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Nichts
Nichts.
Daran versuchte er zu denken, oder besser gesagt: nicht zu denken.
Wie auch immer, es gelang ihm nicht.
Dienstag Nachmittag, kurz nach dem Aufstehen. Im Schneidersitz hockte er auf dem Teppich in seinem Wohnzimmer.
Er hatte das Buch zur Seite gelegt und versuchte nun, die darin beschriebene Entspannungstechnik anzuwenden.
An Nichts denken.
Entpannung einatmen und Spannung ausatmen.
Aber was war dieses Nichts?
Er versuchte sich vorzustellen, wie er vor einer weißen Wand stand, die sein gesamtes Blickfeld ausfüllte.
Unten hatte ein Kind hingekritzelt: "Klaus ist doof!"
Mist.
Weiße Wand!
WEISS!
Klar und deutlich konnte er die geflochtene Struktur der Glasfasertapete erkennen. Er dachte an seinen letzten schmerzhaften Zahnarztbesuch.
So funktionierte es nicht.
Er versuchte etwas anderes: Ein Apfel.
Ja, er stellte sich einen Apfel vor. Schön und rund und rot und ohne jegliche Druckstellen.
Nur dieser Apfel sollte seinen gesamten Geist ausfüllen.
Er hing zusammen mit vielen anderen an einem Baum, der in einem verwilderten Garten stand.
Verdammt. Nichts sollte es doch sein! Nur EIN Apfel!
Langsam kam der Ärger in sein Bewusstsein gekrochen.
Er war sich nicht sicher, ob er nicht während der letzten Atemzüge Spannung ein- und Entspannung ausgeatmet hatte.
Also versuchte er seinen Atem wieder etwas zu kontrollieren und öffnete seine geröteten Augen.
Hilfesuchend blickte er sich in seinem Zimmer um. Was könnte er sich vorstellen?
Die Uhr auf dem Fernseher zeigte 16:47.
Daneben stand die lachende, strickende Porzellanoma im Schaukelstuhl.
Okay. Das Gesicht seiner Großmutter. Diese Landkarte voller verwinkelter Linien und kompletter Gebirgszüge war komplex genug seinen Geist völlig auszufüllen.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf.
Seine Großmutter hatte immer diese leckeren Bratäpfel gemacht, mit Mandeln. Oh, wie er sie dafür geliebt hatte! Seine Schwester und er konnten meistens kaum noch laufen, wenn sie vom Besuch bei ihr zurückkamen. Seine Schwester hatte sich auch manchmal während der holprigen Fahrt nach Hause übergeben. Dafür bekam sie dann eine Tracht Prügel von ihrer Mutter. Er manchmal auch, weil er der Ältere war...
Das funktionierte auch nicht.
Wieder sah er sich um.
Das Bild links an der Wand zeigte den Sonnenuntergang im Herbst.
Ja. Die Sonne! Er schloss die Augen.
In seinem Geist ließ er die Sonne untergehen.
Langsam aber sicher schob sie sich über den Horizont nach unten. Nachher würde nichts übrig bleiben außer Dunkelheit und Stille.
Er atmete langsam ein und aus, während die Sonne in seinem Geist tiefer und tiefer sank.
Entspannung ein. Spannung aus.
Nur noch ein kleiner Streifen der Sonne leuchtete über dem Horizont, als sich ein Schwarm Vögel kreischend in die Luft erhob.
Verfluchte Scheiße!
Sein Geist schien sich regelrecht dagegen zu wehren.
Er atmete nun schneller als zu Anfang der Übung und war kurz davor es ganz aufzugeben.
Noch ein Versuch.
Er würde einfach zählen und dabei auf seinen Atem achten.
Ausatmen.
1, 2, einatmen.
1, 2, ausatmen.
1, 2, einatmen.
1, 2, ausatmen.
Langsam wurde sein Atem regelmäßiger.
1, 2, 3, einatmen.
1, 2, 3, ausatmen.
1, 2, 3, ... sein Mathelehrer in der Unterstufe war ein regelrechtes Arschloch gewesen. Er hatte die Noten eindeutig nach Sympathie vergeben, und wenn man nicht ein ekelhafter Schleimer war, dann hatte man nie eine Chance über eine Drei Minus hinauszukommen.
Wo kam das denn jetzt her??
Hallo?
Keine Antwort.
Langsam war er sich sicher, dass sein Gehirn ihm ein Schnippchen schlagen wollte.
Aber nicht mit ihm. Er würde dem ein Ende bereiten.
Er telefonierte seine Kumpels zusammen und ging mit ihnen einen saufen.
Irgendwann im Laufe das Abends dachte er dann wirklich an Nichts.
Genau wie am Abend davor.
Was er dabei ein- und ausatmete steht auf einem anderen Blatt.
[ 05.08.2002, 13:49: Beitrag editiert von: braindrain ]