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Niedermeiers Entscheidung
Alles war violett. Was ist so violett? Ach so, das ist Maria-Luisas Mantel. Niedermeier sah seine Fünfjährige vor ihm hin und her hüpfen. „Papa komm! Da vorne ist der Streichelzoo.“ Behutsam öffnete er die Augen einen spaltbreit. Ganz dicht vor seinen Augen hing die rot und blau gestreifte Wolldecke. Klar, rot und blau gibt violett. Niedermeier wachte ganz auf. Maria-Luisa war wieder weg. Er lag vor dem Bett. Erbrochenes verklebte sein Gesicht und seine Haare. Ganz langsam zog er sich am Bett hoch. Die wenigen Schritte zum Waschbecken kosteten seine ganze Kraft. Das Gesicht im Spiegel war aschgrau, alt und verbraucht. „Du musst mit dem Saufen aufhören!“ Er schnitt eine Grimasse. „Leck mich doch am …“ Das Klopfen an der Tür unterbrach seine derbe Aufforderung. Der Kopf des Heilsarmeekapitäns kam durch den Türspalt.
„Gilt das Versprechen von gestern noch? Wir fahren in einer halben Stunde.“
***
Der Gedanke an den Entzug ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Niedermeier rutschte auf der Bank hin und her. Mal war sein Oberkörper vornübergebeugt, das rechte Bein nach hinten gestellt, als würde er gleich aufspringen. Dann lehnte er sich wieder zurück. Wie lange sollte er noch warten? Komisch, dachte er, sonst sitz‘ ich doch auch den ganzen Tag hier. Sein Blick schweifte über den Platz. Die Kapelle der Heilsarmee spielte ein Lied. Auf der anderen Seite des Platzes saßen Atze, Moppelchen und Blockwart mit seinem Hund Adolf.
Blockwart beanspruchte immer das rechte Ende der Bank. „Adolf muss immer rechts liegen!“ Wo auch sonst? Den anderen war das egal. Sie respektierten Blockwart. Er schaffte es immer Bier aufzutreiben. Atze hatte seine Beine weit von sich gesteckt. Sein Kopf war zurückgebeugt. Er zog an seiner Zigarette und blies Ringe in den Himmel. Keiner wusste, wie Moppelchen wirklich hieß oder wo sie her kam. Sie war lustig und für eine Dose Bier ließ sie an sich rumfummeln. Aber mehr war nicht drin. „Nicht unter die Gürtellinie!“ Niedermeier dachte, vielleicht sollte ich rüber gehen. Irgendwie ist das doch meine Familie. Wo ist eigentlich Fuzzi? Der ist doch immer da, wenn’s Bier gibt.
Die Kapelle stimmte ein neues Lied an. Das kenn‘ ich irgendwo her. Wie heißt das bloß? Irgendwas mit pam pam. Niedermeier lehnte sich wieder an. Seine Augen folgten dem Zug der Posaune. Drollig, immer wenn der Zug nach vorne geht, schaut’s aus, als ob Moppelchen eine geschmiert kriegen würde. Und wenn die Pauke zum Einsatz kommt, schwabbeln ihre Titten. Vielleicht sollte ich jetzt echt rüber gehen? Das wäre doch die Gelegenheit. Andererseits … Wenn ich jetzt rüber gehe, komme ich hier nie weg.
Seine Gedanken kreisten wieder um die Meilensteine seiner Lebenskarriere. Seit dem spurlosen Verschwinden seiner fünfjährigen Tochter ging es nur noch abwärts. Die Paintball-Attacke auf seinen Chef war ein Höhepunkt auf der Abwärtsspirale. Der Applaus seiner „neuen“ Familie war ihm gewiss, wenn er davon erzählte.
„Recht so!“ „Geschieht ihm recht, dem Kapitalistenschwein.“ „Darauf trinken wir einen.“
Und Fuzzi, der selten mehr als ein Wort am Stück sprach, sagte immerhin „der Hammer.“ Mit der Zeit dampfte sich das aber auf ein einsilbiges „d‘Hamm…“ ein.
Wenn die Erna mich nicht rausgeschmissen hätte, wär’s nie dazu gekommen. Dann die fristlose Kündigung … klar … aber die Strafanzeige? Und das Bild in der Zeitung mit der Bildunterschrift „Der Paintball-Killer.“ Wie soll man da noch einen Job kriegen? Und das Schmerzensgeld. Fünftausend an Wutke. Fünftausend! Das muss ja keiner wissen.
Dem Trommler rutschte der Schlägel aus den Fingern und traf eine der Heilsarmeesoldatinnen und wischte ihr die Mütze vom Kopf. Die Zuhörer lachten. Blockwart, Atze und Moppelchen grölten. Niedermeiers Lachen war nur ein leichtes Ausstoßen der Luft durch die Nase. Amüsant. Wann hab‘ ich eigentlich richtig laut gelacht? Nicht mehr seit Maria-Luisa weg ist. Erst recht nicht mehr seit dem Brief vom Florian. Das war die Erna. Die hat den Jungen dazu angestiftet. „Papa, bitte komm nicht mehr jede zweite Woche.“ Wie kommt ein Kind dazu so was zu schreiben?
Er hörte Ernas Gezeter, „Du kannst nicht sagen, ‚wir gehen in den Zoo‘, und dann nur in der Zookneipe rumhocken.“ Dabei waren wir vorher bei den Affen und den Elefanten. Niedermeier zog ein abgegriffenes Foto von einem zehnjährigen Jungen und einem fünfjährigen Mädchen aus der Tasche. Und jetzt ist der Junge Anwalt. Er schüttelte den Kopf. Irgendwas Gutes muss er doch von mir haben ...
Schön, das mit dem Klauen war … naja ... Aber die Belehrungen von diesem arroganten Sack von Richter ... die hätte er sich sparen können.
Ach so, jetzt fällt ‘s mir wieder ein. Drummer Boy. Bald ist ja Weihnachten. „Pa rum pum pum pum“. Da hat Maria-Luisa immer mitgesungen. Wieso musste ich damals mit ihr auf den Weihnachtsmarkt gehen? „Papa, da vorne ist der Streichelzoo.“ Einen Augenblick nicht aufgepasst … Sie wär` jetzt vierundzwanzig …
Wenn ich wenigstens den Florian nach all den Jahren mal sehen könnte. Aber nicht mal an Weihnachten … Vielleicht, wenn ich den Entzug mache? Obwohl, Atze war schon dreimal weg. Und jetzt schluckt er alles, was er kriegen kann.
Trotzdem, ich mach’s! Es muss sein. Meine Entscheidung steht fest. Der Käpt‘n fährt mich ja hin. Und über ’n Winter ist das nicht so schlecht. Besser als Platte machen. Es sei denn, man wird dauernd rumkommandiert. Okay. Ich zähle jetzt bis hundert, dann entscheide ich mich.
Die Kapelle war fertig. Die uniformierten Musiker packten zusammen.
… siebenunddreißig, achtunddreißig …
Der Heilsarmeekapitän kam auf ihn zu und machte eine einladende Handbewegung. „Komm. Gehen wir!“
In diesem Moment legte sich eine Hand auf Niedermeiers Schulter. Er drehte sich um. Fuzzi stand grinsend neben ihm und streckte ihm eine Dose entgegen. „Bier?“
„Heute nicht.“