Nimm' die Maske nicht ab!
Schon wieder nur 2 Punkte. Rebecca sinkt auf ihren Stuhl zurück. In ihrem Bauch fängt an sich ein Klumpen zu formen. Sie fühlt, wie die Tränen ihr in die Augen steigen. Sieht starr aus dem Fenster, möchte an etwas Schönes denken um sich vor dem Kurs nicht die Blöße zu geben auch heulen. Sie weiß, dass es wichtig ist, sich keine Gefühle anmerken zu lassen. „Kann ich mal auf die Toilette?“ Sie sperrt sich in eine Zelle ein, setzt sich auf den Deckel, stützt den Kopf auf den Armen ab. Langsam beginnt sie zu weinen. Der Klumpen im Magen beginnt sich aufzulösen. Sie versucht keinen Laut von sich zu geben, damit niemand ihren Schmerz mitbekommt. Die Anderen würde sie eh nicht verstehen. Langsam geht es wieder. Sie geht zu den Waschbecken, lässt sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Noch schnell die verwischte Wimperntusche wegwischen und zurück ins Klassenzimmer. Nur nicht auffallen.
13 Uhr: Rebecca packt rasend schnell ihre Stifte und Ordner in die lederne Umhängetasche und läuft zur U-Bahn. Wenn sie diese nicht bekäme wäre sie zu spät im Laden. Sie hat Angst gekündigt zu werden. In der Métro sucht sie nach einer Kopfschmerztablette in der Tasche. Ihr Blick fällt auf die Klausur, wieder wird ihr schlecht. Am liebsten wäre sie alleine. Würde weglaufen. Aber sie muss ihr Abitur bestehen. Sie ist der Außenseiter in ihrer Familie, die Eltern leben von der Sozialhilfe, ihnen ist ihre Ausbildung zu teuer. Jessica, Sven und Marcel sind auf der Hauptschule bzw. machen eine Ausbildung. Jan geht zur Sonderschule. Endstation! Sie läuft aus der Tür, über die Rolltreppe.
Nach 6 Stunden am Gemüsestand für 5€ die Stunde sitzt sie wieder in der U-Bahn nach Hause. Für was macht sie das alles? Ihr Magen knurrt, den ganzen Tag nur ein Mars und einen Apfel. Auf dem Weg von der Station zum Block macht sie einen Umweg um noch in einer Boutique ein T-Shirt für 50€ zu kaufen. Die anderen Mädchen in der Schule unterhielten sich darüber, es sei so trashig. Sie musste es haben, vielleicht denken sie dann nicht mehr dass ich so arm sei. Die Eltern dürfen nicht erfahren, dass sie sich so ein teures neues Shirt gekauft hat. Sie sperrt die Tür auf, 13. Stock, riecht den Gestank von abgestandenem Zigarettenrauch und Alkohol. Ihre Mutter kommt auf sie zu, brüllt sie an, kreischt, was sie doch für eine Schlampe sei, sich nach der Schule so lange herumzutreiben. Rebecca geht in ihr Zimmer, das sie sich mit zwei weiteren Geschwistern teilt. Versteckt das Shirt hinter dem Schreibtisch. Sie geht ins Badezimmer, hat ein Loch im Bauch. Hunger. Als sie sich im Spiegel betrachtet: Augenringe, hört sie ihren Vater rufen. Sie geht aus dem Bad, schon an dem Ton erkennt sie dass er wütend ist. Er steht unter der Tür zur Küche. Rebecca erkennt ihre Klausur in seiner linken Hand, die leuchtend roten 2 Punkte. Sie duckt sich, weiß was jetzt kommt, nimmt die Arme über den Kopf, wimmert, geht zu Boden.
(ms, 28.01.2002)
[Beitrag editiert von: Poetna am 29.01.2002 um 14:00]