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Niemand ist da

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12.03.2015
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Niemand ist da

Sie würde ihn fragen, wie es ihm geht. Er würde sagen: Gut. Nein, er würde sehr gut sagen.
Die Wände sind grau und glänzen und sind kalt. Es ist dunkel im Treppenhaus. Tanner spürt einen Schmerz in seiner Seite.
Der Raum ist leer. Stühle sind in einem Kreis angeordnet und in der Mitte steht ein kleiner Tisch mit Zeitschriften darauf. Eine ist auf den Boden gefallen, ein Frauenmagazin. Tanner läuft zur Toilette und schielt auf dem Weg hinüber zum Empfangstresen. Niemand ist da.
Die Klobrille ist warm. Tanner findet es angenehm, darauf zu sitzen. Er muss an seine Frau denken. An der Türe vor ihm sieht er das Bild einer Brille. Die Brille hat einen Mund und eine Nase und ein Auge, das Tanner zuzwinkert. In der Sprechblase, die von dem Mund ausgeht, steht: „Lass mich die Welt durch deine Augen sehen“. Tanner lächelt. Er merkt, dass er etwas nervös ist.
Er geht zurück und schaut wieder rüber zum Tresen. Jetzt ist da eine junge Frau, die Arzthelferin.
„Ach, Guten Tag, Herr Tanner. Frau Doktor Schäfer ist noch beim Mittagessen. Sie wird um eins wieder da sein.“, sagt sie.
„Gut“, sagt Tanner.
Tanner setzt sich in das Wartezimmer. Es ist eine halbe Stunde vergangen. Er schaut sich die Zeitschriften durch und hebt das Frauenmagazin auf, das auf dem Boden liegt. Dann legt er die Zeitschriften in einer Reihe auf den Tisch und setzt sich auf seinen Platz. Er hat keine Lust, zu lesen. Ein Mann kommt herein, gebückt und langsam. Er murmelt etwas und setzt sich auf einen Platz weit weg von Tanner. Tanner versteht ihn nicht.
„Herr Tanner?“, sagt die Arzthelferin.
„Ja“, sagt Tanner und steht auf. Er läuft vor das Behandlungszimmer und öffnet die Tür.
Frau Schäfer gibt ihm die Hand und knöpft sich mit der anderen Hand den Kittel zu. Sie atmet schnell. Ihr blondes Haar ist etwas nass an der Stirn. Sie muss in Eile gewesen sein, denkt Tanner.
„Wie geht es Ihnen, Herr Tanner?“
„Gut. Sehr gut“, sagt Tanner.
„Schön“, sagt sie. Sie lächelt.
Sie sieht aus wie Anna, denkt er. „Ja“, sagt Tanner. Er setzt sich auf den Stuhl.
Sie sagt nichts mehr und setzt sich auch.
„So, lassen Sie mich sehen. Sie sind wegen dem Sehtest hier, richtig?“, sagt sie.
Tanner sagt: „Ja.“
„Gut.“
Tanner schaut auf die Zahlenreihen. Zuerst hält er das linke Auge zu und schaut mit dem rechten. Dann schaut er mit dem linken Auge und hält sich das rechte zu. Die Zahlen der obersten Reihe sind groß und die Zahlen der unteren Reihe sind sehr klein und schwieriger zu lesen. Er muss die Augen ab und zu fest zusammenkneifen. Es dauert nicht lang.
„Super. Ihre Sehschärfe ist in bester Ordnung, Herr Tanner. Sie werden keine Brille brauchen.“
„Gut“, sagt er und fährt sich mit den Händen über seine Oberschenkel.
„Haben Sie ansonsten irgendwelche Beschwerden?“
Tanner zuckt mit den Schultern und sagt: „Nein.“
„Und wie ist’s am Abend? Wenn Sie im Bett liegen und lesen, sehen Sie dann gut?“, fragt sie.
„Ja“, sagt Tanner.
„Gut, dann wären wir fertig.“
Tanner nickt. „Gut“, sagt er.
Tanner verlässt die Praxis. Er spürt keinen Schmerz mehr in der Seite. Er drückt auf den Knopf und wartet auf den Lift. Das Treppenhaus ist dunkel und das Licht im Lift blendet ihn ein wenig. Aber es ist ja nur ein Stockwerk, denkt er.
In seiner Wohnung geht Tanner zum Kühlschrank und trinkt ein Glas Milch. Er spürt, dass er schon müde ist und denkt, dass er heute wohl früher ins Bett gehen solle. Aber er würde sich auch noch gerne einen Film am Abend anschauen, ja, vielleicht sollte er ins Kino gehen. Was er jetzt tun könnte, weiß er nicht. Vielleicht läuft ja etwas im Fernsehen, denkt er. Er setzt sich auf die Couch und schaltet den Fernseher ein. Es läuft nichts, was er sehen möchte und er macht den Fernseher aus. Er geht auf die Toilette. Die Klobrille ist kalt. Tanner starrt auf die Türe und bleibt sitzen.

 
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Hallo Graziano

Bin mir nicht sicher, ob ich dein kleines Schlaglicht richtig verstanden habe, ist ja viel zwischen den Zeilen versteckt. Also bei Tanner scheint es sich um einen älteren Mann zu handeln, das zeigt der Dialog beim Sehtest, das Stechen in der Seite und "sie sieht aus wie Anna" deutet auf einen Verlustschmerz eines geliebten Menschen hin.
„Lass mich die Welt durch deine Augen sehen“. Anna hat das möglicherweise auch mal zu ihm gesagt, deshalb sein (wehmütiges) Lächeln.
Fazit: Ich vermute, Tanner hat seine geliebte Anna verloren und trauert nun einsam für sich. Die Temperatur des Klodeckels ist synonym für menschliche Nähe. In der Praxis gibt es Menschen, zuhause wartet niemand.

Eins noch: Weshalb sitz er mit nacktem Po auf dem Klodeckel? Oder hat er ganz dünne Leinenhosen an?
Oder meintest du dann doch die Klobrille, das wäre dann schon fast wieder eine witzige Doppeldeutigkeit. (Auf der Klobrille beim Augenarzt;))

Mit kleinen Abstrichen gern gelesen, hat mich jedenfalls zum Nachdenken angeregt,
Gruss dot

 

Hallo dot

Fazit: Ich vermute, Tanner hat seine geliebte Anna verloren und trauert nun einsam für sich. Die Temperatur des Klodeckels ist synonym für menschliche Nähe. In der Praxis gibt es Menschen, zuhause wartet niemand.

Wenn du wüsstest, wie sehr mich das freut. Ich war mir nicht sicher, ob man das genau so verstehen würde, weils doch ein sehr kurzer Text ist. Schön, dass du ihn genau so verstanden hast, wie ich es beabsichtigt habe.

Das mit dem Titel ist ein Versehen. Ich meinte Klobrille und hab ausversehen Klodeckel geschrieben. Der Wortwitz ist mir so gar nicht gekommen ;)

Vielen Dank für deinen Kommentar, es hat mich sehr gefreut.

Gruss
Graziano

 

Hmmmm... Eine sehr nachdenkliche Geschichte, bei der man auch viel nachdenken muss.
Als die Ärztin ihn fragt, ob ihm noch was fehle, wäre wohl die einzig richtige Antwort: Anna. Ich verstehe dann nur nicht so richtig was der Schmerz in der Seite bedeuten soll, der ja in der Arztpraxis auftaucht und beim verlassen wieder verschwindet. Ist es ein echter Schmerz oder soll er etwas symbolisieren? Wenn ja verstehe ich nicht so recht was...
Es ist eine schöne Geschichte, die mir gut gefallen hat. Irgendwie fehlt aber was... Ein bisschen die Würze.
Der Vergleich mit der warmen Klobrille und einem bewohnten Haus ist richtig klasse!!! Weil es so wahr und schon so selbstverständlich ist, dass es einen gar nicht bewusst auffällt.

 

„Wie geht es Ihnen, Herr Tanner?“
„Gut. Sehr gut“, sagt Tanner.

Hinter: „Wie geht es Ihnen, Herr Tanner?“
Muss kein: "sagt Tanner.", finde ich ;)

 

Titel auf Wunsch des Autors von "Klodeckel" auf "Niemand ist da" geändert.

 

Süß-wehmütig, so habe ich die Geschichte empfunden.

Witzig fand ich den Klodeckel. Mir ist es schon ein paarmal passiert, dass ich nicht aufgepasst und mich versehentlich mit nacktem Hintern auf den geschlossenen Deckel gesetzt hab. Das ist echt kalt und echt erschreckend. :D
Es war mir aber klar, dass du die Brille gemeint haben musstest.

Als du am Ende die kalte Brille erwähnt hast, hat es mir einen kleinen Stich gegeben. Ich fand das Sinnbild rührend. Subtil, aber für mich klar verständlich, ein bisschen lustig, doch mehr traurig.

Süß fand ich, wie du zwischen den Zeilen durchblicken lässt, dass der alte Mann ein bisschen in seine Augenärztin verliebt ist, weil sie ihn an seine verstorbene Frau erinnert, - so habe ich es verstanden - und ohne Notwendigkeit in die Praxis geht, einfach nur, um ein bisschen bei ihr zu sein. Rührend.

Mir hat's gefallen.

Schau mal drüber, irgendwo hast du statt "Herr Tanner" "Mr. Tanner" geschrieben.

Liebe Grüße
raven

 

Hallo Graziano,

die Geschichte lässt auch mich, wie die anderen, schwermütig zurück. Du hast eine rührende Geschichte "gesponnen", die in sich stimmig ist und liebevoll erzählt. Mit wenigen Beschreibungen lässt du Stimmung aufkommen, nichts wirkt unnötig oder in die Länge gezogen, sondern richtig dosiert.
Das mit Klobrille/-deckel haben schon andere vor mir angemerkt, darauf geh ich nicht mehr ein, deshalb weiter:

Der bündige Stil. den du anwendest, ist der "Hauptträger" der Stimmung, finde ich. Es passt, wirkt "unverkrampft" und selbstsicher. Mir gefällt er sehr, sehr gut.

Zum Anfang deiner Geschichte ist mir was eingefallen, du schreibst:

Sie würde ihn fragen, wie es ihm geht. Er würde sagen: Gut. Nein, er würde sehr gut sagen.

Für mich hätte es besser in den Duktus gepasst, wenn der Satzaufbau immer der gleiche gewesen wäre:
"Sie würde ihn fragen, wie es ihm geht. Er würde sagen: Gut. Nein, er würde sagen: sehr gut."
Das hing nur als fixe Idee in meinem Kopf (wenn ich mir vorstelle, wie der Prot. denkt).

Die Brille hat einen Mund und eine Nase und ein Auge, dass Tanner zuzwinkert.

"das" ohne Doppel-s

Er merkt, dass er etwas nervös ist.
Woran merkt er das? Du hast die Stelle mit der warmen Klobrille zuvor so gut eingebracht, dass ich es an dieser Stelle ein wenig vermisst habe, dass du nicht mit noch einer/zwei Gefühlsbeschreibungen weitermachst.

Jetzt ist da eine junge Frau, die Sekretärin.

In Praxen sind das, meines Wissens nach, keine Sekretärinnen sondern medizinische Fachangestellte (umgangssprachlich "Arzthelferin").

Sie wird um Eins wieder da sein.“, sagt sie.

Der Punkt ist das noch zu viel (an den anderen Stellen hast du es überall richtig gemacht, wie ich es gesehen habe) und ich glaube, man schreibt "um eins" klein, weil es ja kurz ist für "um ein Uhr", "um zwei Uhr" etc.

hebt das Frauenmagazin auf, das auf dem Boden liegt. Dann legt er die Zeitschriften in einer Reihe auf den Tisch

An dem zweimal "legen" habe ich mich gestört. Eleganter beispielsweise: "Er hebt das Frauenmagazin vom Boden auf und legt die Zeitschriften alle in einer Reihe auf den Tisch".

denkt, dass er heute wohl früher ins Bett gehen sollte.

solle, Konjunktiv I.


So, das war's auch schon an nervigen Anmerkungen.

Er spürt keinen Schmerz mehr in der Seite.
Auch bei mir war an dieser Textstelle eine Art Befrieidigung (wie es wohl auch deinem Herrn Tanner erging, der nun schmerzfrei ist), denn man hat - ganz unplakativ, sehr subtil beschrieben - verstanden, was es auf sich hatte mit dem Arztbesuch. ;)

Viele Grüße
Tell

 

Hallo Graziano

Eine schöne kurze Geschichte. Hat mir gefallen. Du hast es geschafft, Verlustschmerz in einer Alltagssituation darzustellen, ohne ihn wirklich beim Namen zu nennen. Das ist mMn sehr gut, denn so viele Geschichten nennen das Kind nicht beim Namen und es wird dennoch erwartet, ihn hinterher zu kennen.
Weiter so.

liebe Grüße,
zash

 

Hallo Kinaski

Diese Idee, falls das wirklich deine Idee war, hätte stärker hervorgehoben werden können.

Viele Kommentatoren haben die Idee begriffen, aber ich werd da mal noch drüber nachdenken. Bestimmt könnte man das noch deutlicher machen. Ich wollt das aber sehr dezent halten.

Das mit dem Zustand der Ärztin muss ich vielleicht auch etwas ausweiten.

Danke dir für den Kommentar.

Hallo Neytiri

Das mit dem Schmerz in der Seite kommt daher, da er mit seiner leidvollen Vergangenheit konfrontiert wird. In der Ärztin sieht er seine Anna.

Danke für deine Zeit.

Hey Jule1999

Jo , das ist halt Geschmackssache :D Notwendig ist das nicht, hast recht.

Hallo raven

Als du am Ende die kalte Brille erwähnt hast, hat es mir einen kleinen Stich gegeben. Ich fand das Sinnbild rührend. Subtil, aber für mich klar verständlich, ein bisschen lustig, doch mehr traurig.

Süß fand ich, wie du zwischen den Zeilen durchblicken lässt, dass der alte Mann ein bisschen in seine Augenärztin verliebt ist, weil sie ihn an seine verstorbene Frau erinnert, - so habe ich es verstanden - und ohne Notwendigkeit in die Praxis geht, einfach nur, um ein bisschen bei ihr zu sein. Rührend.


Raven, dein Kommentar hat mich wahnsinnig gefreut. Schön, dass dich mein Text berührt hast. Danke.

Das mit dem "Mr." wurde behoben :)

Hey Tell

Auch dein Kommentar habe ich sehr gerne gelesen. Danke für das Lob. Und natürlich auch für das Aufzeigen der Fehler, die werd ich verbessern.

Für mich hätte es besser in den Duktus gepasst, wenn der Satzaufbau immer der gleiche gewesen wäre:
"Sie würde ihn fragen, wie es ihm geht. Er würde sagen: Gut. Nein, er würde sagen: sehr gut."

Nur bei diesem Punkt bin ich mir nicht ganz sicher. Konsequenter wäre es, da hast du recht, aber es tönt irgendwie zu stockend. Zumindest hab' ich das Gefühl, dass es dann komisch tönt. Mal schauen.

Danke für den Kommentar, ich hab mich gefreut.

Hallo zash

Das wollt ich erreichen, danke für dein Lob. Ich war mir da auch echt nicht sicher, ob man es verstehen würde. Umso mehr freut mich das jetzt.

Liebe Grüsse nochmals an alle
Graziano

 

Lieber Graziano,

Alleinsein im Alter - wunderbar in eine Geschichte mit großer Symbolkraft verpackt. Mir hat dein anrührendes ‚Kleinod’ sehr gefallen. Alles andere haben meine Vorkommentatoren schon dazu gesagt.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo barnhelm

Danke für dein Lob, das hat mich sehr gefreut. :)

Lieber Gruss
Graziano

 

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