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Niemand
Oscar schrie auf, als Jasper ihn an den Haaren zog und dann wie einen Ball zu seinen Kumpeln herüberschubste.
„Hat der Niemand heute schon die Brille geputzt?“, spottete Jasper und seine Kumpel Dennis und Kevin grölten. Dann riss er Oscar die Brille von der Nase. Oscar schnappte danach, aber Kevin hielt ihn fest.
„Hiergeblieben, Zwerg.“ Oscar wehrte sich vergeblich. Gegen einen Muskelprotz wie Kevin hatte er keine Chance.
Hilflos musste er zusehen, wie Jasper seine Brille auf den Boden schmiss und darauf herumtrampelte. Das Glas zersplitterte unter seinen Schuhen. Oscar schloss die Augen.
Laura stand neben dem großen Eichenbaum auf dem Schulhof und beobachtete Jasper, wie er Oscar fertig machte.
Sie wollte eingreifen und den Jungen sagen, sie sollten den Niemand in Ruhe lassen, aber dann wäre auch sie krankenhausreif geprügelt worden. Mit Jasper war nicht zu spaßen. Dass er sich den Niemand als Opfer ausgesucht hatte, war nicht ihre Schuld, sagte sie sich.
Den Niemand.
Keiner sollte so genannt werde, fand sie. Die Jungen hatten Oscar gar keine Chance gegeben. Aber war er nicht auch selber schuld daran? Er hätte doch versuchen können, Freunde zu finden und sich nicht gleich in sein Schneckenhaus zurückziehen sollen.
Aber Laura wusste auch, dass er keine Freunde finden konnte solange Jasper ihn als sein Spielzeug ausgesucht hatte. Jedem, der Oscar geholfen hätte, oder ihm gegenüber nett gewesen wäre, wäre das Gleiche widerfahren. Sie sollte froh sein, dass es Oscar war und nicht sie, dachte Laura, schämte sich aber gleich wieder für diesen Gedanken.
Alles hatte an dem Tag nach den Sommerferien begonnen. Die Klasse hatte gerade die Mathebücher aufgeschlagen, als die Schulleiterin hereinkam. Und Oscar mitbrachte.
„Das ist der neue Schüler, Herr Schulze“, sagte sie zu unserem Lehrer und ging gleich wieder.
Oscar stand in der Tür und starrte seine Schuhspitzen an. Er war klein, viel zu klein für sein Alter. Auf der Nase trug er eine runde Brille, so eine, die bestimmt vor fünfzig Jahren schon out war. Seine braunen Haare waren zur Seite gekämmt und waren sicher noch nie mit Gel in Berührung gekommen.
„Komm doch herein. Und dann stell dich doch den anderen Schülern mal vor“, bat Herr Schulze. Der Junge betrat zögernd die Klasse und stellte sich vor die Tafel.
Als er weiterhin schwieg sagte der Lehrer: „Sag doch erst mal wie du heißt.“
„Niemand.“
„Keiner ist ein Niemand! Sag uns doch bitte deinen richtigen Namen.“
„Ich heiße Niemand“, wiederholte der Junge. „Oscar Niemand.“
Die Augenbrauen des Lehrers verschwanden fast unter seinem grauen Haar, aber er sagte nichts. In der Klasse wurde getuschelt. Lauras Freundin Ella beugte sich zu ihr rüber und flüsterte: „Niemand? Gibt es so einen Nachnamen überhaupt?“
„Er kann doch nichts dafür“, hatte Laura ihn in Schutz genommen.
Sie sah, wie Jasper, Kevin und Dennis die Köpfe zusammensteckten und laut lachten. Gar nicht gut.
Von da an hieß der Neue Niemand. Nur die Lehrer nannten ihn Oscar. Er wurde neben Joshua gesetzt, den Streber. Dort, wo kein Anderer hatte sitzen wollen.
„Kommst du endlich?“ Ella stand beim Klettergerüst und schaute Laura verwundert an. „Seit wann interessierst du dich für den Niemand?“ Sie hatte Recht, es war ihr doch sonst egal gewesen. Gegen Jasper kam sie doch sowieso nicht an. Und Oscar war doch nicht ihr Problem.
„Ich komme schon!“, rief sie Ella zu und lief zu ihr.