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Nichts ist umsonst
Wir pflügen durch die Korridore und stauben ab, was es abzustauben gibt. Die anderen müssen uns für Millionäre halten, oder zumindest für verrückt. Aber die anderen sind uns ganz egal. Maria schnappt sich den Kosmetikspiegel mit Metallgestell, zweihundertneunundvierzig Euro inklusive Mehrwertsteuer, und stopft ihn in den Rucksack zu den beiden Kerzenleuchtern für je hundertneunundzwanzigneunzig, der holzgerahmten Wanduhr und, nicht zu vergessen, der marokkanischen Kalifa-Messinglampe für dreihundertneunundfünfzig Euro. Und das ist längst nicht alles.
Wir hinterlassen Schneisen, wo kurz zuvor noch Waren aus Regalen quollen; hinter uns gibt’s nicht mehr viel zu kaufen. Nur das, was wir nicht haben wollen oder was zu groß für unseren Rucksack war. Das ist wie Weihnachten im Paradies. Maria ist so glücklich. Sie wirbelt durch die Gänge, lacht und singt und tanzt, und ihre roten Wangen leuchten durch den ganzen Laden.
„Heeey!“, schreit sie mir über zwei Regalreihen voller Haushaltsartikel zu. „Ich schenke dir den Haartrockner mit vier Luftgeschwindigkeiten, Ondulierdüse und separater Kalt-Taste für vierundfünfzigneunundneunzig!!!“
Und während sie schon weitertänzelt, kreischt sie fröhlich vor sich hin:
„Unverbindliche Preisempfehlung!“
„Toll“, rufe ich zurück. „Ich würde dir ja ein paar Sterne schenken, aber irgendwie sehe ich hier keine.“
„Egal“, brüllt Maria. „Ich will gar keine Sterne. Ich will eine sechsflammige Nickeldeckenleuchte, dreh- und schwenkbar, wenn es geht.“
Kannst du haben, denke ich und stürme ihr nach in die Schreibwarenabteilung. Wo ich ein paar Farben einstecke. Blautöne vor allem. Ich hoffe, dass es dabei ist. Das Blau, das ich ihr versprochen habe. Das vom Himmel.
Langsam wird der Platz im Rucksack knapp. Macht nichts. Wir holen einfach einen neuen.
Unterwegs greife ich mir den größten Rucksack, den man hier kriegen kann. Einen mit höhenverstellbarer Deckelklappe, Faltseitentaschen und und und, in Pastellgrün, für nur hundertneunundachzigneunzig. Ein wahres Schnäppchen.
Das ist so toll, sage ich. Als hätten wir die Welt geerbt. Als hätten wir unseren eigenen Untergang verpasst. Fühlt sich an wie einer dieser Endzeitfilme, wo Menschen in Einkaufszentren leben und gewaltige Funkgeräte bauen, um herauszufinden, ob es da noch jemanden gibt, mit dem sie reden können, jemanden - ...
Und eigentlich will ich noch viel mehr sagen, kann es aber nicht, weil Maria mir ihre Zunge in den Mund geschoben hat.
Manchmal brauchen wir nicht mal Sprechblasen, um uns zu unterhalten. Wir verstehen uns super, lippenlesend, augenzwinkernd, himmelskörperdeutend.
Erst an der Kasse gibt’s Probleme. Der Kassiererin mangelt es an Einsicht. Sie will wissen, was wir in den Rucksäcken haben. Und wieso wir mit einem Rucksack rein- und mit zwei wieder rausgelaufen kommen. Wir zucken nur die Schultern, zumindest ich, Maria nämlich behält, als die Kassiererin immer neue Fragen stellt, ihre Schultern einfach oben, sodass ihr Kopf ein bisschen in ihr selbst versinken kann.
Die Kassiererin hat einen viel zu kleinen Mund, aus dem viel zu viele Worte kommen. Ich wusste gar nicht, dass ein Mund so schmal sein kann, ich muss an einen Münzschlitz denken, ein modischer Münzschlitz mit Lippenstift am Rand.
Ich warte darauf, dass sie endlich aufhört mit dem Fragenstellen, mit diesem fürchterlichen Rumgezeter. Vielleicht ganz plötzlich, zack, mitten im Satz, wie ein Automat, der erst wieder mit Kleingeld gefüttert werden muss.
Maria will den Rucksack nicht ausleeren. Dann schon eher jene Päckchen hinter den Augen, wo sie ihre Tränen aufbewahrt. Sie weint. Wir stehen an der Kasse, ziemlich eingekeilt, vor uns die Kassiererin, im Nacken eine Riesenschlange. Die Leute werden ungeduldig. Aber wenn Maria weint, dann weint sie richtig. Aus dem Deckenlautsprecher rieselt Musik auf unsere Köpfe. Irgendwelche Oldies, verstorbene Musik, Beerdigungsgedudel. Akustische Asche auf mein Haupt. Uuu-hu-hu you were my e-he-he-verything!
Ich versuche sie zu trösten. Nichts ist umsonst, sage ich.
Nur der Tod, ruft der Filialleiter mit bedeutungsschwerer Stimme.
Ich habe ihn gar nicht kommen sehen.
Scheinbar sieht nun auch er die Notwendigkeit zu handeln. Immer wieder wirft er sorgenvolle Blicke auf das Menschenschlangenungetüm, das in erstaunlich kurzer Zeit hinter uns entstanden ist. Auch er will Maria trösten.
Nun ja, sie könne die Sachen eigentlich behalten. Unter einer Bedingung. Aber da hatte sie schon akzeptiert und mich somit ganz nebenbei verpflichtet, beim Kistenstapeln auszuhelfen, bis ans Ende meiner Tage. Tja, sagte der Filialleiter. Nichts ist umsonst.
Wir zuckten beide. Ich zusammen. Maria nur die Schultern.
Im Nachhinein sieht es so aus, als hätte sie mich sitzen lassen. Besonders weil sie ja jetzt einen Neuen hat, einen, der ihr wirklich teure Sachen schenkt. Die sie mir dann zeigt. Aber das macht mir nichts aus, wirklich nicht. Am Wochenende sehen wir uns ja immer noch. Manchmal zumindest, wenn sie Zeit hat, und Lust.
Ich staple jetzt also Kisten. Ich weiß nicht, was in den Kisten drin ist. Irgendwelche Geräte, nehme ich an, aber aus den Zahlen auf den Etiketten werde ich nicht richtig schlau.
Der Lagerraum ist ziemlich vollgestopft und dunkel, dazu sehr still. Es ist dort wohl so ähnlich wie im Inneren eines Fernsehapparates. Das Leben spielt sich an der Oberfläche ab, irgendwo anders jedenfalls. Im Großen und Ganzen ohne mich.
Manchmal, wenn es besonders still und dunkel ist und ich mich frage, ob wir Montag oder Dienstag haben, weine ich ein bisschen, aber nur kurz und auch wirklich nur ganz wenig. Weil: Irgendeinen Sinn wird es schon haben, das Kistenstapeln, das Regale-Abstauben und all das. Ganz umsonst mache ich diesen Mist hier sicher nicht. Denn nichts, aber auch gar nichts, ist umsonst.