Nichts
Ich spüre die Regentropfen auf meiner Haut. Der leichte Wind streift mir über das Gesicht. Ich schaue nach oben in den Himmel und erkenne den großen Waagen in den Sternen. Wie so oft frage ich mich, was ich an diesem Tag geschafft habe und was ich morgen machen sollte. Die Betonung hierbei liegt auf „sollte“. Hinter allem was ich gemacht habe, mache oder noch machen werde steckt ein Muss und eine Perfektion.
Hast du dich mal gefragt was Perfektion bedeutet? Es gibt keine richtige Antwort. Perfektion ist ein komisches Wort. Es ist in jedem Wortschatz vorhanden, doch gibt es Perfektion eigentlich nicht. Was ist schon perfekt? Nichts, absolut gar nichts kann perfekt sein. Es gibt immer etwas, was man verbessern oder ändern kann.
Während ich meinen Gedanken freien Lauf lasse, laufe ich weiter. Die laute Musik dröhnt durch meinen ganzen Körper. Ich höre den Song „Paralyzed“ von NF. Die lyrics und Melodie lassen mich wie in Trance weiterlaufen. Ich spüre meine Beine nicht und doch schmerzen sie. Mein Herz pocht stechend und mir wird schwindelig. Ich fühle mich als wäre ich high. Ich bekomme nichts von Außen mit. Nicht die Menschen, nicht die Autos die an mir vorbei fahren. Ich bin in meiner eigenen Welt. Ich bleibe kurz stehen und schließe die Augen. Es fühlt sich alles so unrealistisch an. So als wäre nicht ich die, die hier steht, sondern jemand anderes als wäre ich in einer Art Blase und kann mich nicht befreien. Ich zünde mir mit meinen zitternden Händen eine Kippe an und ziehe einen tiefen Zug. Während ich den Rauch langsam ausatme, beobachte ich die knisternde Glut an der Zigarette in der Dunkelheit.
Was das alles bringt?! Absolut gar nichts.
Ich laufe weiter. Einen Schritt vor den anderen. Um irgendwie weiter zu kommen.
Ich kann nicht mehr. Mein Körper kann nicht mehr. Meine Gedanken können nicht mehr. Die Welt hat es geschafft, dass ich am Ende bin. Am Ende angekommen mit mir selbst. Die Angst und dennoch Gleichgültigkeit. Kälte zusammengemischt mit Wärme. Die Leere in mir und dann wiederum die Überflutung und das Gefühl erdrückt zu werden. Das an alles Denken und das an nichts Denken. Sich bei allen melden zu müssen und das sich abschotten zu müssen und für jeden eine Last zu sein. Jeden Tag das Gefühl zu haben nichts gemacht zu haben und wieder einen Tag verschwendet zu haben. Auf der anderen Seite enttäuscht davon zu sein, den Tag überlebt zu haben und nicht an den anderen Tag zu denken. In dieser Art von Luftblase zu leben aus der es Unmöglich zu erscheint auszubrechen und sich selbst zuzusehen wie man den Tag überlebt und immer das gleiche Tut. Sich aufzuregen immer das Gleiche zu machen aber dann keine Lust zu haben irgendwas zu unternehmen und zu erleben. Allein zu sein. Vielleicht auch einsam. Mal allein, mal einsam. Was bin ich? Was macht mich aus? Was zur Hölle mögen sie an mir. Gibt es da überhaupt was oder bin ich einfach nur da? Eine Person die zuhört und sich nicht traut was zu erzählen, weil eh niemand Zuhört oder man sich dumm vorkommt dabei. Wen interessiert schon was von mir? Während ich weiterlaufe überlege ich mir wann das alles angefangen hat. Wann ich eine Enttäuschung für mich selbst und alle anderen wurde. Wann ich mich so verändert habe. Wann ich keine Hoffnung mehr hatte. Wann ich keine Angst, keine Trauer und keine Freude mehr empfand. Wann mir alles egal wurde und wann es mein größter Wunsch wurde, dass dieser Schmerz aufhört und ich gehen kann.
Ich gehe weiter bis ein Auto neben mit anhält. Das Fenster geht runter und eine Hand winkt mich rein. Ich steige ein. Lasse meine Kopfhörer drin und schaue aus dem Fenster.
Irgendwann schaue ich nach links zum Fahrer und sehe einen jungen Mann, der nichtssagend weiter fährt. Er schaut mich an, lächelt kurz und guckt wieder nach vorn. Mein Blick wandert wieder zum Fenster. Ich schließe die Augen und versuche an irgendetwas zu denken doch es geht nicht. Ich sehe nur die Dunkelheit und die Enge in mir und meinem Kopf. Was bedeutet dieses Nichts an Gedanken und Gefühlen? Es bedeutet die Gleichgültigkeit des Lebens. Die Gleichgültigkeit eines Selbst. Das Nichts, das man spürt, wenn es um einen selbst geht oder um nahestehende Menschen. Wenn eine geliebte Person im Sterben liegt und man einfach nichts fühlen kann. Und das macht Angst. Nicht das zu spüren, was man spüren sollte oder so unbedingt spüren will und man nur eine Leere in sich findet, die einen von innen auffrisst.
Irgendwann hält das Auto an und ich sehe im Augenwinkel wie der Fremde aus dem Auto steigt und sich eine Zigarette anzündet. Ich nehme meine Kopfhörer aus den Ohren und steige aus dem Auto. Mir wird die angerauchte Zigarette in die Hand gedrückt und ich ziehe nickend einen Zug. Dann kommt er auf mich zu und umarmt mich fest. Das Nichts was ich vorher spürte, verschwindet langsam und eine seltsame Wärme breitet sich in mir aus.
Wie lange habe ich nichts mehr gespürt? Es kommt Angst in mir hoch, da es für mich mittlerweile ein fremdes Gefühl geworden ist. Ich spüre seine Hände an meinen Narben, die mich mein Leben lang begleiten werden.
Wann war das letzte Mal als ich so eine Art der Wärme verspürte? Doch so schnell wie diese Wärme gekommen war, genauso schnell verschwindet sie auch wieder und die Erinnerungen kommen wieder. Die Gefühle von Angst und Verrat wandern in mir hoch. Ich versuche mich aus der Umarmung zu befreien, doch je heftiger ich mich wehre, desto stärker wird die Umarmung. Ich fühle mich eingeengt. Ich fühle mich hilflos. Ich fühle mich ausgenutzt und missbraucht. Ich habe keine Kraft mehr und lasse die Umarmung über mich ergehen.
Dann öffnen sich meine Augen und ich schaue mich um. Ich spüre wie mich jemand umarmt. Doch als ich begreife, dass mich meine eigenen Arme umarmen und ich alleine auf dem Boden in der Dunkelheit sitze, fange ich an zu weinen. Ich spüre die Tränen meine Wangen hinunter laufen, mein Atem stockt.
Ich bin müde. Müde vom Leben. Müde vom Spielen einer Person, die ich nicht bin. Müde davon aufzustehen. Müde vom Schlafen.
Ich lege mich auf den Boden, schließe mit einem Lächeln im Gesicht die Augen und irgendwann... irgendwann haben mich die Sonnenstrahlen erreicht...