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Niemand will solche Bilder sehen!

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10.12.2002
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Niemand will solche Bilder sehen!

Auszug aus dem Tonbandprotokoll des Gesprächs mit Richard W.:

„Manchmal schaue ich mir diese alten Fotos an, wissen Sie, mit Mutter, wenn die zu Besuch ist, und die sagt dann so was wie ‚Weißt du noch damals? Das war schön, als wir alle zusammen diese Reise gemacht haben?’ … oder diese Fahrradtour, oder Wanderung, oder was auch immer, sagt sie dann, und fragt mich: ‚Weiß du noch?’ – Ich will ihr dann immer ’was Nettes sagen, wie ‚Klar, das war schön’, aber es geht nicht. Ich fand es fürchterlich und habe dann immer etwas wie einen Klumpen im Hals, weiß gar nicht, was ich sagen soll, wissen Sie? Damals bin ich dann immer weggelaufen. Heute stelle ich mir vor, ich bin gar nicht dabei gewesen. Das ist einfach, weil ich bin ja selber nie auf den Fotos drauf, wissen Sie? […]
[Später] Meine Eltern hatten mir so einen kleinen Fotoapparat geschenkt, und, wenn wir zum Beispiel unterwegs waren, immer gesagt, ‚Nun fotografier uns doch mal, komm mach ein Bild von uns’, – solange, bis ich es dann getan habe. Ich bin also immer hinter der Kamera, wissen Sie? Dabei wollt’ ich die gar nicht fotografieren. […]
[Später] Wenn die Bilder dann wiederkamen gab ’s erst recht Trouble, dann hieß es: ‚Hach, hier seh’ ich aber gar nicht gut aus!’ oder ‚Nein, dieses Bild hättest du wirklich nicht von mir machen sollen’ oder ‚Warum machst du immer Bilder von mir, auf denen ich hässlich bin?’ – Jedenfalls wollte ich bald keine Fotos mehr von ihr machen. Ich mag eigentlich sowieso keine Fotos mit Menschen drauf. Die stören doch nur, finden Sie nicht auch? […]
[Später] Wenn wir dann unser Ausflugsziel erreicht hatten – den Baggersee, die alte Burgruine, oder was auch immer, dann habe ich mich möglichst schnell davongemacht. Die anderen hatten immer irgendwelchen Spaß – Versteckspielen, Würstchengrillen oder so was. Na, ich saß immer daneben und zog ’ne Schnute. Zumindest sagten das die anderen und sagten mir dann, ich solle doch fröhlich sein. Dabei war ich gar nicht schlecht gelaunt, ich wollte nur meine Ruhe, wissen Sie? Und da bin ich halt abgehauen. Ich glaub’, die waren darüber sogar froh, jedenfalls hörte ich sie manchmal laut lachen, wenn ich dann allein im Wald oder so herumlief, und dachte immer: Die Lachen über dich. – Ja, Die lachten über dich, hab’ ich gedacht. Aber da war ich allein und wenn ich weit genug weg lief, hörte ich die anderen auch nicht mehr. Da machte ich dann die Fotos, die ich mochte. Ohne Menschen, wissen Sie? Von den Bäumen zum Beispiel, wie sie da so stumm in den Himmel wachsen. Und am liebsten von den Wolken, wie sie dahinjagen. Einmal lag ich einfach auf den Waldboden und hab so in den Himmel hineinfotografiert, verstehen Sie? Da sah man von allen Seiten diese Äste ins Bild ragen und dazwischen die Wolken – es gab dann später ein Gewitter und die Wolken waren wundervoll. Das war ein schöner Tag! […]
[Später] Aber Mutter setzte sich ja immer hin, sortierte die Bilder und klebte sie in Alben – aber nur die, wo sie oder der Papa, oder meine Geschwister drauf waren. Meine mit den Bäumen warf sie fort. Sie schaute mich dann immer an und sagte Dinge wie: ‚Warum tust du das? Du verschwendest die ganzen Filme. Niemand will solche Bilder sehen. Du solltest dir lieber mehr Mühe geben, schöne Bilder von uns zu machen.’ Ha! Schöne Bilder! Damit sie sich dann wieder beschweren konnte, wissen Sie?
Schließlich habe ich den Apparat heimlich kaputt gemacht. Aber ich wurde erwischt. Das brachte mir eine Tracht Prügel von Papa ein. Und Mutter heulte den ganzen Tag. Warum ich so undankbar sei, und so. […]

Richard W. war wegen eines akuten schizophrenen Schubes in Psychiatrie des Uniklinikums M. in Behandlung.

 

Hallo Niels-Arne-Münch,

Interessant, dein Auszug.

Dein Prot. leidet also unter einer endogenen Psychose.

Auch wenn dein Prot. an Wahn und Ich-Störung leidet, ist er auch so normal wie du und ich, denn wer hat denn nicht in den Himmel geschaut und phantasiert.

Gerade das macht es der Gesellschaft schwer, mit den seltsamen Ideen, die unerwartet auf einen prallen, umzugehen.

Leider habe ich nicht mehr Ideen, worauf du hinauswolltest.

Goldene Dame

 

Hallo Niels!
Ich habe deinen Text mit Interesse gelesen, muss aber leider sagen, dass ich etwas enttäuscht davon bin. Du hast eine interessante Perspektive (Tonband-Protokoll) gewählt, die faktisch nicht mehr als Plauderei seitens des Erzählers bietet. Gerade diese fiebernde Subjektivität sagt oft mehr aus, als lange Erklärungen.
Sehr schön arbeitest du die Introvertiertheit des Mannes anhand eines einzigen Hobbys (Fotographieren) heraus.
Warum du den ganzen interessanten Ansatz mit wenigen Zeilen am Schluss wieder zunichte machst, ist mir ein Rätsel! Was willst du dem Leser eigentlich vermitteln? Dass der Typ durch die Schläge psychotisch wurde?
Warum dieser missglückte, melodramatische Schluss, der zu dem Gesamtbild des schönen Textes überhaupt nicht passt?

 

Hallo Niels!
Der Text wirkt viel zu normal, als daß am Schluß ein Überraschungseffekt durch die Ankündigung der Schizophrenie erreicht wird. Ich denke, das wäre u.U. der Fall wenn der Prot wirklich seltsame Dinge erzählen/tun würde, man sich dann einen Text lang wundert und am Schluß ein Aha-Erlebnis hat, weil klar wird, daß er eine psychische Erkrankung hat.
So wie er ist, kann ich mit dem Inhalt des Textes leider wenig anfangen. Den Stil hingegen finde ich in Ordnung, es läßt sich gut lesen.
Viele Grüße von
Karin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hm, mal ein Text von mir, die nicht grade überschwängliche Kritiken erntet - muß wohl auch mal sein. Trotzdem Dank euch allen für Eure Mühe und schön, daßeuch wenigstens der Stil gefallen hat. ;)

Um auf einige Fragen einzugehen:

@ Rainer: Der Text ist aus mehreren Gründen so kurz: Erstens weil er als Hausarbeit für eine Autorenschule entstand und so bereits zu lang war. Darüber hinaus ist er das Resultat einer recht seltsamen Stimmung des Autors: Aufgabe war es, sich von einem gegebenen Foto inspirieren zu lassen. Es handelte sich dabei um ein - der Mode nach zu urteilen - 70er Jahre Bild mit einer Öko-Hippiefamilie mit Hund auf Fahradtour - natürlich zeitgemäße Hollandräder... :rolleyes: Zu sagen, das Bild sei langweilig, wäre maßlose Untertreibung; Jeder Elan und Inspiriertheit, die mich normalerweise zum Schreiben bringt, ward sehr schnell aus meinem Kopf gesaugt und durch jene Müdigkeit ersetzt, die ich noch aus Schulzeiten kenne, wenn es ans Vokabellernen ging. Aber irgendwann wurde ich regelrecht wütend auf diese dämliche Aufgabe bis ich mir schließlich dachte: "Wenn ich mich noch zehn Minuten Länger mit diesem Mist beschäftigen muss, werde ich wahnsinnig - und in diesem Moment kam dann doch die erlösende :idee:
Kurz, der Text ist das Ergebnis einer "Frust-Session", hatte also schlechte Produktionsbedingungen und ich war froh als ich das Keyboard beiseite legen konnte. :)

Allerdings enthält das Ergebnis meiner Überzeugung nach mehr, als hier bisher diskutiert wurde. Wäre ich nicht davon überzeugt gewesen, dass der Text so wie er ist - also auch in der Kürze - funktioniert, hätte ich ihn nicht gepostet: Nein, der Grund für den Wahnsinn des Prots sind nicht die Schläge. Der Text enthält noch eine andere Erklärung. Nach den bisherigen Kritiken sieht es allerdings danach aus, dass man zum Verständnis Vorbildung über Schizophrenie braucht. Und das wiederum spräche klar gegen den Text, der natürlich allgemeinverständlich sein soll. :confused:

@ Karin: Ein "Überraschungseffekt" war eigentlich gar nicht gewollt - schon die erste Zeile ("Tonbandprotokoll des Gesprächs") sollte ein, allerdings noch zweideutiger, Hinweis auf eine psychische Erkrankung sein. Die Absicht war es die Leser zur Spurensuche nach dem Grund zu animieren -das scheint soweit auch geklappt zu haben, nur bis jetzt scheint noch niemand verstanden zu haben, worum es genau geht. :sad:

 

Hallo Niels-Arne,

ich empfinde solche "Tonbandprotokolle" grundsätzlich als lesenswert. Noch besser geeignet finde ich dieses Stilmittel für Theatermonologe. Hier gibt es gute Vorbilder, zum Beispiel das Theaterstück "Bartsch-Kindermörder"
Ob Tonbandprotokolle auch in der nicht forensischen Psychatrie angewendet werden, weiß ich leider nicht. Da denke ich ma, wirst du entsprechend recherchiert haben.
Was ich an dieser Geschichte nicht ganz gelungen finde ist die Notwendigkeit der kursiven Erklärungen. Das es sich um eine Bandaufnahme oder um eine Aussage handelt, darauf kommt man beim Lesen ohne den Hinweis. Dass es sich um die Aufnahme eines Menschen mit einem akuten schizophrenen Schubes handelt, darauf kommt man leider nicht. Zwar begünstigen paradoxe Erziehungsaufforderungen eine schizoide Entwicklung des Menschen, allerdings muss man dann in der Lage sein, deine Geschichte in der Art zu lesen, dass die Fotografie wirklich nur als Symbol für die ganze Erziehungsmethode steht.
Richards Eltern sind Ich-bezogen, vor allem die Mutter, Richard hat in allem was er tut, ihr seine Achtung zu erweisen. Fotos auf denen sie nicht erscheint lassen sie glauben, er schätze anderes höher als sie. Er hat das zu fotografieren, was er am höchsten achtet, und das hat gefälligst sie zu sein. Ist sie es nicht, fotografiert er unweigerlich nicht das, was er am höchsten achtet oder er achtet sie nicht genug.
Deine Geschichte kann man also frei nach Ronald D. Laings "Knoten" oder anderen Standardwerken über die Entstehung der Schizophrenie interpretieren. Wahrscheinlich muss man es sogar, damit sie funktioniert.
Ich bin ehrlich gesagt nicht sicher, ob das nicht zu viel Vorbildung erfordert.
Stilistisch mag ich deine Geschichte, es wäre nur schön, wenn sie die Doublebindings etwas deutlicher machen könte.

Lieben Gruß, sim

 

Lieber Niels!

Mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen.
In meinen Augen zeigt sie, wie der Protagonist eigentlich nie richtig dazugehörte (immer nur hinter der Kamera und auf den Bildern dann gar nicht anwesend), seine Wünsche bzw. Interessen ignoriert, ja sogar für schlecht geheißen und vernichtet wurden (Fotografien ohne Menschen) und er sich dadurch in seine eigene Welt zurückzog, vielleicht Menschen überhaupt nicht mehr mochte. Und wenn die Mutter ihn besucht und mit ihm die Fotos ansieht, löst sie all die Erinnerungen und damit verbundenen Gefühle in ihm wieder aus.

Daß er schizophren ist, hätte ich allerdings ohne der Anmerkung am Schluß nicht herausgefunden, dachte eher an normale Depressionen – also denke ich: Laß es ruhig stehen…;)

Zu kritisieren hab ich kaum etwas:

»Das war schön, als wir alle zusammen diese Reise gemacht haben?’«
– hier würd ich einen Punkt machen, kein Fragezeichen, denn die Mutter stellt das ja fest und fragt ihn nicht nach seiner Meinung, oder?

»unterwegs waren, immer gesagt, ‚Nun fotografier uns doch mal, komm mach ein Bild von uns’, – solange, bis«
– gesagt: … Bild von uns.Solange

»‚Hach, hier seh’ ich aber gar nicht gut aus!’ oder ‚Nein, … sollen’ oder ‚Warum«
– aus!’[/i], oder: ‚Nein, … sollen’, oder… (besser alles nach den Regeln der direkten Rede)

»Die Lachen über dich. – Ja, Die lachten über dich, hab’ ich gedacht.«
– Die lachen … Mir ist nicht ganz klar, warum das „Ja“ nicht kursiv ist, gehört es nicht zu der Aussage? Dann solltest Du vielleicht besser diese halben Anführungszeichen verwenden, wie schon bei anderen Sätzen auch, sonst würde auch das „Die“ klein gehören…

Alles Liebe,
Susi :)

 

Hallo Niels,
dass der Prot. am Ende überraschenderweise schizophren ist, macht seinen Charakter m. M. nach nicht interessanter oder besser und ist auch als Höhepunkt ganz ungeeignet. Dabei hast du das gar nicht nötig. Der eigentliche Konflikt liegt doch zwischen Mutter und Sohn. Und dieser Konflikt sollte am Ende kumulieren. Z. B.: Mutter erwischt den Sohn, der auf der Waldlichtung liegt und fotographiert, Mutter macht dem Sohn eine Szene, sie will ihm den Fotoapparat entreißen, der Sohn erschlägt die Mutter und fotographiert die Leiche. Endlich ein Stilleben trotz Mutter drauf!

Okay, das ist vielleicht etwas blutig. Aber wenigstens eine logische Folge des Konflikts.

Beste Grüße
knagorny

 

Hallo sim, knagorny, häferl:

Schön, dass ihr euch die Mühe gemacht habt, den Text durchzuarbeiten! :) Viele Dank für die Korrekturen und Anmerkungen. Ja, der "Rahmen" mit der Schizophrenie fällt wohl in der nächsten Überarbeitung raus. Da sich alle meine Leser einig sind, beugt sich der Autor... *g* - Ansonsten bin ich noch am Überlegen, wie ich den Doublebind deutlicher machen kann.

@ häferl: Endlich biste wieder da! :kuss: Ich überlegte schon, wann die Zeit reif wäre, im Kaffeekranz einen "Wir-wollen-unsere-häferl-wiederhaben" Thread zu starten. :D

 

Geschrieben von Niels-Arne Münch
Ansonsten bin ich noch am Überlegen, wie ich den Doublebind deutlicher machen kann.
Ich werds auch mal im Kopf behalten, vielleicht fällt mir noch was ein. ;)
@ häferl: Endlich biste wieder da! :kuss: Ich überlegte schon, wann die Zeit reif wäre, im Kaffeekranz einen "Wir-wollen-unsere-häferl-wiederhaben" Thread zu starten. :D
Du hast mich damit heute zum Weinen gebracht, als ich das am Nachmittag gelesen hab - allerdings waren es Tränen der Freude... :kuss: :)

 

Hi!

Ich fand es an dieser Geschichte besonders gut, wie du den äußerlichen Schein der Normalität dieser Familie herausgearbeitet hast. Ich beschäftige mich zur Zeit (aus Studiumsgründen) mit solchen Familien die nach außen, zumindest auf den ersten Blick, so harmonisch wirken. Gemeinsame Ausflüge, reisen, ein Fotoalbum anschauen wirks so harmonisch. Es ist aber leider auch in der Realität häufig so, dass vor allem in diesen Familien etwas ziemlich im Argen liegt. Dein prot könnte Kind einer Alkoholikerfamilie sein oder sogar Opfer sexuellen Missbrauchs. Vielleicht war auch nur eine seiner Schwestern zum Opfer geworden und er hat es mitbekommen. Er erzählt auf dem Tonband nur indirekt davon. Da ist etwas an oder mit ihm, was nicht in diesen Anschein der Harmonie passt. Er wird in seiner Eigenart, seiner Individualität gar nicht wahrgenommen sondern, z.B. durch das Wegwerfen der Photos ohne Menschen, einfach so hingebogen, dass er hinein passt. Niemals das sein zu dürfen, was man von natur aus sein möchte oder sogar sein muss kan, soviel ich weiß, einen Menschen ohne weiteres in die Schizophrenie treiben. Schizophrenie basiert ja auf Störungen die ganz tief unten in der Seele liegen. Nicht sein zu dürfen, wie man eigentlich ist und nicht angenommen sein, können durchaus Ursachen dafür sein.
Was mir noch aufgefallen ist, ist dass es Dir sehr gut gelungen ist, den äußerlich harmonischen Anschein dieser Familie durch einen kleinen Fingerzeig zu durchschauen. Es scheint so, als ob die Photos mehr über eine person aussagen würden, als man so auf dene rsten Blick nach außen hin sehen kann. Die Fotos sind nie schön geworden. Sie spiegeln in diesem fall nicht das Bild, das die Familie nach außen hin machen will sondern zeigen die Realität. Letztendlich wird dein Prot dafür verantwortlich gemacht, das die Fotos nicht schön sind und somit zum Sündenbock für die ganze Familie gemacht. Ein äußerst typisches verhalten für solcher Familien.

In deiner Geschichte steckt so viel drin. Je mehr ich schreibe, desto mehr finde ich. es gäbe da sicher noch einiges. ich werds aber mal dabei belassen.
Zum Schluss nur noch einmal ein Superlob: Guuuuuuuuuuuuut gemacht!!!

puregold

 

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