?“, fragte ich den alten Mann, der mir aber nicht antwortete sondern eine junge Frau herbeiwinkte, vielleicht seine Tochter, vielleicht irgendeine der Frauen, die ich heute morgen noch in den Ozean hatte waten sehen, fraglos jedoch die Frau, über die wir mit ihm kommunizieren sollten und zu der er sich nun vertraut neigte, einige Worte sprach, bis sie sich mir zuwandte und in flüssigem Englisch sagte:
„No, we have to wait until the herbs work and the devilish substance leaves his body. We do not need your medicine box.“
„We have many good pills, antibiotics, antihystaminics, something will help!“, wiederholte ich mein Angebot mit Nachdruck, etwas enttäuscht, dass es beim ersten Mal abgelehnt worden war. Wieder erhielt ich nach der Übersetzungsschleife ein kurzes, aber bestimmtes „No“.
„What has he eaten?“, startete ich einen neuen Versuch, mich nützlich zu machen.
Diesmal wartete die Übersetzerin nicht auf die Antwort des Dorfmediziners. „Something very dangerous, something that nobody should eat.“
„What was it?“, hakte ich nach.
„You know“, erwiderte sie, erneut einen langen Blick über uns schweifen lassend, „the boy ate a cigarette.“
IX
Dieser Satz hatte eine Wirkung auf mich, die mir heute unangenehm ist, denn ich muss zugeben, dass mein erster Gedanke nicht unserer Schuld galt, unserer Verantwortung für dieses Kind, das wir vergiftet hatten und das einen halben Meter von uns entfernt mit seinem Leben rang, nein, ich brachte diesen Satz instinktiv in Bezug auf die unmittelbare Situation, in der wir uns befanden. Und erst jetzt, da ich wusste, dass uns die Dorfbewohner nicht wohlgesonnen waren, dass sie nicht unsere Hilfe forderten sondern eine Entschuldigung, eine Erklärung, vielleicht auch eine Entschädigung, nahm ich sie erst wirklich wahr. Ich versuchte zu zählen, wieviele Menschen auf dem Dorfplatz versammelt waren, ob es möglich sein würde, zu fliehen oder notfalls zu kämpfen, ich sah in einzelne Gesichter, um in ihnen zu lesen, was uns erwartete. Und ich sah, dass sie uns nichts tun wollten, aber dort lag der Achtjährige und zuckte.
„He is fighting“, sagte die Übersetzerin nüchtern und zeigte auf den Jungen. Sie brachte mich zurück in die Situation, aus der ich mich gedankenverloren entfernt hatte, und ihre Worte erinnerten daran, dass der Junge lebte. Es gab noch diese Hoffnung auf ein gutes Ende. Vorerst saßen wir zu viert um den Jungen und den Dorfmediziner, der ein weißes WHO-Hemd trug, das mich zugleich beruhigte und besorgte, da außer diesem Hemd kein Zeichen westlicher Medizin zu sehen war, er musste ein einheimisches Medikament verabreicht haben, irgendeine Pflanze. Wormwood, sagte die Übersetzerin mehrmals. Und auch wir – ich kann das heute gar nicht mehr fassen – blickten völlig gebannt auf den Healer und den kleinen Jungen, flehten geradezu, dass der Wermut endlich seine Wirkung tun würde. Das alles war entschieden zu authentisch für meinen Geschmack.
„Wir müssen eine Schule bauen, wenn er stirbt“, flüsterte ich Eli zu, „eine Schule, um unsere Schuld abzutragen, vielleicht verzeihen sie uns dann.“ Der Gedanke begeisterte mich. Natürlich, es würde schwierig werden, die Materialien zu besorgen, es musste ja alles mit dem Schiff auf die Insel gebracht werden, aber in einer der Lodges hatte ich sogar Ikea-Möbel gesehen, es schien also standardisierte Versorgungswege zu geben. Die Planung des Gebäudes, die Auswahl der Lehrer und der Unterrichtspläne, all das versetzte mich nahezu in Hochstimmung. Bald würden wir etwas tun können und diese Hilflosigkeit und Ungewissheit, die ich auf dem Dorfplatz empfand und die mich wahnsinnig machte, ginge vorüber. Genau hier, unter dieser Palme, würden wir die Einwohner erneut versammeln, gemeinsam zur Schule hinüberschreiten und eine Plakette am Tor anbringen mit dem Namen des Jungen - wie hieß er überhaupt? Ich fragte die Übersetzerin, die mich daraufhin zum ersten Mal anlächelte und meine Frage in den ersten Kreis der Umstehenden weitergab. „Ismael“, rief eine der Frauen gedämpft zurück. Ich spürte eine noch zurückhaltende Sympathie der Menge zu uns hinüberdringen.
Froh uns diese erste Geste des Wohlwollens verschafft zu haben, schaute ich zu den anderen, doch sie waren in eigene Gedanken verloren, hatten meinen kleinen Austausch mit den Einwohnern nicht wahrgenommen. Eli wirkte resigniert, sie zwirbelte nicht einmal an ihrem Daumen herum, was sie eigentlich immer tat, wenn sie nervös war. Anastasyas Blick war leer, nichtig, völlig in sich gekehrt, während Feodor nicht sonderlich beunruhigt wirkte, vielmehr schien er in seiner überlegenen Gelassenheit genüsslich nachzudenken. „What shall we do now?“, brach ich die Stille. „Wir warten, es wird nicht mehr lange dauern“ erwiderte Feodor ohne mich anzusehen und wies auf Ismael.
Der Junge hatte sich beruhigt, er schrie nicht mehr, die Stirn glänzte nicht länger vor Schweiß, doch wirkten seine Lippen seltsam blutleer. Er starrte in die Palme hinauf, mit solch einer Intensität, dass ich seinem Blick folgte. Doch dort oben schwangen nur die Wedel seicht im Wind, wie sie es immer taten. „He is ready now“, murmelte die Übersetzerin. Mit einer ruhigen Bewegung griff ihm der Dorfmediziner unter den Arm, schaffte es aber nicht, ihn aufzurichten, sodass er mir ein kurzes Zeichen gab, ihm zu helfen. „Take him up“, forderte mich die Übersetzerin auf. Ismaels Finger waren steif, im Krampf verhärtet, doch nach einigen Atemzügen hatte er sich an meine Hände gewöhnt, ließ sich geradezu mit seinen Schultern in sie fallen. Ich zog seinen Oberkörper hoch, bis er saß, stützte seinen Rücken mit meinen Knien, und als er begann den Inhalt seines Magens auszuspucken, strich ich ihm über die kalte Stirn.
X
Es dauerte nur einige Minuten, bis Ismael wieder völlig hergestellt war. Der Dorfmediziner wühlte mit den Fingern durch das Erbrochene, wahrscheinlich um den Zigarettenstumel zu finden, und in mir dehnte sich langsam ein wohliges Gefühl von Erleichterung aus, gepaart allerdings mit dem Unwohlsein, das Geschehene nun den Rest meines Lebens mit mir herumzutragen. „Keine Geschichte, die wir beim Abendessen unseren Freunden erzählen“, dachte ich bei mir.
Die Einwohner von Jambiani reagierten erleichtert auf die Genesung Ismaels, doch hatte niemand den Platz verlassen, niemand seine Augen von den sieben Menschen unter der Palme abgewandt. Der Dorfmediziner sprach liebevoll mit dem Jungen, nickte dabei mit dem Kopf in unsere Richtung. „The healer asked the boy who gave him the cigarette“, gab die Übersetzerin weiter. Ismael schaute nur kurz in unsere Richtung, vermied unsere Augen, eigentlich konnte er nur unsere Schemen wahrgenommen haben in den Bruchteilen des Moments, die sein Blick in unsere Richtung geschossen war, doch vollkommen sicher und ohne die Spur eines Zweifels zeigte er auf Feodor. Nun wandte sich die Übersetzerin der Menge zu, zeigte ebenfalls auf Feodor und rief etwas auf Suaheli, das zu einem langen Raunen und Murmeln führte. In mir stieg, als ich dieses Gericht sah, Genugtuung auf. Auch in Elis Blick lag ein Lächeln versteckt.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Vier Männer setzten sich um Feodor herum, ohne ihn zu berühren, bildeten eine Mauer aus Fleisch, während sie Anastasya nur bedeuteten, in der Nähe zu bleiben. Eli und mich ignorierten sie. Die Übersetzerin wandte sich an Feodor, setzte eine entschlossene Miene auf und sagte laut: „You have got to pay one thousand dollars to the boy's family and ten dollars to the healer.“ Die Summe kam mir ungeheuerlich vor, doch Feodor verlor sein Lächeln nicht, nickte nur zustimmend mit dem Kopf. Er hatte offensichtlich einen Plan. Über Anastasya kamen seine Botschaft und ihre Zimmerschlüssel zu uns. „You look for money in our room, in my backpack, in his backpack, although we don't have a thousand dollars on us. Call the banks in Stone Town. Get us some time, that's the most important thing! We need time!“
XI
Im Indian Pacific angekommen mussten wir dem Hotelmanager nichts erklären. „I am happy the boy is alive“, lachte er uns an, als wir durch das Tor traten, hinter uns eine kleine Schar an Schaulustigen. Die Badeliegen waren wieder akkurat um den Swimming Pool angeordnet, die Holzplanken penibel gefegt, unsere Hotelzimmer mit dem Ersatzschlüssel abgeschlossen. Sogar die Musik lief wieder wie zuvor. Die ersten Kitesurfer kehrten zurück, in völliger Urlaubsruhe das Mittagsmenü an der Tafel neben der Küche betrachtend - offensichtlich hatten sie nichts von all dem bemerkt, das an diesem langen Morgen geschehen war. „Ich brauche was zu trinken“, sagte Eli, und da wir Zeit schinden sollten, setzten wir uns an die Bar. An die zwanzig Augenpaare beobachteten jede unserer Bewegungen, wie Eli die Colaflasche mit einem Zischen öffnete, wie wir die Eiswürfel aus unseren Gläsern kullern ließen, um uns die Stirn zu kühlen, wie ich den Kellner bat, noch einmal die Platte von Gentleman aufzulegen. Obwohl die Schaulustigen wohl kein Deutsch verstehen würden, fühlten wir uns nicht in der Lage, miteinander über die letzten Stunden zu sprechen, zu sehr verhinderte die Anwesenheit von Fremden das Minimum an Intimität, das für die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen notwendig war. So schwiegen wir, bis der Hotelmanager uns ansprach. „Now your friends need money, right?“. Eli nickte. „Let me call the banks in Stone Town“, bot er an, und bevor wir etwas erwidern konnten, tippte er auf seinem Mobiltelefon herum. „No connection to the mainland“, war seine unausweichliche Auskunft, nachdem er aufgelegt hatte. Wir ließen ihn bei jeder Bank der Stadt anrufen, denn jedes Telefonat brachte Feodor und Anastasya einige Minuten, auch wenn wir nicht wussten, zu welchem Zweck sie die Zeit, die wir ihnen verschafften, eigentlich brauchten.
Nach einer halben Stunde gingen wir in ihr Zimmer, durchsuchten lustlos ihre Rucksäcke, öffneten ihren Schrank und zeigten den Schaulustigen, was wir gefunden hatten: Unterhosen, Zahnbürsten, einen Laptop, aber keine 1000 Dollar. An die Bar zurückgekehrt begannen wir ein Gespräch mit den Kite-Surfern über die Windrichtung und die besten Spots der Insel, auch wenn wir keinerlei Interesse an ihrem Sport besaßen. Wahrscheinlich dachten die Einheimischen, wir bettelten sie um Geld an.
Zwei elendig zähe Stunden, nachdem wir den Dorfplatz verlassen hatten, machten wir uns auf den Weg zurück. Noch bevor wir das Tor des Indian Pacific erreichten, sahen wir Feodor und Anastasya alleine die Dorfstraße hinunter kommen, entspannt, lächelnd, ganz als ob sie einen Tag am Meer verbracht hätten. „Ihr hier?“, fragte Feodor mit gespieltem Erstaunen, als wir uns trafen. „Was ein Zufall. Die Welt ist ein kleines Dorf geworden, nicht wahr?“
XII
„Four Bloody Marys, mate!“, rief Feodor dem Kellner zu, sobald wir an unserem Tisch saßen. Auf den Schreck sollten wir erstmal einen trinken, meinte er. Die Nachmittagsbrise trug den gewohnten Meeresgeruch auf das Deck, doch ich verschloss meine Nase gegen die feuchte, salzige Luft, die in mir für gewöhnlich ein Gefühl von Entspannung hervor rief. Es gab noch Dinge zu klären, bevor wieder Normalität einkehren würde.
„How did you escape them without paying money?“, fragte Eli nach dem ersten Schluck Alkohol. Sie wollte wissen, was geschehen war, und zugleich fürchtete sie sich davor, die Antwort nicht mit ihrem Bild von der Welt, von der Gerechtigkeit, ja von ihren Mitmenschen vereinen zu können, mit einem Bild, das über Jahre entstanden war und das im gewissen Sinne heilig war. Und auch ich hatte Angst davor, überlegte einen Moment lang, ob wir wirklich fragen mussten, ob wir nicht einfach unseren Bloody Mary austrinken und danach in unser Zimmer gehen könnten, eine Runde schlafen, morgen ein Taxi in den Nachbarort nehmen und uns eine andere Herberge suchen, wo alles anders wäre, einfacher, überschaubarer, aber Eli hatte schon gefragt, und Anastasya wandte sich ihr bereits zu, um sie anzulächeln.
„Wir haben einen Deal gemacht“, sagte sie, und dass auch sie Deutsch sprach, überraschte mich nicht mehr.
„Wir haben einen guten Deal gemacht“, sagte Feodor und lächelte ebenfalls. „Ihnen war klar, dass wir keine 1000 Dollar bezahlen würden. Es war einfach, sie herunterzuhandeln.“ Kaufmännischer Stolz sprach aus ihm, sonst nichts.
„Wieviel habt ihr denn bezahlt?“, wollte ich wissen und wollte es nicht wissen.
„Keinen einzigen Dollar, keinen einzigen Cent.“
Es trat eine lange Stille ein. Irgendwann kam ein Kitesurfer an unseren Tisch und fragte, ob wir Lust hätten am Abend mit ihrer Gruppe zu einer Hotelparty nach Paje zu fahren. Feodor winkte ab.
„Werdet ihr eine Schule bauen?“, fragte ich, als wir wieder alleine waren.
Sie lachten laut. „Nein, keine Schule“. Anastasya blickte mich mit einem Blick des Bedauerns an.
„Nein, keine Schule“, bestätigte Feodor und setzte nun endlich zu einer ausführlichen Erklärung an. „Wir sind nach Jambiani gekommen, um für einen indonesischen Konzern Seetang zu kaufen. Wir wollen näher an den Produzenten sein als bisher. Als wir den Einwohnern davon erzählten, hatten sie die Geschichte mit dem Jungen schnell vergessen. Sie verdienen ab sofort schließlich jeden Tag, jede Stunde, mit jedem neuen Sack, den sie ernten, mehr als zuvor. Es lohnt sich für sie, glaubt mir. Sie waren sehr glücklich. Bald können sie ihre Schule selbst bauen.“
„Wieviel bekommen sie denn für einen Sack?“, wollte Eli wissen und wollte es nicht wissen.
„Unsere Vorgänger haben einen Vierteldollar gezahlt, wir zahlen 28 Cent. In Daressalam mussten wir bisher fast anderthalb Dollar für einen Sack auf den Tisch legen. Auch für uns lohnt sich das, klar. Wir kaufen einfach direkt hier und nicht drüben auf dem Festland.“
„Aber warum verlieren die Bewohner denn über einen Dollar an Zwischenhändler, wenn alles so einfach ist?“, insistierte Eli.
„Look, they don't know anything about prices or transportation“, wechselte Feodor ins Englische. „They've got no connection to the mainland.“