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Nichts

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14.06.2003
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Nichts

Er setzte sich auf, massierte mit einer Hand seine Stirn und fuhr sich durch
die Haare. Gähnend begab er sich, resigniert über den Beginn eines weiteren
Tages, in das Bad, um sich zu duschen.
Er frühstückte. Gelangweilt schob er sich die Corn Flakes in seinen Mund,
kaute und studierte dabei die Ernährungspyramide auf der Packung, die er vor
sich aufgestellt hatte. Sein eigenes Desinteresse kotzte ihn an, und so griff
er sich eine Zeitschrift vom Küchentisch und starrte Bilder von Kriegsopfern,
zerstörten Häusern und hungernden Kindern an. Er betrachtete gerade einen
etwa sechsjährigen Jungen mit aufgeblähtem Bauch, knochigen Armen und Beinen und
Tränen auf dem gepeinigten Gesicht, als er bemerkte, dass er dringend noch
etwas Zucker in seiner Schüssel brauchte, um den Geschmack zu vervollkommnen.
Fünfzehn Minuten später hatte er das Haus verlassen, die Schüssel gespült
und weggeräumt und die Zeitschrift wie ein Mahnmal mitten auf den Tisch gelegt.
Leichter Dieselregen benebelte die Straßen auf seinem Weg zur
Bushaltestelle. Als er ankam, musste er noch etwa sieben Minuten auf den Bus warten, und
so rauchte er noch eine Zigarette bevor das Transportmittel kam und er
einstieg.
Während der Fahrt waren seine Augen auf die vorbeiziehende Häuserfassade
gerichtet, doch er sah nicht wirklich hin. Er nahm die Bilder wahr, doch sein
Verstand kombinierte sie mit nichts. Sie flossen einfach durch ihn durch, und
könnte man nur Gedanken sehen, wäre er unsichtbar gewesen.
In der Schule wandte er antrainierte Muster auf vorgesetzte Zahlen an,
rechnete Fallgeschwindigkeiten von identitätslosen, willkürlichen Objekten aus und
betrachtete das politische System Deutschlands zur Nachkriegszeit. Er nickte
zum richtigen Zeitpunkt bei den Gesprächen mit seinen Freunden, gab seine
fertig durchdachten Stellungnahmen zu den Geschehnissen des Vortages ab und
ärgerte sich über das Gebrüll der Unterstufe. In seiner Freistunde trank er
einen Kaffee und ärgerte sich über die seit der Euroeinführung gestiegenen
Preise.
Ereignislos verlief auch die Rückfahrt. Wieder zuhause nahm er eine
Kopfschmerztablette, um den leichten Druck auf die Stirn loszuwerden, und bereitete
sich ein Mikrowellenessen zu. Mit einer Tasse Instant-Cappuccino setzte er
sich vor seinen PC, spielte einige Stunden ein langsames Strategiespiel und sah
dann etwa 40 Minuten lang dem Treiben eines Chatraums zu, ohne auch nur eine
Zeile zu schreiben.
Gegen 18:00h rief eine Freundin an, um zu fragen, ob er noch mit in eine
Kneipe wolle, doch er verneinte. Seine Hausaufgaben warteten noch auf ihn.
Er erledigte sie in einer halben Stunde. Lieblos schrieb er die Lösungen auf
Zettel, die er dann in seinem Ordner abheftete. Die Hausaufgaben waren nicht
gut gelöst, aber immerhin hatte er sie überhaupt erledigt.
Er sah sich im Fernseher noch belanglose, politische Talkshows an, bevor er
auf die überdachte Terrasse ging, um seine letzte Zigarette zu rauchen.
Seine Nachbarin sah nur, wie er auf der Terrasse rauchte, seine Zigarette
ausdrückte und wieder in die Wohnung ging. Mehr konnte sie der Polizei am
nächsten Nachmittag auch nicht sagen. Er sah genauso gelangweilt aus wie immer.
Für ihn war die letzte Zigarette ein Sturm ohne Wind. Nichts schien von
Bedeutung zu sein, nichts erreichte ihn. Sein Leben erschien ihm wie eine
Floskel, ein Dasein ohne Inhalt. Die Vakuumkugel um ihn herum blockte jedes Geräusch
von außen ab, und innen blieb nur die Stille. Er fühlte sich taub, stumpf
und leer.
Nichts erschlug ihn als er die Zigarette ausdrückte, und selbst die
Sehnsucht nach psychischem Schmerz war nicht mehr zu greifen, als er die Terrassentür
hinter sich schloss.
Er sah an sich hinab als er zu seinem Bett ging, doch er war blind.
In der stillen Wohnung konnte er jeden seiner Bewegungen laut hören, doch er
war taub.
Er sah das Bild des Kindes auf seinem Küchentisch, doch er war kalt.
Als er sich in sein Bett legte, sah er noch einen Stapel Briefpapier wie
ungeschriebene Liebesbriefe, doch er konnte nur mit den Schultern zucken.
Er entspannte jeden Muskel, schloss langsam die Augen, und entschlief.

 

Hi Questionmark,

Endlich einmal ein Text ohne Formfehler...
Dein Text hat mir bis zur Hälfte sehr gut gefallen, dir ist es gelungen, den Schein zu erhalten, dass nichts passiert, du beschreibst einen dieser Tage, die mir nur allzu gut vertraut sind.
Sehr spannend ist dann die Stelle "Mehr konnte sie der Polizei am nächsten Nachmittag auch nicht sagen".
Ich dachte zuerst, der Prot sei ein Mörder, die vorangehende Darstellung von ihm hätte durchaus gepasst. Man liest weiter und denkt sich, hmm, wann kommt's denn endlich, bringt er jetzt jemanden um oder so. Nein. Nicht wirklich.
Zwar scheinst du versucht zu haben, alle Gleichgültigkeit auch am Ende weiterzuführen, ja, die Gleichgültigkeit zum Ende zu machen und umgekehrt, aber ganz hat es mich nicht überzeugt.
Dennoch: Deine KG hat mir gefallen!
LG, Kardia

 

Der Text ist gut. Was ihm meiner Meinung nach noch passen könnte, wäre wenn du ihn in der Gegenwart(Präsenz) geschrieben hättest. Ich glaube, das hätte sehr zur Stimmung gepasst.
LG,
delena

 

Hmm, jetzt wo du's sagst, hätte es vermutlich wirklich gar nicht mal so schlecht geklungen.
Bin aber eigentlich kein großer Freund von Geschichten im Präsenz. Bin da wohl eher konventionell. :)
Außerdem finde ich es schwierig, Texte im Präsenz zu schreiben. Sie klingen schnell ziemlich dümmlich (zumindest meine).

 

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