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Nie so viel gewollt
Ich nippte an meinem Rotwein. Es war ein kalter Novemberabend. Der Regen prasselte gegen die Scheiben, der Wind heulte ums Haus und ich war froh, nicht alleine sein zu müssen. Während des Films hatte mich Daniel beiläufig gefragt, ob ich bei ihm übernachten wolle, und ich hatte ja gesagt. Zuhause würden mich Anrufe von Simon erwarten und das war das Letzte, wonach mir zumute war. Simon hatte meinen besten Freund nie gemocht. Schon während unserer Beziehung waren ihm meine Treffen mit Daniel verhasst gewesen und jetzt, nach der Trennung, waren sie es erst recht.
Ich trank noch einen Schluck. Daniel kannte diese Momente, in denen ich nur meinen Gedanken nachhängen wollte, und er respektierte sie. Ich dankte ihm innerlich dafür. Nach der Trennung hatten wir oft stundenlang miteinander telefoniert oder ich bei ihm übernachtet. Heute aber wollte ich nicht über Simon sprechen. Der Abend war zu schön gewesen, um ihn dadurch zu zerstören. Ich stellte das leere Glas auf den Couchtisch. Ein Blick auf die Uhr verriet mir: Mitternacht vorbei. Ich rückte ein wenig näher an Daniel heran.
Schrilles Telefonklingeln durchbrach die Stille und ließ uns beide zusammenfahren. Zögernd griff Daniel nach dem Hörer. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich.
»Ruf mich bitte nicht mehr um diese Uhrzeit an«, zischte er und legte auf.
»Simon?«, fragte ich leise, obwohl ich die Antwort wusste. Er nickte. Die gemütliche Stimmung war verschwunden.
Ein paar Minuten lang saßen wir da, ohne etwas zu sagen.
»Es tut mir Leid«, brachte ich schließlich hervor. Daniel winkte ab. Mir brauchte nichts Leid zu tun. Ich wusste das, aber es belastete mich trotzdem, dass Simon so weit gegangen war und meinen besten Freund belästigt hatte. Meinetwegen belästigt hatte. Ich schmiegte mich an Daniel. Er fasste meine Hand und spielte mit meinen Fingern; eine beruhigende Geste, die ich so gerne mochte. Der kleine Zeiger der Uhr rückte auf die Eins vor. Das Ticken war das einzige Geräusch im Zimmer. Durch meine Kleidung hindurch fühlte ich Daniels Wärme und, wenn ich mich ganz nah an ihn drängte, seinen Herzschlag. Regelmäßig wie seine Atemzüge. Seine Hand fuhr meinen Arm entlang. Eine unendlich vertraute Berührung, tausendmal gespürt ... doch heute durchlief mich ein Kribbeln. Mein Herz klopfte schneller. Unsere Blicke trafen sich. Einen Moment lang hielt ich stand, ehe ich den Kopf senkte.
Ich kann bis heute nicht sagen, was ich in seinen Augen gelesen habe. Vielleicht alles, vielleicht auch nichts.
Womöglich habe ich in jener Nacht etwas verloren, als ich den Blick abwandte. Aber vielleicht ist wichtiger, was ich behalten habe.