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Nippur-Nuzi – Blunderbluzer, Tod und das Jüngste Gericht
Nippur-Nuzi – Blunderbluzer, Tod und das Jüngste Gericht
Nippur-Nuzi hatte schon viele Namen gehabt, bei denen das Stückchen Erde gerufen wurde. Von dem mächtigen Elbenkönig Harmes wurde sie einst Gardonstadt genannt. Zwerge kannten sie als Nebendemberg (häufig auch als Scheißstadt, da sie wie ein Haufen neben dem Berg lag). Und Menschen bezeichneten sie als Nippur am Eufrat und Nuzi am Tigris, doch das ist Tausende Jahre her und es wird noch mindestens doppelt so lange dauern, bis sich die Zeiger der allgegenwärtigen Eieruhr wieder in dieser Position befinden.
Bis dahin bleibt alles so, wie es noch nie war: die Bewohner von Akko Akkribes, dessen Hauptstadt eben das schon viel benannte Nippur-Nuzi ist, tauschen Waren auf Märkten und Häfen, Pferdeherren reiten durch das Land, um nach Recht und Ordnung zu sehen und die Nippur-Nuzi Stadtwache ist wieder dabei, Diebe, Mörder und sonstige Hallunken zu fangen und sie Gott zu überlassen. Und Gott, der von 99 % der Bevölkerung als sehr guter und einem Prozent als guter Bürgermeister betrachtet wird (zumindest nach der neuesten Stadtumfrage, die angesichts der Allmächtigkeit Gottes häufig in Frage gestellt wird), beruft einmal in der Woche das Jüngste Gericht ein, um die dunklen Seiten der Gesellschaft zu bestrafen.
„Bitte erheben Sie sich für den Richter!“ sagte der Junge, der mit anderen seiner Altersgenossen hinter einem langen, hölzernen Tisch stand. Sie mussten auf Zehenspitzen stehen, um über die Tischkante zu sehen. Ihre weißen Perücken mit den übertrieben langen Kotletten hüpften bei jedem Versuch das Gleichgewicht zu halten, munter hin und her.
Die Anwesenden des ehrwürdigen Gerichtssaal hielten den Atem an. Gleich würde der Richter eintreten, groß und mächtig und schicksalsentscheidend für das Leben von Menschen, Zwergen oder Elben, Bonabas, Zombies oder Orks, Troll, Dämon und was auch immer.
Doch nichts geschah, nur ein Räuspern war zu hören. Der Junge, der kaum seinen Windeln entwöhnt worden war, verdrehte die Augen. Er holte tief Luft und sagte dann, mit einem Ton, der... nun, sagen wir, wenn die Stadt mit dem Enthusiasmus in seiner Stimme heizen müsste, würde sie lediglich bis Ende September überleben. Jedenfalls sagte der Junge: „Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir, das jüngste Gericht!“
Urplötzlich ging das Licht aus und ein Scheinwerfer markierte einen Punkt im Saal hinter den Jungen. Eine etwas zögerliche Gestalt trat hinein. Sie hatte Schultern und Schwanz angezogen und den Kopf schüchtern gesenkt. In der Hand hielt es ein Tablett und darauf war ein Teller serviert und darauf war ein Ei, das eine eigenartig braune Farbe aufwies. Dem Ei war eine Miniaturkochmütze aufgesetzt. Die Anwesenden des Gerichtssaals murmelten ratlos und fragten sich, welche Metapher sie nun wieder nicht verstanden. Da erlöste sie eine unendlich weise und gütige Stimme aus dem Off: „Mann, das ist wirklich das jüngste Brathuhn, das ich je gesehen habe!“
Die Jungen mit den zu großen Perücken sahen sich peinlich berührt an und erst als das „Lachen“-Schild über ihren Köpfen aufleuchtete und das Publikum in tobenden Lachapplaus ausbrach, atmeten sie aus. Da trat Gott lachend und applaudierend hinter den Jungen hervor, sagte: „Applaus für das jüngste Gericht!“ und klopfte dem armen Teufel, der es präsentieren musste, aufmunternd auf die Schulter.
„Aber Spaß beiseite!“ beschloss Gott und wischte sich eine Lachträne von den Augen. „Ihr seid das Jüngste Gericht, Burschen, und niemand kann euch euren Rang streitig machen!“ Die Jungen schmunzelten unsicher und versuchten, sich in ihre Hochstühle hinaufzusetzen. Diesmal schafften sie es, dass nur drei Perücken zu Boden fielen, nur einer seinen Brei verschüttete und keiner, nach seiner Mutter weinte. „Setzt euch nur alle und fühlt euch wie zu Hause!“ Gott setzte sich grinsend und sichtlich zufrieden mit seiner selbst ausgedachten Show (die übrigens 99% der Bevölkerung nachher als „sehr gelungen“ und 1% als „gelungen“ bewerteten).
„Werter Richter“, sagte einer der Jungen mit mehr Erhabenheit als man einen gewöhnlichen Dreijährigen ursprünglich zutrauen mochte. „Kommen wir nun zu unseren ersten Fall. Es geht um Siegfried Blunderbluzer.“
Diesem Worten folgte das öffnen der Tür und zwei Beamte führten den Beschuldigten herein. Er musste auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes Platz nehmen. Die Menge öh-te und ah-te angesichts des stadtbekannten Massenmörders. Da stand Gott auf und blickte tief auf den Sünder herab. „Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Knecht?“
Siegfried Blunderbluzer, der bei den Menschen als „Elbenschlächter von Hanfstadt“ und bei den Zwergen, etwas abgeschwächter, als „blöde Sau“ galt, sah ohne Reue empor und sagte: „Es war mir ein Vergnügen, diese Wichser abzuschlachten, Herr.“
Gott runzelte seine Stirn in unendliche Falten und nickte wissend. „Nun, wenigstens bist du ehrlich. In den Geboten steht du sollst nicht töten, aber auch, du sollst nicht lügen. Es steht somit 1:1.“ Die Jungen, die um Gott saßen, sahen sich verwirrt an, während das Publikum einsichtig nickte. Gott sprach weise und weiter: „Nun, dann fahren wir fort. Was hast du nach deinem ersten Mord getan. Hast du Buße getan?“
„Ich habe meinen Eltern den Kopf des Elben als Geschenk gemacht.“ Herrn Blunzenbluzers Augen verdunkelten sich angesichts der Erinnerung an diese Tat. Es machte ihm immer Spaß, sich zu erinnern.
„So sei es, Knecht Blunderbluzer! Es hat sich entschieden, denn ich sehe, wer du wirklich bist. Du hast einerseits die Wahrheit gesagt, andererseits aber auch gemordet. Nun ist die Entscheidung gefallen: Du ehrst deinen Vater und deine Mutter. Es steht 2:1. Der Gefangene ist frei! Es sei dir vergeben.“
Die Menge verabschiedete den neuen Freien mit tobenden Applaus. Zwar konnte keiner die Entscheidung Gottes vollends begreifen, aber schließlich war auch Er der Gott und nicht sie. Sektor C gelang es sogar, eine Welle zu machen. Beim Hinausgehen winkte Siegfried Blunzenbluzer Oberwachtmeister Karmen von der Nippur-Nuzi Stadtwache zu. Dieser erwiderte den falschen Gruß jedoch nicht. 10 Jahre bei der Wache hatten ihn anders gemacht als den Rest der Bevölkerung. Er war der einzige im Saal, der nicht in den Jubel einstimmte und auch der einzige, der ganz genau wusste, dass er den Schlächter von Hanfstadt wieder sehen würde.
„Wer ist der nächste?“, fragte Gott und setzte sich mit einem gerechten Schmunzeln zurück in seinen Stuhl.
„Ein gewisser Herr Hader, Herr“ sagte einer der Jungen.
„Wie lautet sein Verbrechen?“
„Blasphemie.“
„Uijujui!“ Gottes Stimme wurde nachdenklich. „Oh, ja, das kenn ich. Am Anfang meiner Karriere als Gott und Herrscher über alles Leben auf dieser Erde – es kommt mir wie eine Ewigkeit vor – da gab es eine Zeit, an der ich fast der Blasphemie verfiel. Aber schließlich und endlich glaubte ich an mich selbst, tat es einfach und siehe da, ich erschuf die Erde.“ Gott runzelte verträumt die Stirn und seufzte. „Wie auch immer, bringt den Gefangenen herein!“
Gott verurteilte den Schuldigen zu insgesamt 10 Jahren ständiges Ave Maria Beten und einem Vater Unser. Der Verurteilte hatte sich dies aber selbst zuzuschreiben, schließlich maß er sich an, Gott zu fragen, warum er nicht alles Leid auf der Welt linderte, wenn er denn wirklich allmächtig war und wenn wir schon dabei sind, wenn er schon alles und jeden erschuf, warum erschuff er dann auch Blasphemisten, nur um sie später zu verurteilen. Gott hatte natürlich eine Antwort parat, die aber so unendlich weise war, dass sie von niemanden in der Menge verstanden wurde. Oberwachtmeister Karmen schüttelte schließlich den Kopf und beschloss, dass es zumindest für ihn, nichts zu verstehen gab.
Der Tag wurde schließlich mit einer weiteren Freilassung (einen Unzüchtigen, der jeden liebte wie sich selbst) abgerundet und das anschließende Buffet bestehend aus Brot und Wein eröffnet. Für Gott war das Jüngste Gericht wieder mal ein voller Erfolg und er bereitete schon Maissamen für seinen nächsten Eröffnungsgag vor.
Später am selben Tag kam Oberwachtmeister Karmen mit seinem Kollegen Wachtmeister Klu ins Gespräch. Sie waren gerade unterwegs zu einem Tatort.
„Sag einmal Klu, warum spricht Gott einen Massenmörder ohne weiteres frei, verurteilt aber einen, der noch nie jemanden etwas zu leide getan hat?“
Wachtmeister Klu, der der bravste, ehrlichste und loyalste Mensch in ganz Nippur-Nuzi war, überlegte lange und sagte dann: „Vielleicht ist es manchmal besser, jene auf den richtigen Weg zu schupsen, die noch nicht soweit abgekommen sind, als jene, die sowieso schon verloren sind. Vielleicht klingt das jetzt nicht besonders intelligent, aber als Kind bestrafte mich meine Mutter von all meinen Freunden immer am härtesten, weil sie sagte, dass bei mir noch nicht alles verloren sei. Und siehe da, aus mir ist etwas geworden.“
Karmen sah seinen Freund und Kollegen an und versuchte sich vergebens vorzustellen, wie dieser als Kind Steine gegen Fenster warf und Kuchen von Fensterbrettern stahl.
„Heißt das, wenn ich schon etwas schlimmes anstelle, dann etwas richtig schlimmes, etwas, das ich eh nicht mehr gut machen kann? So kann ich wohl jeder Strafe entgehen...“
„Hm...“, antwortete Klu, „wenn du es so willst, ja.“
Sie gingen noch ein wenig schweigend neben einander her, als sie schließlich am Tatort ankamen. Ein sichtlich verstörter Elb saß am Straßenrand, seine spitzen Ohren hingen vielsagend hinunter und in seinen zittrigen Händen hielt er ein Glas Wasser. Neben ihm stand eine gebrochene Kutsche, vor die zwei Pferde gespannt waren.
„Grüß Gott!“, sagte ein Zwerg unter ihnen. Karmen und Klu erwiderten den Gruß. Dann fuhr der Zwerg fort: „Ein schrecklicher Unfall. Dieser Elb da hat einen Menschen zu Tode gefahren, und ihm ist nichts passiert.“
„Welch ein Glück nicht wahr?“, sagte Karmen übertrieben deutlich und sah zu dem zitternden Elben, der mehr Wasser verschüttete, als trank. „Wer ist das Opfer?“
Der Zwerg antwortete mit einem desinteressierten Schulterzucken. „Aber eins weiß ich, wenn man den Elben nicht lebenslang einsperrt, will ich nicht Gröll Felsenstummel heißen!“
„Das würde ich auch so nicht wollen“, sagte Karmen undeutlich, bedankte sich beim Gefreiten Felsenstummel und ging zu dem Toten. In der Ferne hörte er, wie Klu bereits begonnen hatte, den Elben zu vernehmen. „Es tut mir so leid! Ich wollte es nicht!“, hörte er ihn jammern. „Er ist auf einmal auf die Straße gesprungen! Meine Pferde, meine teuren Pferde, haben nicht angehalten. Sie sind noch schneller geworden, und dann hat mein Wagen... mein Wagen hat ihn...“ Mit einem Heulanfall ging das Verhör zu Ende.
„Nette Geschichte“, dachte Karmen. Auf der Straße war jede Menge Blut, trotzdem war das Gesicht des Toten erkennbar. Jeder, der ihn gekannt hatte, hätte ihn identifizieren können. Ja, auch Karmen kannte den Toten. Er hielt sich grübelnd die Hand vor den Mund.
„Ach, Oberwachtmeister Karmen? Hallo! Ja hier! Das hier hab ich am Tatort gefunden. Ein etwas komischer Ort für eine Armbrust, aber vielleicht wollte der Elb da den Menschen zuerst erschießen, bis er sich entschloss, ihn doch zu überfahren.“ Gefreiter Felsenstummel hielt die Waffe näher zum Gesicht und bewegte seine Lippen dabei. „Wenigstens weiß ich jetzt wie der Elb heißt: Flunderflutzer. Da steht’s eindeutig: ,Für den größten Verbrecher aller Zeiten: Flunderfluza´ Seltsamer Name für einen Elben.“
„Das heißt Blunderbluzer“, verbesserte Karmen. „Und das ist nicht der Name des Elben.“ Er nahm Felsenstummel die Waffe aus der Hand und sah zum Himmel hinauf, dem höchsten Gebäude von ganz Nippur-Nuzi. „Komischer Sinn für Gerechtigkeit“, dachte er und ging. „Wir sehen und auf der Wache“, rief er zum Abschied. Sein Tag war für heute gelaufen.