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Nie mehr allein
"Es ist einfach nicht richtig, daß ein anständiges junges Fräulein wie sie Geschlechtsverkehr mit dem eigenen leiblichen Bruder treibt!", stellte meine alte Mutter eines Tages lautstark fest, "Es ist schlicht und einfach unchristlich!"
Sie meinte natürlich meine Freundin Lotte, die nun bei mir wohnte und drüben in meinem Zimmer hoffentlich noch schlief.
Unchristlich? - Als ich vor zwei Jahren den Bookmark "Weltanschauungs-Systeme des zweiten gregorianischen Jahrtausends" auf ihrem Navi fand, da hätte ich eigentlich ahnen sollen, daß die Arme langsam ihren Geist aufgibt. Andererseits ist allgemein bekannt, daß alte Menschen manchmal einen kindlichen Verstand annahmen, und ich schätze alle Kinder lieben eine gute Märchengeschichte.
Ich sagte nichts, nahm nur den frischgebrühten Ersatz und schaltete meine Zimmertür hinter mir aus.
Lotte war, wie sie mir erzählt hatte, aus der Klinik geradewegs in die Anstalt eingeliefert worden, wo sie zwei Wochen in Einsamkeit und unter Medikation verbrachte. Sofort im Anschluß daran, und das machte mich auf seltsame Weise stolz, kam sie zu mir, ihren ganzen Besitz in einem rosa Plüschrucksack an den Rücken geschnallt: außer ein paar Klamotten war es sonst nur ihr Computerzubehör. Sie hatte zu dieser Zeit schon lange nichts mehr von sich hören lassen, doch als ich ihr gestern, wie sie so naß und müde lächelnd auf unserer Treppe stand, in ihre tiefen himmelgrauen Augen blickte, da sah ich auch ziemlich genau, was mit ihr geschehen war.
Sie hatte nicht auf meinen Rat gehört.
Ihren Bruder Lemke habe ich niemals wirklich ausstehen können. Er hatte eine äußerst unedle Natur, die sich besonders dadurch auszeichnete, daß er seine Niederträchtigkeit nie offensichtlich werden ließ, sondern geradezu meisterhaft verstecken konnte, und nur ab und zu in fiesen kleinen Anspielungen an ihr auszulassen pflegte, die fast schon wie harmlose Beobachtungen fielen, doch unfehlbar jedesmal ihren Lebensnerv trafen. Es war offensichtlich, daß er sie körperlich und gefühlsmäßig beherrschte. Allein schon an der Tatsache, daß sie so lange bei ihm blieb. Als wäre sie in Wirklichkeit von ihm abhängig, als würde er nicht schon seit Jahren auf ihre Kosten leben.
"Sie haben mir meine Gebärmutter genommen, Jimmy. Es stimmt, sie war schon ein wenig marode, aber sie war mein. Und mein Kleines hat doch schon darin gewohnt. Sie war alles was ich habe, Jimmy." Ihre Augen flatterten nervös, wie immer kurz bevor sie lächelte.
Und dieses liebevolle Lächeln, so bezugslos, fremd und fehl am Platz, in ihrem nackten und aufgedunsenen Gesicht. Und die spröde Heiserkeit in ihrer müden Stimme, stachen mir nun kalt und schaudernd in den Rücken. Sie war so frei von Kunst, so authentisch und mir jetzt so lebensnotwendig, wie die Luft, in der sich die Süße ihres unverfälschten Körpergeruches plötzlich angenehm unnatürlich und ernüchternd mit den komplexen neuartigen Polyaromen des Ersatzkaffees vermischte.
Ich stellte den Kocher auf den Nachttisch neben sie und dachte unabsichtlich daran, daß ihr die Strahlung der eingebauten Mikrowelle nun nicht mehr schaden konnte. Es gab vermutlich wenig, was ihr jetzt noch viel mehr schaden könnte, als die letzten hilflosen Wochen. Sie hatte mir vergangene Nacht das Schlimmste davon schon berichtet. Sie hatte mir den Brief gezeigt, in dem ihr Bruder seinen letzten Abschied von ihr nahm. Ich war Reiniger in der Klinik und wußte was das wirklich hieß. Wußte mit ziemlicher Sicherheit, was sie für weibliche Organe unter der Hand zu zahlen bereit gewesen waren. Und daß ihr Bruder nicht mehr wiederkehren würde. Ihren Krebs heilen zu lassen hätte ihn zu viel gekostet, und so hat er sie ein letztes Mal benutzt.
"Er schreibt, er käme nicht mehr wieder, Jimmy."
Ich wußte nicht, wie ich sie trösten sollte. Ich wollte schweigen und sie küssen, doch würde sie es genauso fühlen können, wie ich selbst? Würde sie das Gefühl in meinen Küssen wenigstens verstehen können? War sie nicht mittlerweile eine Fremde in ihrem eigenen Körper, gegeißelt und vertrieben von ihrem eigenen Fleisch und Blut? Ich hielt hier inne, unterdrückte meinen Drang, sie der alten Liebe wieder auszusetzen, wo sie jetzt so wehrlos war. Sie würde die Sprache meines Körpers schon lange nicht mehr sprechen. Und ich fragte mich, ob ich ihren neuen, fremdartigen Dialekt jemals wirklich lernen würde.
"Er schreibt, daß er das Land verlassen mußte. Weil er die Operation nicht zahlen konnte. Ich weiß nicht; was soll ich jetzt machen, Jimmy. Ich war noch nie alleine. Und ich bin jetzt so alleine, Jimmy!" Und sie fing wieder an zu weinen. Doch auch die Tränen konnten ihr Lächeln nicht ersticken.
"Wer würde mich jetzt noch haben wollen."
Und ich sah es in der glühenden Asche ihrer Augen, in der schlichten Unschuld ihres kindlichen Gesichtes. Ihr Lächeln war echt. Die Wärme ihres Herzens schien unerschöpflich, schien lodernd, wallend: feurig, wie der Mittelpunkt der Welt. In diesem Augenblick wurde mir klar, wie stark das unschuldige Mädchen war, das ich zurecht so lange schon verehrte. Wie viel stärker sie doch war als ich!
Sie würde wieder gesund werden, daß sah man ihr fast an. Sie würde klarkommen, auch ohne mich, auch ganz von selbst. Denn in Wirklichkeit, und ohne es je geahnt zu haben, - war sie allein. Schon ihr ganzes Leben lang.
Ich konnte nicht mehr anders und beugte mich zu ihr, küßte sie vorsichtig auf die kalte Stirn. Und wie sie sich nun dankbar und tief in meine Arme grub, da fühlte ich ihr Herz laut werden und wußte, ich hielt den feurigen, lodernden Mittelpunkt der Welt.
Meiner Welt.