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Nikotinschock
Der Nikotinschock
Sie rauchte. Man konnte sogar behaupten, das sie gerne rauchte und auch aus gutem Grund. Sie hatte das Patentrezept für ungestörtes Träumen gefunden.
. Denn Rauchen war das einzige, was ihr Vater wirklich respektierte, wobei er sie nicht störte, nicht für sich einzuspannen versuchte. Und das nutzte sie aus.
Damals zog sie noch gar nicht so richtig an der Zigarette. Sie hielt sie zum Schein, als Schutz. Endlich hatte sie die Zeit, die sie brauchte, um ein Phantasiebild immer plastischer werden zu lassen, es in die Realität zu holen.
So saß sie an einem Frühlingstag auf dem von der Sonne erwärmten Teerdach und lauschte in den trostlos wirkenden Garten. Vögel zwitscherten, und es schien, als legten sie ihre ganze Liebe und Lebensfreude in diesen Gesang. Sie sah, wie sich die zerbrechlichen Blütenknospen der ersten Schneeglöckchen dem Licht entgegenstrecken.
Auch in sich fühlte sie die Sehnsucht nach Licht, nach dem Wissen um ihr Woher und Wohin erwachen. So wanderten ihre Blicke unstetig umher und blieben gedankenverloren an einem Apfelbaum nahe der Mauer hängen. Das grau-grüne Gras unter ihm wehte ganz sacht, einem vom warmen lauen Seewind bewegten Meer gleichend.
Warum hatte sie diesen Baum nie zuvor beachtet? Vielleicht weil sie ihn noch nie aus dieser Perspektive gesehen hatte oder weil die Aufmerksamkeit eines jeden Betrachters eher auf die unglaublich großen, im Frühjahr zwar noch grünen, im Herbst jedoch reif und rot-gold glänzenden Früchte gelenkt wird, oder, und das war das Wahrscheinlichste, weil das dichte, dunkle Blätterwerk das Geäst umgab, wie das dunkelrote Fleisch die bleichen, vom Gebären geschwächten Knochen einer welkenden Frau.
Eigentlich war es auch kein richtiger Baum, nicht so einer mit Stamm, Ästen und Zweigen. Er vermochte weder seine ein bis zwei Vogelnester vorzuweisen, noch eine Aushöhlung, die als Eichhörnchenbehausung dienen konnte. Ebenfalls völlig ungeeignet waren seine Wurzeln für Maulwürfe, Wühlmäuse oder gar Fabelwesen. Er bestand vielmehr aus einem Stumpf mit einer Unmenge unverschnittener Triebe, die ihrerseits eine unverschämte Menge an Auswachsungen in den Kampf ums Überleben geschickt hatten.
Die schon mehrjährigen Haupttriebe waren verdickt und glichen in Form und Anzahl den Fingern der verkrampft geöffneten Hand eines Ertrinkenden. Der gesamte Baum ähnelte dem Ende einer Vorderextremität von Etwas, das qualvoll langsam verendet, das in das grau-grüne Meer gezogen wird. Kein Mensch, dazu sah das zu sehr nach einer Klaue aus.
Sie klopfte die Asche ihrer Zigarette ab, ein Windstoß erfaßt die Krümel und trug sie davon. Hm ja, wie eine Klaue, eine mit langen, spitzen gelben Nägeln und borstigen Haaren auf dem Rücken, vielleicht doch eine menschliche, vielleicht die eines Rauchers. Schockiert besah sie sich ihre eigene Hand.
Die Sonne verschwand, Wolken türmten sich bedrohlich auf, gleich würde es zu regnen anfangen. Sie stieg vom Dach auf die Mauer, und sprang hinunter, im Grasmeer neben dem Apfelbaum landend. Sie sah nach oben. Ein kurze Weile blieben die Tore des Himmels noch geschlossen. So zog sie noch einmal tief an der Zigarette und warf den Stummel unter den Apfelbaum.
Es plätscherte.