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Nine-Eleven
Als ich am Morgen des elften Septembers 2001 den Nordturm des World Trade Centers betrat, war ich guter Dinge.
Im einhundertzehnten Stockwerk sah man das anders. Eine Katastrophe war geschehen, und Paul suchte nach einem Verantwortlichen, dem er die eigenen Fehler in die Schuhe schieben konnte.
Schon, als ich das Büro betrat, überkam mich dieses merkwürdige Gefühl, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde.
Paul hatte sich die Krawatte über den Rücken geworfen und den Knoten gelockert. Tellergroße Flecken verdunkelten das Hemd im Achselbereich, und dann sah er mich an, deutete mit dem Zeigefinger in Richtung meiner Bauchgegend, holte tief Luft und spieh mir ein nicht sehr förmliches Sie! entgegen.
Katastrophaler konnte es kaum kommen.
"Johnson ... durch Ihre Unfähigkeit haben wir über Nacht eine halbe Million in den Sand gesetzt."
Die Blicke der Kollegen suchten irgendetwas, mit dem sie sich beschäftigen konnten. Nur diese Szene zwischen Paul und mir, die sollte es nicht sein. Die alte Geschichte vom Strauss, der den Kopf in den Sand steckt, in dem Glauben, sich damit unsichtbar zu machen.
Linda glotzte auf das schwarze Brett. Eric besah sich den an der Wand hängenden Flachbildschirm, der die Tagesziele wie ein Damoklesschwert über dem Betriebsklima zittern ließ, und Paula starrte aus dem Fenster, als würde sie erwarten, dass gleich ein Flugzeug dadurch geflogen käme.
"Ich verstehe nicht ganz, was Sie ...", machte ich den Anfang, ein wenig Beruhigung in die angespannte Lage zu bringen.
"Myers & Miller! Sie haben abgestoßen! Sie haben ... was für ein Unglück ... oh Gott, was für ein Riesenunglück!"
Soweit ich mich erinnern konnte, hatte Paul mir über die Aktien freie Befugnis erteilt, und mit einem kameradschaftlichen Schulterschlag vor den Pinkelbecken hatte er mir zum Verkauf geraten, aber dies sei ja schließlich meine Entscheidung.
Und nun stand er da, die Arme in den fetten Hüften verschränkt, und gab mir die Schuld für den plötzlichen Anstieg der Papiere.
"Wissen Sie, was ein Fundament ist, Johnson", fragte er, ehe ich ihn darauf hinweisen konnte, dass es im Grunde seine Idee gewesen war, die Aktien abzustoßen.
Wie ein verschämtes Kind schüttelte ich den Kopf und sah zu Boden.
"Ich will es Ihnen erklären: Ein Fundament ist etwas, worauf man baut, das sich nicht erschüttern lässt, wie dieser Turm hier. Es ist etwas Massives; und bloß, weil für einige wenige Stunden mal kurz die Fassade bröckelt, springt man nicht gleich ab, und gibt alles auf. Verstehen Sie das, Johnson?"
Ich nickte.
Paul sah auf seine Rolex.
"Grundgütiger! Schon acht Uhr 45. Ich muss in fünf Minuten im Hundertsten sein. Wir sprechen uns später, Johnson. Ich werde jetzt mein Notebook aus dem ..."
Der Boden unter meinen Füßen zitterte, die Lautstärke der Explosion hinterließ ein Piepsen in den Ohren.
"Ach du Scheiße, was war das denn?"
Ich verkniff mir die Aussage, dass Myers & Miller vielleicht gerade noch weiter gen Himmel anstiegen, und eilte wie alle anderen zum Fenster.
"Da unten brennt es ja", stellte Paul in seiner unnachahmlichen Genialität fest.
"Verdammte Gasexplosion. Schwarz-Afrikaner zum Hausmeister machen. Tolle Idee. Dann fällt das Meeting wohl aus."
Rauschend schalteten sich die Lautsprecher ein. Eine sanfte, fast liebliche Frauenstimme erklang: "Achtung. Es ist eine leichte Gefahrensituation eingetreten. Die Feuerwehr ist alarmiert. Bitte bleiben Sie an Ihrem Arbeitsplatz. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung."
Paul klatschte in die Hände.
"Ihr habt gehört, was die Bandansage gesagt hat. Alle Mann zurück an die Schreibtische. Wir haben hier heute schon genügend Desaster gehabt. Hoffentlich springen die Feuermelder hier oben nicht an, ich reagiere allergisch auf diese schrillen Töne."
Unkoordiniertes Gemurmel breitete sich aus.
"Kommt ihr auch nicht mehr ins Internet?" - Ich erinnerte mich daran, dass Linda eine Auktion bei E-Bay laufen hatte.
"Ich glaub, der Server ist down. Eigentlich wollte ich ja heute pünktlich raus!" - Eric schleuderte wutentbrannt einige Dosen von der Arbeitsfläche.
"Was meint ihr, warums da unten brennt?"
"Ihr habt den Chef doch gehört!"
"Da war aber vorher so ein Zirpen."
"Ich zirp hier auch gleich rum."
"Macht mal das Radio an."
"Da läuft nichts, wie auch, ist doch erst eine Minute her. Meine Güte, nervt eben halt rum."
"Ob jemand umgekommen ist?"
"Hoffentlich ein paar von der Credit Plus Bank. Dann muss ich deren Visagen im Fahrstuhl nicht mehr ertragen."
Die Tür wurde von innen aufgeschleudert.
"Johnson. Jetzt hätte ich Zeit für Sie!"
Die Minibar war geöffnet. Paul selbst sah aus wie immer. Wie eine leere Minibar, die sich selbst ausgetrunken hat.
"Sie brauchen jetzt nicht zu denken, dass nur, weil es hier ein kleines Feuerchen gibt, ich Sie nicht ganz nach unten befördern kann."
"Paul, Sie sollten wissen, es war eine ..."
"Unsinn! Sie sind raus, Johnson. Nehmen Sie die Treppe. Der Lift darf wohl nicht benutzt werden, obwohl es passend wäre; so schnell, wie Ihr Abstieg jetzt gekommen ist ... riechen Sie das? Es riecht verbrannt!"
Ich roch es ebenfalls.
Dichter Qualm drang durch die Tür in den Raum.
Paul sprang vom Sessel auf.
"Na, das ist ein Grund für die da draußen."
Schneller, als meine Pupille folgen konnte, stand er wieder im Großraumbüro.
"Es wird weiter gearbeitet, und wenn wir hier bis heute Nacht sitzen müssen. Eine halbe Million, ist eine halbe Million. Und jetzt Johnson ... raus mit Ihnen!"
***
Ironischerweise verlief Pauls Abstieg schneller als meiner.
Ob er da noch irgendwo hoch oben auf dem Rest der Fassade steht?
Es hätte ihn sicherlich gefreut, dass die Myers & Miller Aktien heute abgestürzt sind.
Obwohl ... an einen Absturz würde er jetzt wohl nicht wirklich gerne denken.