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Nichts ist umsonst

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15.02.2003
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Nichts ist umsonst

Wir pflügen durch die Korridore und stauben ab, was es abzustauben gibt. Die anderen müssen uns für Millionäre halten, oder zumindest für verrückt. Aber die anderen sind uns ganz egal. Maria schnappt sich den Kosmetikspiegel mit Metallgestell, zweihundertneunundvierzig Euro inklusive Mehrwertsteuer, und stopft ihn in den Rucksack zu den beiden Kerzenleuchtern für je hundertneunundzwanzigneunzig, der holzgerahmten Wanduhr und, nicht zu vergessen, der marokkanischen Kalifa-Messinglampe für dreihundertneunundfünfzig Euro. Und das ist längst nicht alles.

Wir hinterlassen Schneisen, wo kurz zuvor noch Waren aus Regalen quollen; hinter uns gibt’s nicht mehr viel zu kaufen. Nur das, was wir nicht haben wollen oder was zu groß für unseren Rucksack war. Das ist wie Weihnachten im Paradies. Maria ist so glücklich. Sie wirbelt durch die Gänge, lacht und singt und tanzt, und ihre roten Wangen leuchten durch den ganzen Laden.
„Heeey!“, schreit sie mir über zwei Regalreihen voller Haushaltsartikel zu. „Ich schenke dir den Haartrockner mit vier Luftgeschwindigkeiten, Ondulierdüse und separater Kalt-Taste für vierundfünfzigneunundneunzig!!!“
Und während sie schon weitertänzelt, kreischt sie fröhlich vor sich hin:
„Unverbindliche Preisempfehlung!“

„Toll“, rufe ich zurück. „Ich würde dir ja ein paar Sterne schenken, aber irgendwie sehe ich hier keine.“
„Egal“, brüllt Maria. „Ich will gar keine Sterne. Ich will eine sechsflammige Nickeldeckenleuchte, dreh- und schwenkbar, wenn es geht.“

Kannst du haben, denke ich und stürme ihr nach in die Schreibwarenabteilung. Wo ich ein paar Farben einstecke. Blautöne vor allem. Ich hoffe, dass es dabei ist. Das Blau, das ich ihr versprochen habe. Das vom Himmel.
Langsam wird der Platz im Rucksack knapp. Macht nichts. Wir holen einfach einen neuen.

Unterwegs greife ich mir den größten Rucksack, den man hier kriegen kann. Einen mit höhenverstellbarer Deckelklappe, Faltseitentaschen und und und, in Pastellgrün, für nur hundertneunundachzigneunzig. Ein wahres Schnäppchen.

Das ist so toll, sage ich. Als hätten wir die Welt geerbt. Als hätten wir unseren eigenen Untergang verpasst. Fühlt sich an wie einer dieser Endzeitfilme, wo Menschen in Einkaufszentren leben und gewaltige Funkgeräte bauen, um herauszufinden, ob es da noch jemanden gibt, mit dem sie reden können, jemanden - ...
Und eigentlich will ich noch viel mehr sagen, kann es aber nicht, weil Maria mir ihre Zunge in den Mund geschoben hat.
Manchmal brauchen wir nicht mal Sprechblasen, um uns zu unterhalten. Wir verstehen uns super, lippenlesend, augenzwinkernd, himmelskörperdeutend.

Erst an der Kasse gibt’s Probleme. Der Kassiererin mangelt es an Einsicht. Sie will wissen, was wir in den Rucksäcken haben. Und wieso wir mit einem Rucksack rein- und mit zwei wieder rausgelaufen kommen. Wir zucken nur die Schultern, zumindest ich, Maria nämlich behält, als die Kassiererin immer neue Fragen stellt, ihre Schultern einfach oben, sodass ihr Kopf ein bisschen in ihr selbst versinken kann.

Die Kassiererin hat einen viel zu kleinen Mund, aus dem viel zu viele Worte kommen. Ich wusste gar nicht, dass ein Mund so schmal sein kann, ich muss an einen Münzschlitz denken, ein modischer Münzschlitz mit Lippenstift am Rand.
Ich warte darauf, dass sie endlich aufhört mit dem Fragenstellen, mit diesem fürchterlichen Rumgezeter. Vielleicht ganz plötzlich, zack, mitten im Satz, wie ein Automat, der erst wieder mit Kleingeld gefüttert werden muss.

Maria will den Rucksack nicht ausleeren. Dann schon eher jene Päckchen hinter den Augen, wo sie ihre Tränen aufbewahrt. Sie weint. Wir stehen an der Kasse, ziemlich eingekeilt, vor uns die Kassiererin, im Nacken eine Riesenschlange. Die Leute werden ungeduldig. Aber wenn Maria weint, dann weint sie richtig. Aus dem Deckenlautsprecher rieselt Musik auf unsere Köpfe. Irgendwelche Oldies, verstorbene Musik, Beerdigungsgedudel. Akustische Asche auf mein Haupt. Uuu-hu-hu you were my e-he-he-verything!
Ich versuche sie zu trösten. Nichts ist umsonst, sage ich.
Nur der Tod, ruft der Filialleiter mit bedeutungsschwerer Stimme.
Ich habe ihn gar nicht kommen sehen.

Scheinbar sieht nun auch er die Notwendigkeit zu handeln. Immer wieder wirft er sorgenvolle Blicke auf das Menschenschlangenungetüm, das in erstaunlich kurzer Zeit hinter uns entstanden ist. Auch er will Maria trösten.
Nun ja, sie könne die Sachen eigentlich behalten. Unter einer Bedingung. Aber da hatte sie schon akzeptiert und mich somit ganz nebenbei verpflichtet, beim Kistenstapeln auszuhelfen, bis ans Ende meiner Tage. Tja, sagte der Filialleiter. Nichts ist umsonst.
Wir zuckten beide. Ich zusammen. Maria nur die Schultern.

Im Nachhinein sieht es so aus, als hätte sie mich sitzen lassen. Besonders weil sie ja jetzt einen Neuen hat, einen, der ihr wirklich teure Sachen schenkt. Die sie mir dann zeigt. Aber das macht mir nichts aus, wirklich nicht. Am Wochenende sehen wir uns ja immer noch. Manchmal zumindest, wenn sie Zeit hat, und Lust.

Ich staple jetzt also Kisten. Ich weiß nicht, was in den Kisten drin ist. Irgendwelche Geräte, nehme ich an, aber aus den Zahlen auf den Etiketten werde ich nicht richtig schlau.
Der Lagerraum ist ziemlich vollgestopft und dunkel, dazu sehr still. Es ist dort wohl so ähnlich wie im Inneren eines Fernsehapparates. Das Leben spielt sich an der Oberfläche ab, irgendwo anders jedenfalls. Im Großen und Ganzen ohne mich.

Manchmal, wenn es besonders still und dunkel ist und ich mich frage, ob wir Montag oder Dienstag haben, weine ich ein bisschen, aber nur kurz und auch wirklich nur ganz wenig. Weil: Irgendeinen Sinn wird es schon haben, das Kistenstapeln, das Regale-Abstauben und all das. Ganz umsonst mache ich diesen Mist hier sicher nicht. Denn nichts, aber auch gar nichts, ist umsonst.

 

hallo wolkenkind,

wieder einmal eine geschichte von dir!
und ich muss sagen, dass sie mir gefallen hat (zwar nicht so, wie damals ... *hehe* - alte kamellen aufwärmen).
die spannung ist garantiert! klar, wie kann ein mensch oder 2 so viele sachen mitnehmen, wenn der schreiber die millionären und die endzeitthese bereits ausschliesst *smile*?
dann die lösung: aufopfernde liebe und illusion!
nicht real, aber malerisch schön. eine typische wolkenkindgeschichte. typisch deine bildhafte erzählung.
es war mir eine freude, sie zu lesen.
bis dann

barde

hunderneunundzwanzigneunzig

ich bin mir jetzt nicht sicher, aber ich meine mich erinnern zu können, dass hunderter getrennt geschrieben werden. "hundert neunundzwanzig neunzig"
aber das "t" hinter "hunder" fehlt auf jeden fall *smile*!

nicht zu vergessen, der marokkanischen Kalifa-Messinglampe

bor - wat falsch!!! "die marokkanische Kalifa-Messinglampe"

Wir hinterlassen Schneisen, wo kurz zuvor noch Waren aus Regalen quollen, hinter uns gibt’s nicht mehr viel zu kaufen.

hinter "quollen" würde ich lieber einen punkt sehen, oder wenigstens ein semikolon!

Wir hinterlassen Schneisen, wo kurz zuvor noch Waren aus Regalen quollen

sie kaufen alles mehrfach, oder soll das eine literarische übertreibung sein?

 

Hallo Christoph.

Mir hat deine Geschichte leider kaum etwas gesagt, vom inhaltlichen her wieder mal sehr skuriel. Damit kann ich persönlich leider wenig anfangen. :o

Stilistisch ist es wie immer wunderbar. Die verwendeten Bilder überzeugen und auch sprachlich gibt es nichts zu meckern.

Der Text ist fließend und hat eine tolle Grundstimmung.

Nimm es dir bitte nicht zu Herzen, dass ich mit dem Inhalt nicht wirklich etwas anfangen konnte. Diese Art zu schreiben hat sicher ihren ganz eigenen Fanclub.

Liebe Grüße
Steffi

 

Danke für die Antworten, Barde und Steffi

Sicher ist die Geschichte etwas skurril, realistische Geschichten gibts hier aber genug, und auf der abstrakten Ebene fühle ich mich sicherer :)

Mit den ausgeschriebenen Preisen bin ich auch nicht ganz glücklich, aber anders gehts wohl nicht. Dadurch wird leider der vierte Satz etwas unübersichtlich, aber der Artikel bei der Messinglampe müsste eigentlich stimmen (stopft ihn in den Rucksack... zu der marokkanischen...)

Und ja, vielleicht "kaufen" sie alles mehrfach :)

Gruß
Christoph

 

das ende ist schlecht. wirklich- ziemlich sinnlos; da sehe ich nicht das wertvolle, nicht-umsonste.

diese kitschigen metaphern sind blöde. also- sterne vom himmel holen, blau des himmels. himmel, hilf.

der tempowechsel gegen ende, die diskrepanz zwischen im vergleich zu davor viel weniger buchstaben auf der einen und viel weniger zeit auf der anderen seite, ist etwas unangenehm zu lesen.

die geschichte ist ein bisschen sinnlos.

das eigentlich interessante finde ich, das ich die geschichte trotz dieser kritikpunkte ziemlich geil finde.
das liegt vor allem an der geschwindigkeit der sprache; an bestimmten stilelementen, wie zb den riesigen, ausgeschriebenen geldsummen (ich find die toll!) und den tollen features der produkte.
(da ist der fanclub...)
auch daran, dass die geschichte so modern ist.
und dass ich sinnlose, etwas ziellose und übertriebene und ätzende geschichten mag.

mein fazit: die ersten paar absätze sind vielleicht nicht genial und perfekt, oder doch, man weiß es nicht?, aber vollkommen mein geschmack. danach baut die geschichte ins nirgendwo ab.

"Als hätten wir unseren eigenen Untergang verpasst" - toller satz. triffts irgendwie. was auch immer.

 

Hi

Danke fürs Lesen und den Kommentar. Ich verteidige meine Geschichten zwar immer ungern, aber wenn das Wort Kitsch auftaucht, werd ich doch nervös. Sicher ist das mit den Sternen kitschig, aber das wird immer nächsten Satz ja gleich ins Lächerliche gezogen, neutralisiert sozusagen.

Das mit dem Blau des Himmels spielt auf das Sprichwort "Das Blaue vom Himmel versprechen" an, und ich mag schwer zu durchschauende Wortspiele nun mal :)
Die ganze Aktion ist objektiv natürlich vergeudete Liebesmüh, total umsonst, aber der Prot sieht das eben anders, meine Prots sind sowieso selten ernst zu nehmen.

Naja, nehme deine Antwort trotzdem mal als eingeschränktes Lob. Und ja: Bei der nächsten Geschichte wird alles besser :)

Gruß
Christoph

 

nix eingeschränkt, ich find die geil. die geschichte.

trotzdem: auch wenn du den kitsch selbst kitschig findest- er bleibt da und ist auch nicht wirklich ironisiert worden.

 

Hallo Christoph,

also den Inhalt Deiner Geschichte finde ich diesmal wirklich sehr abstrakt. Ich fange lieber gar nicht erst an, nach dem Wieso und Warum zu fragen.:D
Trotzdem hab ich sie gerne gelesen, weil mir einfach Dein spezieller bildhafter Schreibstil so gut gefällt.
Auch diesmal sind wieder ein paar ausgefallene schöne Formulierungen dabei.

LG
Blanca

 

Hi Blanca

Freut mich, dass du die Geschichte trotzdem gelesen hast. Beim Stil geb ich mir ja ehrlich gesagt auch nur soviel Mühe, damit man vielleicht doch mal über den Inhalt nachdenkt, als Lockmittel sozusagen :)
Naja, die nächste Geschichte wird wieder greifbarer.

LG
Christoph

 

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