Mitglied
- Beitritt
- 10.12.2002
- Beiträge
- 262
Niemand will solche Bilder sehen!
Auszug aus dem Tonbandprotokoll des Gesprächs mit Richard W.:
„Manchmal schaue ich mir diese alten Fotos an, wissen Sie, mit Mutter, wenn die zu Besuch ist, und die sagt dann so was wie ‚Weißt du noch damals? Das war schön, als wir alle zusammen diese Reise gemacht haben?’ … oder diese Fahrradtour, oder Wanderung, oder was auch immer, sagt sie dann, und fragt mich: ‚Weiß du noch?’ – Ich will ihr dann immer ’was Nettes sagen, wie ‚Klar, das war schön’, aber es geht nicht. Ich fand es fürchterlich und habe dann immer etwas wie einen Klumpen im Hals, weiß gar nicht, was ich sagen soll, wissen Sie? Damals bin ich dann immer weggelaufen. Heute stelle ich mir vor, ich bin gar nicht dabei gewesen. Das ist einfach, weil ich bin ja selber nie auf den Fotos drauf, wissen Sie? […]
[Später] Meine Eltern hatten mir so einen kleinen Fotoapparat geschenkt, und, wenn wir zum Beispiel unterwegs waren, immer gesagt, ‚Nun fotografier uns doch mal, komm mach ein Bild von uns’, – solange, bis ich es dann getan habe. Ich bin also immer hinter der Kamera, wissen Sie? Dabei wollt’ ich die gar nicht fotografieren. […]
[Später] Wenn die Bilder dann wiederkamen gab ’s erst recht Trouble, dann hieß es: ‚Hach, hier seh’ ich aber gar nicht gut aus!’ oder ‚Nein, dieses Bild hättest du wirklich nicht von mir machen sollen’ oder ‚Warum machst du immer Bilder von mir, auf denen ich hässlich bin?’ – Jedenfalls wollte ich bald keine Fotos mehr von ihr machen. Ich mag eigentlich sowieso keine Fotos mit Menschen drauf. Die stören doch nur, finden Sie nicht auch? […]
[Später] Wenn wir dann unser Ausflugsziel erreicht hatten – den Baggersee, die alte Burgruine, oder was auch immer, dann habe ich mich möglichst schnell davongemacht. Die anderen hatten immer irgendwelchen Spaß – Versteckspielen, Würstchengrillen oder so was. Na, ich saß immer daneben und zog ’ne Schnute. Zumindest sagten das die anderen und sagten mir dann, ich solle doch fröhlich sein. Dabei war ich gar nicht schlecht gelaunt, ich wollte nur meine Ruhe, wissen Sie? Und da bin ich halt abgehauen. Ich glaub’, die waren darüber sogar froh, jedenfalls hörte ich sie manchmal laut lachen, wenn ich dann allein im Wald oder so herumlief, und dachte immer: Die Lachen über dich. – Ja, Die lachten über dich, hab’ ich gedacht. Aber da war ich allein und wenn ich weit genug weg lief, hörte ich die anderen auch nicht mehr. Da machte ich dann die Fotos, die ich mochte. Ohne Menschen, wissen Sie? Von den Bäumen zum Beispiel, wie sie da so stumm in den Himmel wachsen. Und am liebsten von den Wolken, wie sie dahinjagen. Einmal lag ich einfach auf den Waldboden und hab so in den Himmel hineinfotografiert, verstehen Sie? Da sah man von allen Seiten diese Äste ins Bild ragen und dazwischen die Wolken – es gab dann später ein Gewitter und die Wolken waren wundervoll. Das war ein schöner Tag! […]
[Später] Aber Mutter setzte sich ja immer hin, sortierte die Bilder und klebte sie in Alben – aber nur die, wo sie oder der Papa, oder meine Geschwister drauf waren. Meine mit den Bäumen warf sie fort. Sie schaute mich dann immer an und sagte Dinge wie: ‚Warum tust du das? Du verschwendest die ganzen Filme. Niemand will solche Bilder sehen. Du solltest dir lieber mehr Mühe geben, schöne Bilder von uns zu machen.’ Ha! Schöne Bilder! Damit sie sich dann wieder beschweren konnte, wissen Sie?
Schließlich habe ich den Apparat heimlich kaputt gemacht. Aber ich wurde erwischt. Das brachte mir eine Tracht Prügel von Papa ein. Und Mutter heulte den ganzen Tag. Warum ich so undankbar sei, und so. […]
Richard W. war wegen eines akuten schizophrenen Schubes in Psychiatrie des Uniklinikums M. in Behandlung.