Nie mehr
Sieht so ein zufriedener Mensch aus?
Tom stand vor dem Spiegel und blickte sich mit einem starren Blick an. Auf dem kleinen Tischchen im Flur, der unter dem Spiegel stand, lag der offene Umschlag und daneben der Brief, der alles gut zum Guten wenden sollte.
Der Mensch im Spiegel versuchte nicht zu blinzeln, bis das Jucken in den Augen zu schlimm wurde. Er schloss kurz die Augen, doch sein Bild war so deutlich zu sehen, als hätte er sie geöffnet. Ein alter, zerbrochener Mann mit einem ungepflegten Bart, ungesunder erdbeerporiger Haut und einer roten Nase.
Der viele Alkohol und die vielen Zigaretten der letzten Jahre zollten ihren Tribut. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Wrack.
Mit einem leisen Seufzen wendete er sich vom Spiegel ab und griff lustlos den Brief und trug ihn halb zerknüllt in der Hand in sein kleines Wohnzimmer. Seit mittlerweile drei Jahren wohnte er in einem 26qm großen Apartment, dass die Sozialhilfe mit finanzierte. Er schmiss den Brief auf den kleinen, hölzernen Wohnzimmertisch, der vor seiner Couch stand. Diese war noch aus der guten Zeit, als Tom glücklich war.
Tränen stiegen in seine Augen, als sein Blick auf das kleine Bild fiel, das ebenfalls auf dem Tisch stand. Es zeigte ein junges Mädchen mit einer Brille und einer Zahnspange, die frech in die Kamera blickte, als wollte sie sagen: `Nicht weinen, dass machen doch nur Babys.`
Tom nickte:" Ich weine doch gar nicht, mein Engel. Es ist alles gut. Sie haben ihn gefasst."
Das Bild hatte sich nicht verändert und doch schien das Mädchen sagen zu wollen.
`Das ist nicht das was ich wollte. Ich wollte, dass du trotz allem wieder Freude in dein Leben lässt. Er kann dir mich nehmen, aber er kann dir nicht die Erinnerung nehmen.`
Zwei große Tränen tropften auf den löchrigen Teppich.
"Du warst schon immer so viel klüger als ich. Die Erinnerung an dich, war immer das, was mich am Leben hielt. Ich dachte nun, wo das Schwein hinter Schloss und Riegel ist, wird es wieder gut."
Wie eine verzerrtes Bild in der Ferne kam ihm die ganze Tragödie ihres
Verschwindens vor über vier Jahren wieder ins Gedächtnis und der Anruf der Polizei zwei Tage danach.
`Wir haben sie gefunden. Es tut uns sehr leid, Herr Wagner." Es ging wohl noch weiter, doch Tom konnte sich nicht mehr erinnern.
Die Identifikation, die Beerdigung, die Tage und Wochen danach, er konnte und wollte sich nicht erinnern. Seine Frau hatte sich kurz danach von ihm getrennt und lebte bereits in einer anderen Stadt. Mehr wusste er auch nicht und es interessierte ihn auch nicht.
Er entwickelte einen Fanatismus, den Mann zu finden, der seiner Tochter das
angetan hatte und er war gut darin. Immer wieder schaffte er es, neue Anhaltspunkte zu finden, damit die Polizei den Fall nicht ad acta legte, bis heute die Bestätigung in Form eines computergetippten Brief mit Siegel Polizeidienststelle bei ihm eintraf. Sie hatten den Mann gefunden. Ob er nun schlussendlich dazu beigetragen hatte, sagte das Schriftstück jedoch nicht.
"Darauf habe ich so lange gewartet, mein Engel." sagte er mit einem liebevollen Blick zu dem Bild. Er griff zu einem braunen Behältnis voller weißen Tabletten und schüttete sich alle in die Hand und nahm sie eine nach der anderen. Eine halbvolle Bierflasche diente zum Runterspülen. Während er langsam einschlief, schien das Bild zu sagen `Bis bald Paps. Ich warte auf dich.`.
Tom schlief mit einem Lächeln ein. Wie ein zufriedener Mensch. Zum ersten Mal seit vier Jahren.