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- 01.07.2014
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Nirgendwo so wie Zuhause
Wütend sah sie ihn an. Ihre Tränen vermischten sich mit ihrem Make Up und liefen ihr über das Gesicht. Hastig wischte sie sich einmal über ihre Wangen und fixierte ihn sofort wieder. Er stand nur da und sagte nichts, suchte nach Worten und konnte ihrem Blick kaum standhalten.
„Wieso sagst du nichts?“, fragte sie aufgebracht, ihr Kinn zitterte, „Wieso sagst du nichts?“, wiederholte sie beinah flehend.
„Ich...“, begann er, doch stockte und sah zur Decke. Seine Augen wurden feucht, er wischte sich die Tränen sofort weg.
„Weil du nie was sagst.“, sagte sie leise und schüttelte den Kopf. Ihre Stimme wurde lauter. Sie ließ alles los und warf ihm ihren ganzen Zorn entgegen, beleidigte ihn, stellte fragen und erwartete keine Antwort. Weil er nie was sagt.
„Ich verschwinde!“, sie stieß die Tür auf und stürmte in die Nacht.
„Warte...“, rief er und lief ihr nach. Doch als er nach ihrem Arm griff, schüttelte sie ihn nur unsanft ab und blieb nicht stehen. Er schon. Lange sah er ihr nach, wie sie sich fluchend die hohen Schuhe auszog um schneller voran zu kommen. Und er verfluchte sich selbst dafür, dass er stehen blieb und ihr nicht nachlief. Langsam ging er wieder ins Haus, schloss die Tür hinter sich und ließ sich von der Dunkelheit umfangen. Mit dem Rücken lehnte er an der Tür und rutschte langsam an ihr herunter. Von irgendwoher vernahm er das Ticken einer Uhr. Sonst hörte er nichts. Er war vollkommen allein. Schmerzlich wurde ihm das bewusst und Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Diesmal wischte er sie nicht weg. Es gab keinen Grund. Er musste nicht mehr den Starken spielen. Bitter lachte er auf, als er drüber nachdachte, wohin ihm das geführt hatte, den Starken zu spielen.
„Fuck.“, fluchte er leise und stand auf. Aus einem Schrank kramte er eine alte Sporttasche vor und füllte sie mit Kleidung um einige Wochen über die Runden zu kommen. Dann schrieb er eine SMS und legte sich ins Bett. Lange starrte er an die Decke und bekam kein Auge zu. Dann vibrierte sein Handy.
„Okay.“, hieß es in der Antwort. Er lächelte, drehte sich um und wollte schlafen, da vibrierte es erneut. Jemand rief ihn an.
„Bruderherz, hey! Hier drüben!“, rief eine aufgeregte Frauenstimme, als Tobie aus dem Zug stieg.
„Hey, kleine Schwester.“, er umarmte sie überschwänglich, „Lange nicht gesehen.“
„So lange nun auch wieder nicht.“, meinte Alex.
„Wie wahr, wie wahr.“, gestand er ein und sah sich um.
„Mein Auto steht da vorne.“, sagte sie, „Willst du noch irgendwo hin?“
Er sah sie kurz an und nickte, „Ja.“, sagte er bloß.
Wenige Minuten später standen sie beide auf einem Friedhof und schauten auf einen schwarzen Grabstein. Tobie holte eine Zigarettenschachtel aus der Jacke, steckte sich eine Kippe in den Mund und zündete sie an. Er zog einmal daran, dann nahm Alex sie ihm aus der Hand und zog ebenfalls einmal.
„Etwas pietätslos.“, sagte sie.
„Sie hat geraucht wie ein Schlot. Sich keine Zigarette anzuzünden wäre pietätslos.“, sagte Tobie.
„Kann immer noch nicht glauben, dass sie tot ist.“, redete Alex weiter.
„Ich kann nicht glauben, dass sie erst seit dem letzten Jahr tot ist, so wie sie gelebt hat.“, sagte Tobie lächelnd, woraufhin Alex ihm in die Seite boxte. Er legte einen Arm um seine kleine Schwester und zog sie zu sich heran.
„Sie war ein guter Mensch und eine gute Mutter.“, sagte Alex und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Sweetjacke über das Gesicht. Tobie nickte nur.
„Willst du noch wo hin?“, fragte sie.
„Ich denk nicht.“
„Sicher?“, hakte sie nach und sah ihn bedeutungsvoll an.
„Ganz sicher.“, sagte er nach wenigen Sekunden. Dann rauchten sie ihre Zigarette auf und gingen zum Wagen.
Als Tobie die Wohnung betrat, atmete er einmal tief ein.
„Ach, wie hab ich es vermisst.“, sagte er.
„Ich wohn hier seit knapp 2 Jahren. Und du warst erst vor wenigen Monaten hier.“, sagte Alex ungläubig.
„Ja.“, erwiderte Tobie und ließ sich aufs Sofa fallen, „Aber hier wohnst du. Und da uns nichts anderes bleibt, bedeutet das für mich Zuhause.“, er grinste sie an.
„Du hast keinen Mutterkomplex, du hast einen Schwesternkomplex.“, sie lachte, stellte zwei Bier auf den Tisch und ließ sich neben Tobie auf das Sofa fallen.
„Erzähl schon, wie hast du es diesmal verbockt, Brüderchen?“, fragte sie und öffnete ihr Bier mit einem Feuerzeug. Dann sah sie ihn erwartungsvoll an. Er starrte nur auf sein Bier.
„Was ist los?“, fragte sie, „Du trinkst doch...Oh, ich weiß wieder.“, sie nahm seine Bierflasche und öffnete sie ebenfalls.
„Danke.“, sagte er grinsend und lehnte sich mit dem Bier in der Hand zurück, „Keine Ahnung, wie das diesmal passiert ist. Wir haben uns gestritten, irgendwas banales. Und daraufhin wurde sie wütend. Scheinbar wollte sie einige Vorwürfe loswerden, die sich bei ihr angestaut haben.“, erzählte er weiter und nahm einen Schluck von seinem Bier.
„Und du hast wie immer, irgendwann dicht gemacht.“, sagte sie wissend.
„Ich kann mit so was nicht umgehen. Was aber nicht heißt, dass ich sie nicht liebe oder so, ich bin nun mal kein Kämpfer. Mit den meisten Vorwürfen hat sie ja auch recht, irgendwo.“
„Was war denn einer ihrer Vorwürfe.“, fragte Alex.
„Ich...sei...eventuell kein Kämpfer.“, antwortete er zögerlich. Alex verschluckte sich fast an ihrem Bier.
„Du bist wirklich der Wahnsinn.“, sagte sie dann.
„Komm, wir rufen deinen Freund an und unterhalten uns über eure gesunde Beziehung.“, sagte er leicht gereizt.
Alex sah ihn überrascht an, „Das war gemein.“
„Ich weiß. Es tut mir Leid. Scheinbar haben es heutzutage alle nicht leicht, verdammt.“, sagte er beschwichtigend, „Lass uns das Thema wechseln.“
„Wie läuft es auf der Arbeit?“, fragte Alex, als ob nichts gewesen wär.
„Gut, denk ich.“, meinte Tobie und grübelte kurz nach, „So genau, weiß man das eigentlich nie, als Drehbuchautor für eine Serie.“
„Deine Serie läuft doch aber gut.“, sagte Alex, „Ich glaub, ich hab sogar mal rein gezippt.“
„Ow, wie lieb.“, stieß er aus und lächelte sie an.
„Wie lange willst du eigentlich bleiben?“, fragte sie.
„Weiß noch nicht. Eine Weile, 3 Wochen oder so.“, antwortete er und zuckte mit den Achseln. Alex nickte, setzte die Flasche an und trank sie mit einem Zug leer.
„Das klingt super!“, sagte sie dann übertrieben euphorisch und rülpste, „Entschuldigung.“
„Ach bitte, ich kann auch woanders unterkommen, wenn du mich nicht hier haben willst.“, schlug er vor.
„Nein! Ich mach doch nur Spaß.“, erwiderte sie abwinkend, „Aber bekommst du keinen Stress, wenn du so lange von deiner Arbeit wegbleibst?“
Er zeigte auf sich, „Drehbuchautor.“, sagte er dann und beide lachten, „Nein, das geht schon in Ordnung, ich arbeite hier. Aber ich hab wirklich einiges zu erledigen.“
Einige Stunden zuvor, auf der Arbeit von Tobie
„Ist es so schlimm?“, fragte der kräftige Mann, dem Tobie gegenüber saß.
„Sie nimmt nicht mal meine Anrufe entgegen.“, sagte Tobie, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und seufzte.
„Tobie?“, fragte der Mann skeptisch und sah ihm genau in die Augen.
„Schön, ich hab sie nicht angerufen.“, gab dieser zu.
„Verdammt, Tobie!“, rief der Mann aus und haute auf den Tisch.
„Sie hat einiges gesagt, was mich ziemlich getroffen hat.“, erklärte er, „Ich sei irgendwie gefühllos. Sag mal, Frank, bin ich gefühllos?“
Frank hob die Augenbrauen, „Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem die Folge ausgestrahlt wurde, in der Caroline stirbt?“, fragte er, Tobie nickte, „Und wie hast du darauf reagiert?“, fragte er weiter.
„Nun ja, ich hab die Folge geschrieben, also war es nicht wirklich überraschend.“, sagte Tobie.
„Aber als deine Oma gestorbene ist, da warst du doch auch betroffen, obwohl es abzusehen war.“, ging Frank weiter auf ihn ein.
„Ja, schon. Aber Caroline...ich mein, bei meiner Großmutter bin ich auch nicht gerade in Tränen ausgebrochen. Und Caroline ist ja nicht mal nähere Verwandtschaft, sie ist ja nur eine fiktive Figur.“
„Ich hab geheult wie ein Schlosshund.“, sagte Frank und sah für eine Sekunde ins Leere, „Gut, was ist mit deiner Mutter?“, fragte er dann weiter.
„Das gleicht sich jetzt irgendwie mit dem Beispiel davor. Wobei ich dachte, dass Oma meine Mutter überleben würde.“, sagte er und lachte. Frank sah ihn nur ernst an.
„Ich glaub, ich sehe worauf du hinaus willst.“, sagte Tobie dann schnell und sein grinsen verschwand, „Aber ich kann Gefühle zeigen. Ich hab sogar etwas geweint, als Julia mich verlassen hat.“
„Wirklich? Du hast vor ihr geweint?“, fragte Frank skeptisch.
„Nicht direkt vor ihr...“, erwiderte Tobie kleinlaut.
„Du musst lernen, deine Gefühle manchmal einfach raus zu lassen. Das ist wichtig, sonst kriegst du irgendwann ein Geschwür oder so was. Damit ist nicht zu Spaßen.“, redete Frank auf ihn ein, „Du solltest mit jemanden darüber reden.“
„Okay. Ich wollte heute zu meiner Schwester fahren, in meine Heimatstadt. War lange nicht mehr da. Und eigentlich hatte ich vor, mit meiner Ex, Hanna, über diese Dinge zu reden, schließlich war ich mit ihr einige Jahre zusammen.“, er dachte kurz nach, „Aber jetzt werde ich wohl einfach meine Schwester besuchen.“
„Wieso?“, fragte Frank.
„Weil Hanna vor einem Monat verstorben ist.“, antwortete Tobie.
„Das ist ja echt scheiße.“, bemerkte Frank bitter, „Wie hast du es aufgenommen? Alles klar bei dir?“, fragte er, plötzlich schlug er sich an die Stirn, „Ach mit wem rede ich denn.“, er lachte.
„Du bist wirklich witzig, Frank.“, meinte Tobie und tippte mit den Fingern auf der Stuhllehne herum, „Ich kann da nicht drüber lachen.“
„Okay, entschuldige. Aber du solltest dort trotzdem mit Leuten reden. Alten Freunden und so, du bekommst von mir so lange Urlaub, wie du brauchst...“, Frank brach ab und schluckte hörbar, dann ließ auch er sich auf seinem Stuhl zurück fallen und sah in die Luft.
„Was?“, fragte Tobie und setzte sich seinerseits wieder auf.
„Soll nicht dein Problem sein...nun ja, so ganz stimmt das nicht. Aber...“, sprach Frank kryptisch weiter.
„Was ist los, ist was mit der Serie?“, fragte Tobie nervös, dann entfuhr ihm ein lautes Stöhnen, „Sag es nicht!“
Frank sah ihn nur betrübt an, „Sie drohen mit der Absetzung, richtig.“, klärte er auf.
„Ich dachte die Quoten stimmen wieder. Wir hatten zwar ein kleines Tief, aber... Verdammt!“, er schlug die Hände vors Gesicht, „Das ist zu viel auf einmal.“
„Die wollen, dass die nächste Staffel ein paar richtige Knaller bereit hält, so das wieder mehr Leute einschalten.“, Frank griff nach einem Brieföffner und spielte damit gedankenverloren herum.
„Na schön.“, sagte nach einer Weile Tobie, „Ich setz mich dran.“
„Nein, du musst dein Leben auf die Reihe bekommen.“, sagte Frank sofort.
„Das kriege ich schon hin.“, beruhigte er ihn, „Mein Leben verbessert sich nicht gerade dadurch, dass ich meinen Job verliere.“
Wieder in Alex Wohnung
„Was hast du jetzt vor?“, fragte Alex.
„Keine Ahnung.“, meinte Tobie und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier, „Weißt du, wer hier noch in der Gegend wohnt? Irgendjemand von Früher?“
„Woher soll ich das wissen?“, sagte Alex und stand auf um sich ein neues Bier zu holen.
„Ich versteh schon, ist vermutlich mein Fehler. Wenn man doch nur irgendwas erfinden würde, womit man frühere Bekanntschaften finden und mit diesen dann in Kontakt treten könnte.“
Alex kam wieder ins Zimmer und stellte zwei Bierflaschen auf den Tisch, „Hat man. Es nennt sich Internet. Und, ach ja, die 90er haben angerufen, sie hätten gern ihren Wissensstand zurück.“, witzelte Alex.
„Ich weiß, ich weiß. Doch ich war nie ein großer Fan von SchülerVZ oder Dugg.de.“
„Du verarscht mich, oder?“, fragte Alex und sah ihn beunruhigt an.
Er starrte zurück, bis er sein Grinsen nicht länger verstecken konnte, „Ich bin Drehbuchautor für eine bekannte Serie, was hast du gedacht? Das ich auf dem Mond lebe?“, fragte er leicht empört.
„Zumindest nicht auf Planeten Erde.“, gab sie zurück, „Also, wie stellst du es an?“
„Ich hab eine Liste erstellt. Aber ich wollte niemanden bei FaceBook stalken, also werde ich mich einfach durchfragen und bei meiner alten Schule fang ich an.“
„Alles klar, das klingt doch nach einem Plan. Also, wie siehts aus? Gucken wir die aktuelle Folge How I Met Your Mother oder zum vierhundertsten mal Scrubs?“
„Ich versteh die Frage nicht.“, antwortete Tobie verwirrt.
„So Scrubs it is!“
Am nächsten Tag schlenderte Tobie zu seiner Schule. Das Gelände war durch einen Zaun eingegrenzt. Als er hin und wieder einen Blick hinüber warf, entdeckte er ein bekanntes Gesicht, das damit beschäftigt war, ein Loch zu graben.
„Hey! Simon?“, rief er über den Zaun hinweg. Eine hagere Gestalt beendete ihre Tätigkeit, legte sich die Schaufel auf die Schulter und sah sich verwundert um. Da entdeckte er Tobie hinter dem Zaun und lächelte freudig.
„Ah, sieh an, wer sich da blicken lässt.“, sagte er und ging auf ihn zu. Sie gaben sich provisorisch die Hand.
„Du hast deine Lederjacke also gegen einen Blaumann getauscht, hm?“, fragte Tobie und grinste, „Hilfst du hier aus, hast du grade Semesterferien oder so was?“
Simon sah sich zögernd um und schüttelte dann leicht den Kopf.
„Oh.“, stieß Tobie leise aus.
Nervös kratze sich Simon am Kopf, „Wie geht es dir? Was machst du hier? Willst du nicht rüber kommen, ich führ dich ein bisschen rum.“, fragte er.
„Klar, gerne.“, ging Tobie darauf ein.
Sie liefen eine Runde um den Schulhof. Scheinbar hat gerade eine Stunde begonnen, sie waren völlig ungestört. Tobie mochte die Stille, wenn er sie auch nie mit diesem Ort in Verbindung gebracht hätte.
„Also um auf deine Frage zurück zu kommen.“, begann Tobie, „Hauptsächlich wollte ich die Gang mal wieder sehen. Mit euch abhängen. Über alte Zeiten reden.“
„Ich fands schade, dass du nicht bei der Beerdigung von Hanna warst. Ihr wart schließlich ziemlich lange zusammen.“, meinte Simon.
Tobie nahm sich seine Sonnenbrille ab und hing sie an sein T-Shirt, „Das tut mir auch Leid. Ich wünschte, man hätte mir Bescheid gegeben. Aber meine Schwester hat das wohl nur am Rande mitbekommen und naja...“
„So ne Scheiße!“, rief Simon aus und blieb abrupt stehen, „Willst du damit sagen, keiner hat dir was gesagt?“, er schüttelte ungläubig den Kopf, „Das ist doch scheiße, man. Und auch irgendwie mein Fehler, ich hätte Kontakt halten sollen, fuck.“
„Mach dich nicht fertig. Ich war es, der die Stadt verlassen hat. Und dann haben wir scheinbar einfach weiter gemacht. Was blieb uns schon groß übrig?“, beschwichtigte ihn Tobie.
„Wenn das schon ein Fehler war, dann müssten sich die meisten diese Vorwürfe machen.“, erwiderte Simon, „Komm wir gehen rein, ich spendiere dir nen Kaffee.“
Sie gingen langsam in Richtung Schulhaus. Tobie musterte das Gebäude genau, je näher er ihm kam. Die Schule schien mit den Jungs zusammen zu altern, nur hatte sie schon immer einige Jahre Vorsprung.
„Was meinst du mit ‚Die meisten müssten sich solche Vorwürfe machen’?“, fragte er dann.
„Keine Ahnung. Irgendwie ist alles auseinandergebrochen, wie das eben so ist. Manche sind in die weite Welt gezogen, globetrottern durch die seltsamsten Länder. Andere haben studiert.“, antwortete Simon müde. Tobie setzten sich an einen Tisch in der Kantine und Simon besorgte zwei Becher Kaffee.
„Und ich wusste bis zum Schluss nicht was Sache ist und man hat mir dann irgendwann diesen Job hier angeboten.“, sprach er weiter, „Ich komm gut über die Runden, was soll ich sagen. Die Wohnung gehört mir seit meine Eltern an die Küste gezogen sind und ich kenn die Leute hier. Eigentlich gibt es für mich keinen Grund wegzugehen oder mich zu beschweren.“, sagte er überzeugt, doch Tobie meinte die Bitternis in der Stimme raus zu hören.
„Du hast gesagt, die meisten sind weg gegangen. Wer ist noch hier?“, fragte er dann.
„Sarah, zum Beispiel. Ist in dem Gewerbe ihres Vater gegangen.“, antwortete Simon beiläufig, doch Tobie verschluckte sich und fing an zu husten. Simon lachte. Das erste mal ein Zeichen von Lebensfreude, bemerkte Tobie.
„Keine Angst!“, rief Simon belustigt, „Sie ist keine Nutte, sondern Buchhalterin.“, er kicherte. Auch Tobie musste grinsen.
„Wir können sie besuchen, wenn du willst.“, bot Simon an.
„Musst du nicht arbeiten?“, fragte Tobie.
„Ha! Der war gut.“, rief Simon aus und haute ihm auf die Schulter, „Aber wie sieht es mit dir aus, großer Drehbuchschreiber? Hab deine Serie gesehen. Nicht so meins, aber dennoch ganz ordentlich.“
„Danke. Die Serie verzapfe ich ja nicht allein.“, gab Tobie zurück.
„Das hab ich sowieso nie verstanden. Wie können mehrere Leute an einer Geschichte schreiben?“, fragte Simon mit plumper Stimme und zog eine Zigarettenpackung hervor.
„Das ist eine Schule, bis du sicher, dass du hier rauchen solltest?“, Tobie deutete auf die Zigarette im Mund seines Gegenübers.
„Ganz ruhig, ich mach sie ja erst draußen an.“, beschwichtigte Simon, „Erklär mir lieber deinen Job.“
„Naja, weiß du, so schwierig ist das gar nicht. Du hast einen Erfinder, der die Grundidee zur Serie liefert. Und dann hast du die Schreiber. Davon brauch man mehrere, da ist die Kreativitätsdichte höher, logischer Weise. Und dann gibt es einen Showrunner. Der schreibt auch ein bisschen mit, aber im Grunde entscheidet er, was in die Serie kommt und was nicht. Er hat das Sagen.“, erklärte ihm Tobie.
„Und du bist Showrunner bei dieser...“, fing Simon an und dachte kurz nach, „Na eben bei dieser Serie, wie heißt sie noch gleich?“
„Großstadtfiber. Und nein, ich bin nicht der Showrunner. Ich bin einer der wichtigen Schreiber. Einen richtigen Showrunner gibt es bei uns gar nicht.“, schloss Tobie das Thema, „Komm wir fahren zum Puff.“
Langsam und sich nervös umschauend kam Tobie der Rezeption immer näher, Simon folgte ihm. Sie waren in der Vorhalle des Bordells. Das Gebäude war groß, hatte zwei Etagen und eine breite, edle Treppe. Er war nur einmal in diesem Freudenhaus gewesen, damals war es eine Art Mutprobe der Jungs. Doch in Wahrheit wollte jeder von ihnen lediglich eine echte nackte Frau sehen. Weit gekommen war keiner. Der Vater von Sarah erwischte sie immer rechtzeitig, bevor sie irgendwas entdecken konnten.
„Schönen guten Tag ihr Süßen, wie kann ich euch helfen?“, fragte die Empfangsdame sich weit über den Tresen lehnend. Sie war hübsch, hatte jedoch schon bessere Tage gesehen.
„Ich würde gerne...“, fing Tobie an, doch wurde von einem lauten Brüllen unterbrochen.
„NIE HAB ICH MICH LEBENDIGER GEFÜHLT!“, schrie eine Männerstimme. Perplex sah Tobie schräg nach oben. Über das Holzgeländer gelehnt entdeckte er einen älteren Mann, der nur mit einem Laken bekleidet war.
„Na Klara, Lust auf einen Ritt?“, fragte er, bedeutsame Blicke der Empfangsdame zuwerfend.
„Nein, Friedrich, jetzt nicht. Ich habe Kunden.“, sagte diese bedacht und zeigte auf Tobie und Simon.
„Hm, das sind doch...“, begann der Mann zögerlich, dann verschwand er in seinen Raum. Als er wieder kam, hatte er eine Brille auf der Nase. Er schaute sich noch einmal die beiden Jungs an, die peinlich berührt zu Boden sahen und klatschte dann freudig in die Hände.
„Das sind doch Simon und Tobias! Na ihr alten Rabauken!“, rief er aus und stürmte die Treppe hinunter, „Wie geht es euch, Jungs? Wollt euch ein bisschen amüsieren, ja?“, er schüttelte beiden überschwänglich die Hand.
„Hallo Herr Siegmund.“, begrüßte ihn Tobie, Simon nickte nur.
„Ach, wieso denn so förmlich? Für euch Friedrich!“, sagte der Mann, „Mensch, dass ich euch noch mal wiedersehe.“
„Und ausgerechnet hier.“, fügte Simon grinsend an.
„Wir müssen uns unbedingt zu einem Bier treffen. Unbedingt.“, entschied Friedrich und drehte sich um, „Aber am besten erst Morgen. Ich bin noch eine Weile beschäftigt.“, er kicherte dreckig, stampfte die Treppe hinauf und war bald wieder in seinem Zimmer verschwunden.
„Ich dachte, der wäre verheiratet?“, meinte Tobie zu Simon.
„Schon lange nicht mehr.“, warf Klara ein, „Seine Frau hat ihn verlassen. Seid ihr ehemalige Schüler von ihm?“
„Ja, Deutsch.“, erwiderte Tobie.
„Ach, dass ist ja witzig. Sarah war auch in seiner Klasse. Die beiden gehen sich hier aus dem Weg, was man ja auch nachvollziehen kann.“, sagte sie.
„Genau zu der wollen wir.“, griff Tobie auf.
„Oh, ich weiß nicht, was man euch gesagt hat, aber Sarah ist keine Hure.“, erklärte sie und sah die beiden Jungs bedauernd an.
„Ja, das wissen wir. Sie ist eine alte Freundin von uns und wir würden sie gerne besuchen.“, sagte nun Simon. Sie nickte und erklärte ihnen den Weg zu Sarahs Büro.
„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern hier warten.“, sagte Simon.
„Alles klar, gut.“, sagte Tobie und ging zum Büro von Sarah. Bestimmt klopfte er an die Tür und öffnete sie.
„Hallo, Sarah? Hier ist Tobie.“, vorsichtig spähte er durch den Spalt und entdeckte Sarah an ihrem Schreibtisch. Ihr Kopf lag auf der Tischplatte und sie schien nicht auf ihn zu reagieren.
„Hey, Sarah, alles in Ordnung?“, fragte Tobie und ging auf sie zu. Er tippte sie vorsichtig an, plötzlich fuhr sie auf. Tobie erschrak sich und stieß ruckartig mit dem Rücken an einen Schrank. Sie lachte.
„Verdammt noch mal!“, schrie er, „Was stimmt nicht mit dir?“
„Entschuldige.“, sagte sie, bekam ihr Gelächter aber noch nicht unter Kontrolle, „Ich hab die Kamera vom Eingang angezapft, seit unser werter Herr Siegmund hier ein und aus geht.“
„Und da dachtest du, du könntest mir den Schreck meines Lebens einjagen?“, fragte Tobie skeptisch. Sie boxte ihm in die Seite.
„Du hättest noch viel mehr verdient!“, sagte sie laut, „Dich ewig nicht hier blicken zu lassen. Wo ist Simon?“
„Erst mal – autsch.“, gab er gedämpft von sich, „Zweitens, es tut mir Leid, dass ich dich nicht besucht hab. Drittens, Simon ist draußen geblieben, keine Ahnung wieso.“
„Ich hätte nie gedacht, das Simon mal hier in dieser Stadt endet.“, sagte sie abwesend.
„Woh, das ist aber etwas harsch. Schließlich hat der Gute noch das meiste seines Lebens vor sich.“, meinte Tobie, „Und du bist auch hier, oder?“
„Ja.“, gab sie empört zurück, „Aber nicht lange, ich hab studiert und einen guten Abschluss. Ich helfe hier nur aus, bis ich was neues gefunden hab.“
„Weiß jeder, dass sich Puffs gut in der Bewerbung machen.“, witzelte Tobie. Sie boxte ihn erneut in die Seite.
„Okay, das muss aufhören!“, sagte er nach Luft schnappend.
„Ich hab dich auf der Beerdigung von Hanna vermisst.“, sagte sie dann.
„Man hat mir nicht Bescheid gesagt. Ich wusste es nicht.“, erklärte er ihr und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
„Ach, so eine Scheiße!“, rief sie aus.
„Hey, nein, ist schon in Ordnung.“, sagte er abwinkend.
„Ist es nicht. Das ist doch kacke!“, sie fasste sich an den Kopf, „Wie konnten wir vergessen dir Bescheid zu geben.“
„Ihr habt mich vergessen, weil ich Arschloch, mich nie gemeldet hab.“, sagte er, „Euch trifft keine Schuld, glaub mir.“
„Es tut mir so Leid.“, sagte sie nun in einem sehr ernsten Ton und sah ihm in die Augen.
„Ist schon gut, sag ich doch.“, doch auch seine Stimme bekam mit einem mal einen traurigen Unterton beim sprechen, „Du redest von etwas anderem, richtig?“
„Hat man es dir nicht gesagt?“, fragte sie, ihre Augen weiteten sich, „Oh, Tobie...“
„Nein, bitte nicht.“, sagte er tonlos. Sarah biss sich auf die Unterlippe.
„Sie hat sich umgebracht.“, hauchte sie. Tobies Augen starrte ins nichts. Sarah beobachtete ihn, während ihr die Tränen die Wange hinunterliefen. Dann stand sie auf.
„Ich hole dir was zu trinken.“, sagte sie.
„War ich der Grund?“, fragte er leise, bevor sie den Raum verlassen konnte.
„Tobie, ich...“, fing sie an, doch stockte, „Ich hol dir ein Glas Wasser.“
„Lieber Bourbon.“, gab er zurück. Sie verließ den Raum. Allein blieb er im Zimmer zurück. Wieder ganz allein. Er schloss die Augen und weinte.
„Hier ist der gewünschte Bourbon.“, sagte Sarah, als sie den Raum wieder betrat. Schnell wischte sich Tobie die Tränen weg und atmete tief ein und aus.
„Hey, es ist okay.“, sagte sie und legte eine Hand auf seine Schulter.
„Ist es nicht.“, sagte er, „Aber danke.“, er nahm das Glas, stürzte den Drink hinunter, nickte ihr noch einmal zu und verließ dann das Zimmer. Als er zur Treppe laufen wollte, öffnete sich plötzlich eine Tür. Er lief direkt dagegen und fiel zu Boden.
„Das tut mir furchtbar Leid!“, sagte die Stimme einer jungen Frau, „Haben Sie sich weh getan.“
Tobie konnte nicht klar denken, sah das Mädchen vor sich nur verschwommen und kniff mehrmals fest die Augen zusammen. Da stellte sich das Bild plötzlich scharf.
„Hanna?“, fragte er, „Das kann nicht sein.“, das Bild vor ihm verschwamm immer wieder, als würde er es einfach nicht zu fassen kriegen.
„Tobie, ist alles in Ordnung?“, fragte eine bekannte Stimme aus der Ferne. Auf einmal spürte er Wasser im Gesicht und sah wieder klar.
„Schwesterchen?“, fragte er verblüfft ein zweites Mädchen, dass neben ihm kniete, „Und nicht Hanna.“, sagte er zu dem anderen perplex.
„Hey, Bruderherz.“, sagte Alex und lächelte.
„Was machst du hier?“, fragte er und stützte sich auf. Aus seiner Nase lief etwas Blut.
„Ich besuche jemanden.“, antwortete sie, dem ersten Mädchen einen hilfesuchenden Blick zuwerfend.
„Und bezahlst du diese Person dafür, dass du sie besuchen darfst?“, fragte er weiter.
„Ein bisschen.“, sagte sie verunsichert. Plötzlich wurde Tobie wieder schwarz vor Augen und er sackte zurück.
„Warum hast du mir nichts erzählt, hm?“, fragte Tobie, sich an der Wand abstützend, in einem Nasenloch hing ein Taschentuch. Die Geschwister waren allein im Flur.
„Ich wusste nicht wie. Du hast mir ja auch nie gesagt, dass du hetero bist, oder?“, wandte sie ein.
„Das meine ich überhaupt nicht. Sondern, dass du scheinbar Schwierigkeiten damit hast, Frauen kennenzulernen.“, erwiderte er.
„So schwierig ist das im Prinzip gar nicht.“, sagte sie.
„Warum bezahlst du dann welche?“, fragte er weiter.
„Tu ich nicht.“, antwortete sie.
„Eben aber hast du doch gesagt, du bezahlst sie...ein bisschen.“, sagte er.
„Ich bezahle sie. Nur sie, ich gehe zu keiner anderen.“, erklärte sie ihm, „Technisch gesehen, bezahle ich also keine Frauen. Sondern nur eine Frau.“
„Oh Gott.“, stieß er aus, „Meine kleine Schwester ist in eine...Dirne verknallt.“
„Ich bin nicht verknallt!“, rief sie. Er ging langsam die Treppe hinunter und zum Ausgang. Sie folgte ihm missmutig.
„Aber du gehst nur zu der einen?“, fragte er noch einmal nach.
„Ja.“, antwortete sie.
„Und du willst auch keine anderen Frauen kennenlernen?“, machte er weiter.
„Ja.“, kam kleinlaut zurück. Er schüttelte den Kopf.
„Hey, was ist denn mit dir passiert?“, fragte Simon, der am Auto wartete.
„Nicht so wichtig. Sag mal, Hanna, wie ist sie gestorben, was weißt du darüber?“, fragte Tobie zurück.
„Sarah hats dir erzählt, oder?“, sagte Simon nickend, „Es tut mir echt Leid, Kumpel. Keiner konnte so wirklich sagen, wieso sie dir die Schuld gab. Ihr seid doch im Guten auseinander gegangen.“, er kratze sich nervös am Kopf.
„Ich muss kurz telefonieren.“, sagte Tobie und ging ein paar Schritte von den beiden weg. Seine Hände zitterten als er die Nummer eintippte.
„Was willst du?“, kam die wütende Stimme von Julia aus dem Hörer.
„Ich...“, brachte Tobie nur raus, dann stockte er, „Ich...Es tut mir Leid.“, sagte er hastig.
„Was?“, fragte sie.
„Alles. Wie das mit uns auseinander gegangen ist, wie ich mich verhalten hab. Du bedeutest mir alles, auch wenn ich das manchmal nicht so gut zeigen kann.“, sagte er. Die Stimme am anderen Ende blieb für eine Weile stumm.
„Ich vermiss dich.“, sagte sie dann.
„Ich dich auch.“, sagte Tobie und ein Lächeln blitzte auf.
„Wann kommst du wieder?“, fragte die Stimme.
„Ich will mich ändern, okay. Aber ich muss hier zu erst ein paar Dinge klären, also...“, antwortete er.
„Wo bleibst du?“, rief Alex ihm zu, „Wolltest du nicht telefonieren?“
Tobie stand einige Meter entfernt und starrte auf sein Handy. Dann ließ er es wieder in die Hosentasche gleiten.
„Ja, ich komme.“, rief er zurück. Sie stiegen in das Auto und Tobie fuhr. Keiner fühlte sich genötigt ein Gespräch anzufangen.
„Hm, der Polizeiwagen folgt uns nun schon eine ganze Weile.“, gab Alex zu bedenken.
„Oh verdammt!“, rief Tobie aus, „Ich hab getrunken.“
„Was!?“, schrie ihn Alex an, „Verarscht du mich?“
„Es war nur ein Glas Whisky. Jetzt im Nachhinein betrachtet, war es ein recht volles Glas.“, brachte Tobie noch heraus, da ging schon die Sirene an. Fluchend fuhr er rechts ran. Er stieg sofort aus dem Auto. Ein Polizeibeamter kam auf ihm zu.
„Hören Sie, ich sag es gleich. Ich hatte einen schweren Tag. Und vor einer Weile hab ich ein Glas Whisky getrunken, es aber komplett vergessen, eben...wegen des schweren Tages.“, erklärte Tobie.
„Alkohol am Steuer also.“, sagte nun der Polizist, „Ich hätte gerne mal die Papiere gesehen.“, verlangte er harscht, Tobie reichte sie ihm und er überflog sie.
„Tobie.“, sagte er verwundert, „Tobie, Tobie, Tobie.“, wiederholte er.
„Kennen Sie mich?“, fragte dieser verwirrt.
„Ich kannte Ihre Mutter. War eine gute Frau.“, sagte der Mann und gab ihm die Papiere zurück.
„Danke, ich würde das weiter geben, aber nun ja.“
„Ist ein verdammter Jammer.“, sagte der Polizist und musterte Tobie genauer, „Sie sehen mir nicht wirklich betrunken aus. Ein Glas, sagten Sie?“
„Ja, es war ein Glas. Ich bekam eine schlechte Nachricht, was keine Entschuldigung ist, ich weiß, aber wie das eben manchmal so ist.“, erklärte Tobie.
„Als Ihre Mutter gestorben ist, war ich mehrere Tage lang blau. Haben Sie jemanden der weiterfährt?“, fragte der Polizist dann.
„Ja, meine Schwester.“, er zeigte auf den Beifahrersitz, „Woher kennen Sie meine Mutter so gut?“
Der Mann sah abwesend zum Himmel, „Hat mir durch schwere Zeiten geholfen. Aber Ihnen muss ich das wohl nicht sagen.“, erklärte er.
„Sie waren Alkoholiker, nicht wahr?“, fragte Tobie, „Ich erinnere mich, meine Mutter hat mal von Ihnen erzählt.“
„Ja, wie ich schon sagte, ist ein verdammter Jammer, dass sie nicht mehr unter uns weilt.“, gab er knapp zurück, „Grüßen Sie ihre Schwester von mir.“
Der Polizist nickte ihm kurz zu und ging wieder zum Auto. Gedankenverloren stieg Tobie in den Wagen.
„War alles in Ordnung?“, fragte Alex.
„Ja.“, antwortete er nur und ließ den Motor an. Plötzlich klopfte es an das Fenster und der Beamte sah schräg hinein.
„Ach verdammt. Du fährst.“, sagte Tobie zu Alex, dann stieg er aus, „Ich stehe heute wirklich neben mir.“, meinte er entschuldigend zum Polizisten.
„Schon gut.“, sagte dieser und ging wieder zu seinem Auto. Tobie sah ihm hinterher.
„Hey, alles klar? Steigst du heute noch ein?“, fragte Simon durch das heruntergelassene Fenster. Tobie nickte und stieg auf der Beifahrerseite ein.
„Wir setzen Simon an der Schule ab, ich hol mein Zeug aus deiner Wohnung und fahre heute noch mit dem Zug nach Hause.“, sagte Tobie zu Alex.
„Jetzt schon? Ich dachte du willst noch eine Weile bleiben?“, meinte sie verwundert.
„Nein. Ich bin lange genug davon gelaufen. Es wird Zeit etwas zu verändern.“, erklärte ihr Tobie kryptisch.
Ein paar Tage später in Franks Büro
Tobie saß Frank gegenüber und kaute nervös am Daumennagel während Frank, auf seinem Stuhl zurückgelehnt, ein Skript überflog. Nach einer Weile nahm er seine Brille ab und legte die Papiere hin.
„Und?“, fragte Tobie.
„Das ist gut.“, antwortete Frank, dann stand er auf, „Ach Blödsinn. Es ist fantastisch. Es ist hervorragend geschrieben, bildlich. Perfekt umzusetzen, mit wenig Gage und ohne aufwendigen Locations.“, schwärmte er trocken und lief im Büro hin und her.
„YES!“, rief Tobie aus, „Ich war mir nicht sicher, doch das klingt vielversprechend.“
„Aber...“, unterbrach ihn Frank und sah ihn bedacht an, „Wieso?“
„Wie wieso?“, fragte Tobie verwirrt zurück.
„Wieso schreibst du eine komplette neue Serie, wenn du diese Energie auch in die alte stecken könntest.“, fragte er mit Nachdruck und haute leicht auf den Tisch, „Ich kann es nicht glauben. Du gibst unsere Serie...meine Serie einfach auf?“
„Nein, Frank!“, gab Tobie zurück, „Nein, ich arbeite an unserer Serie weiter. Und ich hab auch schon die Staffel fertig geschrieben.“, sagte er und legte Frank ein paar weitere Skripte vor, „Und am Ende hab ich einige Notizen geschrieben, wie man sie allmählich ausklingen lassen könnte. Das große Finale. Du weißt genau so gut wie ich, dass sie es verdient hätte.“
Sie sahen sich für einige Sekunden stur in die Augen. Dann ließ sich Frank erschöpft auf seinen Stuhl fallen.
„Du hast recht. Wie so oft.“, sagte er und nahm sich den Brieföffner, „Und mit deiner neuen Idee hätten wir direkt wieder ein Fuß in der Tür. Ich spreche mit den Verantwortlichen.“
„Danke.“, sagte Tobie und nickte ihm zu.
„Dieses Konzept, es beruht auf deinen Erlebnissen, die du Zuhause gemacht hast, richtig?“, fragte Frank nach.
„Lose. Aber ja, es gab den einen oder anderen Moment.“, Tobie sprach vorsichtig und wich den Blicken Franks bedacht aus.
„Das Mädchen, dass sich wegen dem Protagonisten umgebracht hat?“, Frank redete bestimmt und mindestens genauso vorsichtig.
„Ja, die gab es wirklich, Hanna. Sie litt anscheinend an Depressionen, wie ich von ihren Eltern erfahren hab. Konnte nicht damit umgehen, wie ich mit dem Ende unserer Beziehung umgegangen bin.“, erklärte Tobie, schloss die Augen und atmete schwer.
„Du kannst nichts dafür, Tobie.“, redete Frank sanft auf ihn ein, „Das ist dir doch klar?“
„Mir ist klar, dass ich keine Ahnung hatte, wie sehr mein Verhalten andere verletzt.“, sagte er laut, „Ich bin ein gottverdammter Soziopath!“
„Bullshit!“, rief Frank plötzlich aus, Tobie zuckte zusammen, „Da ist ein Mädchen, die mit dem Ausgang eurer Beziehung nicht zufrieden war, Probleme bekam und sich keine Hilfe suchte. Du bist doch kein Hellseher! Kurz nach eurer Trennung bist du weg gegangen.“
„Mag sein, Frank, aber vielleicht ist das genau das Problem!“, erwiderte Tobie gereizt.
„Gibst du dir auch die Schuld, wenn ich mich morgen aufhänge, weil unsere Serie nicht weiterläuft?“, fragte Frank wütend, „Du kannst nicht in die Herzen der Menschen sehen, schon gar nicht aus dieser Entfernung, wie bei der Kleinen hier.“, er wurde ruhiger beim reden, „Wenn die Menschen nicht wollen, dass wir wissen wie sie sich fühlen, dann werden wir das auch nie raus bekommen.“, erklärte er weiter.
„Sie hat sich nie bei mir gemeldet. Keiner hat das.“, sagte Tobie leise.
„Vielleicht ist das genau das Problem.“, ging Frank auf ihn ein, „Du magst Probleme damit haben, Gefühle zu zeigen, aber denk nicht mal eine Sekunde daran, dass wir nicht wissen, das du welche besitzt! Jemand, der so etwas schreiben kann,“, er zeigte auf die Skripte auf seinem Schreibtisch, „der hat Gefühle.“
„Danke Frank.“, sagte Tobie nach einer Weile, „Julia und ich kommen uns auch wieder näher. Ich versuche meine Rüstung fallen zu lassen. Oder eben mit Worten zu beschreiben, was ich fühle.“
„Du bist einer von den Guten, Tobie.“, sagte Frank abschließend. Dann stand Tobie auf, nickte seinem Chef noch mal zu und ging.
Einige Wochen später
Langsam richtete Tobie sich aus seinem Bett auf und rieb sich die Augen. Er schlief allein. Er schlief jetzt seit drei Tagen allein. Julia hat ihn verlassen, ohne Streit, ohne Drama. Sie gingen eines Tages einfach getrennte Wege. Tobie verstand es. Wieso, wusste er nicht genau.
Er stand auf, zog sich an und machte sich einen Kaffee. Mit der Tasse ging er das Treppenhaus hinunter zum Briefkasten. Er überflog die Briefe, dann ging er vor die Tür. Es war angenehm warm und er genießte für ein paar Minuten die Sonne. Als er sich umdrehte fiel ihm die Tasse aus der Hand.
„Scheiße, Alex? Wie...was machst du hier?“, er lief auf die Gestalt zu, die einen guten Meter vom Eingang entfernt kauerte. Langsam half er ihr hoch, sie lächelte gequält.
„Ich wollte dich gestern Nacht nicht wecken, es war ziemlich spät.“, sagte sie.
„Wie spät?“, fragte er.
„Gegen 3 rum.“, antwortete sie. Sie gingen hoch zu seiner Wohnung.
„Da hab ich noch nicht geschlafen.“, sagte er, „Hast du die ganze Nacht dort draußen verbracht, allein?“
„Ich war nicht allein.“, sagte sie und holte einen Flachmann aus der Innentasche ihrer Jacke heraus, „Ich hatte nette Gesellschaft.“
Er legte sie in seinem Zimmer auf einer Couch ab.
„Verdammt, Alex. Was ist passiert?“, fragte er weiter.
„Das ist kompliziert. Aber mir geht es gut.“, sagte sie beschwichtigend, „Wirklich. Ich kann auch alleine laufen.“, erklärte sie patzig und stand provokativ auf, „Hast du Alkohol im Haus?“
„Ich bin Schriftsteller. Was glaubst du?“, fragte er.
„Du schreibst Drehbücher für eine Serie.“, sagte sie.
„Jetzt für eine Soap. Und keine gute. Alkohol im 2. Fach vom Schrank da hinten. Neben den Schallplatten.“, erklärte er ihr. Sie ging zum Schrank und schaute sich die alten Platten an. Leise las sie die Namen der Bands vor und griff nebenbei zu einer Flasche.
„Ist es nicht zu früh für Bourbon?“, fragte Tobie sie nicht aus den Augen lassend.
„Bist du nicht zu jung für Led Zeppelin?“, fragte sie zurück.
„Guter Geschmack hat nichts mit Zeit zu tun.“, sagte er.
„Wie beim Whisky.“, erwiderte sie und schraubte die Flasche auf, „Was ist bei dir passiert? Ich dachte, du und Julia, das würde wieder laufen?“
Er sah hilfesuchend zur Decke, dann zu Boden, schließlich ging er an ihr vorbei und zog eine alte Platte aus dem Schrank. Vorsichtig pustete er den Staub von dem Cover und legte sie auf – Mötley Crüe.
„Mit Julia ist Schluss. Endgültig. Man denkt, dass man endlich alles genau vor sich sieht. Dass man weiß, was das Problem ist und wie man es behebt. Und wenn man es dann behebt, wenn man sich nur etwas verändert, dann kriegt man alles auf die Reihe. Nun ja, man liegt falsch.“, sagte er, dann nahm er ihr die Flasche aus der Hand und stellte sie zurück in den Schrank, „Was ist mit dir?“
„Ich wollte einmal das Richtige tun. Aufstehen und für meine Liebe kämpfen.“, sagte sie.
„Hat nicht funktioniert, hm?“, meinte er.
„Tut es das jemals?“, fragte sie erschöpft zurück und ließ sich auf das Sofa fallen, „Es ist doch so, das Leben ist nicht besonders kompliziert. Entweder die zwei Menschen, die sich lieben, passen zusammen oder eben nicht. Und dann findet der eine irgendwann seinen passenden Partner und der andere stirbt allein. Und dieses ganze ‚Für jeden gibt es den einzig wahren’ ist doch Bullshit.“
„Die wenigsten Menschen sterben allein. Viele sind verheiratet oder in einer Beziehung.“, gab er zu bedenken.
„Heißt nicht, dass sie nicht allein sind.“, antwortete sie bloß.
„Fuck.“, hauchte Tobie.
„Wieso hat das mit deiner neuen Serie nicht geklappt?“, wechselte sie das Thema.
„Das ist noch nicht raus. Ich hab einen Arbeitskollegen aus der Klemme geholfen. Die wollten Großstadtfiber nicht einstellen und ich hatte nur eine finale Staffel in der Tasche. Einer musste gehen. Also ging ich.“, erzählte er.
„Das ist echt scheiße.“, sagte sie.
„Ja.“, sagte er lächelnd, „Das ist es. Aber das ist es wert. Ich hab schnell einen kleinen Job bei dieser unsäglichen Seifenoper bekommen und nun überleg ich mir was.“
„Deine neue Serie ist das beste was dem hiesigen Fernsehprogramm passieren kann.“, meinte sie, „Die sollten dich beknien.“
„Danke, Schwesterchen.“, sagte er und setzte sich neben ihr auf die Couch, „Sag mir das so oft wie möglich. Damit kannst du mir helfen.“
Sie saßen noch eine Weile auf dem alten Sofa und lauschten der Musik. Beide in ihrer eigenen traurigen Welt vertieft.
„Scheiß drauf.“, sagte dann Tobie plötzlich, „Scheiß auf die Fernsehbrunche. Scheiß auf die Serie. Ich mach aus der Drehbuchvorlage einen Roman. Ich hab gute Beziehungen zu einem Verlag und das war es dann. Die können mich mal.“, dann zeigte er auf sie, „Und du, scheiß auf diese Hure. Verdammt, du bist eine gute Architektin, zieh endlich aus diesem verfluchten Ort weg. Das Ding ist keine Heimat, es ist eine gottverdammte Endstation. Simon, Sarah, Herr Siegmund, dieser Bulle. Scheiß doch drauf. Diese Stadt ist ein Sumpf, der jeden in die Tiefe zieht, der nicht schnell genug raus kommt. Scheiß auf das alles!“
Alex lächelte und fing an leicht zu lachen. Dann immer heftiger. Bald konnte sie sich nicht mehr aufrecht halten und hielt sich den Bauch. Er stimmte leicht mit ein.
„Das ist Bullshit.“, sagte sie dann nach Luft schnappend.
„Ich weiß.“, sagte er lächelnd, „Doch es tat gut, es mal zu sagen.“
„Aber junger Mann, mir gefällt Ihr Enthusiasmus!“, sagte sie förmlich und sie lachten weiter. Dann klang das Lachen ab und sie sahen wieder in die Ferne und ließen sich von der Musik umspielen.
„Wann sind wir zu diesen verbitterten Arschlöchern geworden?“, fragte Tobie abwesend.
„Ich hab keine Ahnung.“, gab Alex zurück, „Was weiß ich, vielleicht hast du auch Recht. Diese Stadt ist ein gottverdammter Anker.“
„Nirgendwo so wie Zuhause, hm?“, sagte er und holte zwei Gläser und die Whiskyflasche aus dem Schrank. Dann schenkte er beiden Gläsern was ein und stieß mit Alex an.
„Darauf kann ich trinken.“, sagte sie, „Wir schaffen das, oder?“
„Was meinst du?“, fragte er.
„Das Leben. Wir kriegen das auf die Reihe, irgendwie, oder?“
Tobie nippte an seinem Glas und dachte kurz nach.
„Ich denke schon.“, sagte er dann. Sie lächelten sich an und tranken aus. Und im Hintergrund lieferten Mötley Crüe mit ihrem Klassiker Home Sweet Home den perfekten Soundrack zu diesem Moment. Manchmal ist es einfach nur dieser Moment. Dieser eine perfekte Moment.