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Ninas-Echo
„... und was hast du gemacht?“
„Ich habe auf seine email geantwortet, Nina“, erzählt meine Freundin Tina weiter. Eigentlich heißt sie Christina, ist 1.80 groß und wiegt 120 Kilo. Wir kennen uns seit dem Kindergarten. Sie hat mir immer alles nachgemacht. Sie wollte ständig nur das spielen, was ich wollte und dahin gehen, wo ich hinwollte. Seit dem Kindergarten hieß sie nur noch Ninas-Echo. Wir sitzen in einem kleinen Restaurant, bei unserem traditionellen Treffen.
Ich treffe mich mit Tina jeweils am letzten Freitag im Monat. Das ist mein privates Engagement. Mehr kann ich momentan für sie nicht tun. Ich bin verheiratet und habe drei Söhne. Ich fühle mich verpflichtet aus menschlichen Gründen mich mit Tina wenigstens ein Mal im Monat zu treffen.
„Wenn ich das nicht machen würde, würde es keiner für sie tun“, sage ich ständig meinem Mann Christian.
Tina geht alleine nie aus und hat deswegen keine Chance jemanden kennenzulernen. Aus diesem Grunde gehe ich mit ihr. Allerdings wenn wir zusammen sind, starren Männer nur mich an. Aber was kann ich dafür?
Ich war schon immer sehr attraktiv. Tina dagegen war immer das größte und dickste Mädchen von Allen und somit die perfekte Zielscheibe für alle Arten von Klassenclowns. Jeder konnte mit Tina-Scherzen punkten. Sie schien aber nie wirklich beleidigt zu sein. Tina hat den harmlosesten Charakter auf der Welt. Sie ist mit allem einverstanden und wird nie jemandem „nein“ sagen, weshalb sie oft ausgenutzt wird. Sie ist diejenige, die am Weihnachten oder Feiertagen garantiert die Schicht übernehmen wird. So war das bei dem letzten Oktoberfest zum Beispiel, als wir mit Christian weggehen wollten. Tina hatte plötzlich eine Schicht aufgedrückt bekommen. Ich war dermaßen enttäuscht.
Wenn wir mit meinem Mann ausgehen wollen, macht Tina immer freiwillig das Babysitten bei uns. Meine Jungs freuen sich wie verrückt, wenn sie kommt. Das ist sogar ein bisschen peinlich. Mein Mann wollte Tina als Patin für unseren kleinsten Sohn haben, aber ich fand das ziemlich übertrieben. Das ist doch eine große Verantwortung. Man darf es nicht jedem Beliebigen anbieten.
Dann hatte mein Mann noch eine verrückte Idee gehabt. Ohne mich zu fragen, hatte er Tinas-Anzeige im Portal für Partnersuche inseriert. „Was soll denn daraus werden?“, habe ich ihn danach gefragt. „Ich halte nichts von diesen Internetbekanntschaften! Und außerdem bezweifle ich, dass ihr überhaupt jemand schreiben wird.“
Und dann kam es so, dass sie tatsächlich angeschrieben wurde.
„... und was hat der Typ dir vorgeschlagen?“, will ich alles genau wissen. “Ich hoffe nichts Unanständiges?“
„Nein. Er hat mich eingeladen, zusammen Silvester zu feiern. Im Berlin. Vor dem Brandenburger Tor.“
„Verrückt“, murmele ich. „Du bist doch nicht nach Berlin ...“, ich schaffe den Satz nicht zu Ende, als Tina mit dem Kopf nickt.
„Ja, klar“, sagt sie mit ihrem ewigen dümmlichen Lächeln „ich bin nach Berlin gefahren.“
Ich bestelle zwei Cocktails. Tina trinkt nicht. Während ich ihr zuhöre, fließt jede Menge Alkohol durch den dünnen Strohhalm in mich rein. Ich winke ihr mit der Hand, damit sie weiter erzählt.
„Ich habe das Ganze-Tag-Ticket gekauft und bin gefahren. Weißt du, ich dachte, wenn wir uns nicht treffen, kann ich wenigstens mit demselben Ticket zurück. Das ist doch 24 Stunden gültig."
Ich nicke, ohne den Strohhalm aus dem Mund zu nehmen.
„Also bin ich: 7 Stunden gefahren, 4-mal umgestiegen, in einem Zug eingeschlafen, den Anschluss verpasst ... aber gut. Um 23:30 stand ich an unserem Treffpunkt.“
„Wo war das denn?“
„An der dritten Laterne auf der rechten Seite, wenn man auf das Brandenburger Tor schaut.“
„Wie dämlich!“, fällt mir nur dazu ein. „Wie hast du denn ihn überhaupt erkannt? Ihr habt doch euch vorher nicht gesehen?“
„Nein. Ich habe ihn auch gar nicht erkannt. Er hat mich erkannt. Christian hat doch mein Foto in der Anzeige veröffentlicht.“
„Echt? Das wusste ich nicht. Wie sah denn der Typ aus?“, Alkohol strömt die Adern entlang und ich muss mein Jackett ausziehen. Es ist sehr warm geworden.
„Ah, eigentlich ganz gut. Er hat sich sehr genau beschrieben.“
Tina holt ein gefaltetes Blatt aus der Tasche. Ich erkenne das Logo vom Partnersuche-Portal. „Ein Mann 1.82 groß, stämmig, dunkelbraune Haare, blaue Augen.“
„Sollte etwas größer sein als du“, rechne ich nachdenklich. Tina schaut mich unschuldig mit ihren Kuhaugen auf.
„Nein, in Wirklichkeit ist er etwas kleiner als ich und eher schlank. Aber er hat tatsächlich blaue Augen!“, fügt sie schnell hinzu.
„Dann hat er dich belogen!“, stelle ich fest.
„Eigentlich nicht. Er sagte, er wollte größer wirken, weil er mich sehr attraktiv fand.“
Ich verschlucke mich und Tina klopft mit ihrer Riesenpranke sanft auf meinen Rücken, bis ich aufhöre zu husten.
„und dann...“, meine Stimme klingt jetzt wie ein Krächzen.
„Dann haben wir uns geküsst.“
„Einfach so?“
„Ja, einfach so. Es war sehr schön! So viel Menschen zusammen! Alle glücklich! Alle haben laut gesungen und gelacht und um 0 Uhr haben wir uns geküsst.“
Bilder reihen sich in meinem Kopf und ich brauche ein weiteres Getränk, um der Geschichte zu folgen. Mit einer Kopfbewegung fordere ich Tina auf fortzufahren.
„Und dann kamen wir zu ihm.“
„Wohnt er etwa im Berlin?“
„Nein. Aber er hat ein Zimmer gemietet. Im Internet kann man jetzt eigene Wohnung vermieten, wenn man verreist und so kamen wir in diese Wohnung. Da standen zwar die fremden Sachen, aber …“
„Bist du völlig übergeschnappt? Du kamst in eine völlig fremde Wohnung mit einem völlig fremden Mann??“, meine Stimme ist nur ein Zischen.
„Ja“, sagt meine leichtfertige, ahnungslose Freundin.
„Seid ihr wenigstens allein gewesen?“, frage ich verdächtig.
„Nein. Da war noch ein Pärchen im zweiten Zimmer. Aber ich habe sie nicht gesehen, nur gehört.“ Tina lächelt auf, wobei bei ihr es eher, wie ein Wiehern klingt.
„Sie haben sich die ganze Zeit geliebt.“, wiehert Tina noch einmal.
Ich kann das nicht mehr aushalten.
„Tina. Du bist so naiv! Wie kannst du dich in solche Situationen bringen! Er könnte ein Krimineller sein oder ein Zuhälter.“
„Ist er aber nicht. Es war alles sehr, sehr schön. Wir hatten auch Sex und es hat alles gestimmt.“
Ich kriege plötzlich keine Luft. Meine Kehle fühlt sich eingeengt, als ob mich jemand würgt. Was mischen sie denn nur in diese Cocktails? Ich bestelle ein Martini.
„Das war doch dein erstes Mal!“, behaupte ich eher, als frage und denke dabei an mein erstes Mal, das alles andere als schön war.
„Ja“, stimmt Tina leicht zu. „Das habe ich ihm auch gesagt. Er war so zart und liebevoll.“
„Ist er gut bestückt?“, platzt aus mir heraus, eher als ich denken kann.
„Er hat so einen ...“, mit einer typischen Anglergeste gehen Tinas große Hände weit auseinander, „Nein so …“. Sie schaut nachdenklich und die Hände gehen noch ein Stückchen weiter auseinander.
Der Schweiß fließt mir den Rücken hinunter. Die Heizung muss bestimmt kaputt sein in diesem dämlichen Laden. Ich kann nicht mehr warten und erzähle Tinas Geschichte weiter.
„Und am Morgen bist du dann nach Hause gefahren.“
Tina ist mit mir einverstanden, wie denn sonst?
„Ja, am Morgen haben wir uns am Bahnhof verabschiedet.“
„... aber er hatte leider keine Nummer von dir geholt“, fahre ich fort.
„Nein hat er nicht“, nickt sie enttäuscht und fügt hinzu, “aber ... er hat mir seine gegeben ...“
„Und die Nummer war falsch!“, ergänze ich triumphierend.
„Und die Nummer war falsch“, hallt mir Tina nach.
Seit dem Kindergarten hat Tina nur eins gelernt: mein Echo zu sein.
„Das habe ich mir doch gedacht!“ sage ich laut und verschränke die Hände vor der Brust.
„Du bist dumm, Tina! Er hat dich benutzt! Es hätte noch viel schlimmer enden können!“
Jetzt, wo alle meine Sorgen, um meine unbedarfte Freundin bestätigt haben, rede ich ununterbrochen. Ich rede und rede und kann mich gar nicht bremsen. Als ich fertig bin, sagt Tina ruhig:
„Aber es ist noch nicht zu Ende. Er merkte schnell, dass er beim Diktieren sich vertan hat und schrieb mir eine email mit der richtigen Nummer“, Tina lacht verlegen und zum ersten mal sagt sie etwas völlig Unerwartetes.
„Er kommt morgen. Er will mich sehen.“
Etwas platzt in meinem Kopf, wie eine Wasserbombe und dicke Tränen strömen über mein perfektes Make-Up. Tina streichelt meinen Kopf und sagt mit weicher, leiser Stimme, mit der sie meine Jungs immer beruhigt kriegt. „Ist schon gut, Nina. Du musst nicht weinen. Alles ist gut.“
Trotzdem muss ich weinen und ganz laut sogar. Ich verstehe das selber nicht. Es stimmt doch alles in meinem Leben! Ich habe einen Mann, den ich ausgesucht habe, ein großes Haus und drei Kinder. Alles, was ich mir gewünscht habe! Warum weine ich denn jetzt auf der Schulter von meiner dummen, dicken, hässlichen besten Freundin?