Nichts gelernt
1.
„Männer!“, schrie der Oberleutnant auf dem Kasernenhof.
Und Jürgen fühlte ein Gefühl des Stolzes in seiner Brust. Es blähte seine Brust automatisch auf und er nahm einen tiefen Atemzug. Vorher war er nur Schüler, Aushilfe, Sohn und Brötchenholer für die Familie. Aber vorne der, der nannte ihn „Mann“.
„Die nächsten Wochen und Monate werden hart. Sie werden euch vor die Grenze des psychisch und physisch Erfahrbaren bringen. Persönliche Verantwortung heißt auch, mit allem Mut für unsere Werte und Grundvorstellungen einzutreten. Und gerade für euch heißt dies, diese Werte mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Ich erwarte von jedem Einzelnen, treueste Pflichterfüllung, ja, wenn es sein muß, Pflichterfüllung bis in den Tod.“
Ja das war es. Jürgen erschauerte wohlig bei diesen Worten. Zu einem größeren Ganzen zu gehören. Teil dieser Kraft und Macht zu sein. So, wie ein Trofen ins Meer gehört, erst dort seine Erfüllung findet, so gehörte er hier in diese Reihe, kräftiger und kampfbereiter Soldaten. So vollgepackt und bewehrt. So kriegerisch und stramm. So strotzend vor Kraft und Kampfeswillen. Hier war sein Platz. An vorderster Front. Er wird die Heimat verteidigen, zum höheren Ruhme dieses Landes beitragen und für die Freiheit und die Gerechtigkeit kämpfen.
„Wir haben diesen Krieg nicht gewollt. Er wurde uns aufgezwungen. Nun stehen wir in der Pflicht. Gott mit uns. Noch heute werden wir verlegt. Auf das wir Weihnachten wieder zuhause sind. Fünfzehn Null Null abmarschbereit vor der Kaserne. Wegtreten.“
Die Wand aus Uniformen fiel auseinander. Soldaten rannten auf ihre Stuben. Sachen packen, letzte, eilige Briefe schreiben, schnell etwas essen. Noch heute würde es weggehen. Irgendwohin raus in die Welt.
Er würde auf der Seite der Guten gegen die Bösen zu Felde ziehen. Die Welt war einfach und er sah sich mit dem Gewehr und aufgepflanztem Bajonnet vorauseilen in eine Wand aus Nebel und Pulverdampf; laut schreiend und todesmutig. Den Schweiß auf der Stirn, die Uniform dreckig vom Schlamm. Er würde siegreich nach Hause kommen. Paraden. Und sie würden stolz auf ihn sein. Sein Vater, seine Mutter, seine Freundin, denn er hatte sich auf dem Felde bewiesen. Er war ein ganzer Mann geworden und dieses Gefühl erfüllte ihn gänzlich, machte ihn stolz. Er zog sein Kinn etwas an und straffte seinen ganzen Körper. Er war sicher, Gott war mit ihm, so wie alles Gute mit ihm war. Er vertrat es, nein, verkörperte es. So, wie Clausewitz das schrieb.
2.
Seit 2 Monaten lagen sie in ihrer Stellung. Stellung war sehr schmeichelhaft ausgedrückt. Wie die Ratten hatten sie sich in die Erde gefressen. Laufgräben mit dem Spaten gebuddelt. Unterstände aus Vierkantbalken und mit Stroh darinnen gebaut. Sie waren selbst Ratten geworden. Lichtscheu, gefährlich und gemein. Dreckig, verlaust und nur noch vom Überlebenswillen getrieben. Ein Drittel der Kompanie war auf Wache, lugte durch die winzigen Löcher der Sandsackbarrieren auf dem Grabenrand. Alle 10 Meter einer. Die anderen pennten, entlausten sich, aßen was. Wenige schrieben nach Hause.
Die Hälfte von ihnen war verreckt. Irgendwo auf den Kilometern hinter ihnen. Anfangs gab es Begräbnisse mit Trompeten, Sarg und Birkenkreuzen auf dem Grab. Da wurde der Stahlhelm dann noch draufbalanciert. Später kamen Sie einfach in die Zeltbahnen und wurden irgendwo verscharrt.
Wenn heute einer draufging, wie vorhin gerade der mit dem Stirnschuß, ließ man ihn einfach liegen. Und weil schon so viele liegengeblieben waren, stank es überall entsetzlich. Aber das war nicht so schlimm. Schlimm waren die Kälte und der Hunger. Erstunken war noch keiner.
Die gingen an Ruhr drauf. Die gingen an Hunger drauf. Die gingen durch Kugeln, Granatsplitter, Bodenminen drauf. Nee, erstunken war noch keiner.
Jürgen lehnte am Grabenrand und schaute in den Himmel. Tiefblau und rein war der. Hier draußen waren keine Ideale. Hier war nur Elend. Und der Oberleutnant, der mit den schönen Worten, hatte sich nach 4 Tagen schon verpisst. Ja verpisst, dachte er sich. Kam nicht mehr zur Seite bevor die Ketten des Panzers ihn zerteilten. Der hat sich früh genug aus dem Staub gemacht. Der hat das ganze Elend hier doch nicht mehr erleben müssen.
Jürgen fühlte sich verraten. Das hier hatte nichts Menschliches mehr. Es gab keine Kameradschaft, es gab keine Ehre, es gab nur ein Durchkommen.
Vor den Sandsäcken da, begann das Totenfeld. Überall Gliedmaßen, halbe oder zerschossene Körper. Söhne, Brötchenholer.
Er stand den ganzen Tag am Grabenrand, schaute mal in den Himmel und mal auf das Feld vor sich. Er stand da und überlegte, ob er seinem Leben ein Ende machen solle. Er braucht nur über den Rand nach draußen zu klettern und all der Hunger und das Frieren und der Dreck, der seine Seele soweit beschmutzte, bis er nicht einmal mehr wußte, ob sie noch vorhanden war, all das wäre fort. Nur ein paar Schritte und ein gnädiger Schütze dort drüben würde ihn erlösen.
Er tat es nicht.
3.
Ich überlebte Russland. Ich überlebte den Krieg. Ich war Jürgen. Ich war es, weil mich nichts mehr mit dem alten Jürgen zu verbinden scheint. Dem vor dem Krieg. Dem Mißbrauchten und Verratenem. Zuviel ist passiert.
Natürlich waren alles Phrasen. Natürlich haben Sie uns belogen. Heute kann ich Ihnen das einfach erzählen, ohne jetzt Seiten der Enttäuschung, Verzweiflung, Rachsucht füllen zu müssen. Ohne in einen Redeschwall auszubrechen, den doch keiner mehr hören möchte. Ich habe Ihnen, verehrter Leser, einfach 2 kleine Episoden meines Lebens aneinandergereiht. Und glauben Sie mir, selbst da habe ich das Allermeiste weggelassen.
Warum ich das tat?
Weil mir das gerade einfiel, als mein Enkel eben vom Rad stürzte, obwohl ich ihn tagelang ermahnte nicht zu schnell um die Kurve zu fahren. Ich habe es ihm hundertmal gesagt.
Ich weiß, das klingt seltsam.
Nun, nach dem Krieg, wurde viel darüber geschrieben. Was damals in Polen und Frankreich, auf dem Balkan, Norwegen und Russland geschah. Ein Borchert überlebte den Krieg und so, als sei es ein Fingerzeig, bekam er von Gott noch ein paar Jahre, um alles für die Späteren aufzuschreiben.
Aber auch viele andere erzählten, mahnten und warnten. Immer wieder schrieben Sie. Alle. Egal aus welchem Land und sie sagten es dürfe nie mehr geschehen.
Man kann viel über 1939 sagen. Oft wurde ich die Jahre gefragt, warum ich mitgemacht hätte. Oft wurde ich angeklagt. Meist nicht persönlich, sondern über die Darstellung und Interpretation einer Zeit, die heute keiner mehr versteht. Aber schließlich mußten wir es uns letztlich auch anrechnen lassen. Schließlich geht es um Schuld. Schuld kann auch darin bestehen sich nicht auseinandergesetzt zu haben. Das wurde mir einmal vorgeworfen.
Heute wollen Sie Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan schicken, weil Amerika einem Terroranschlag zum Opfer fiel.
Gutgläubige junge Gesichter unter Stahlhelmen schauen auf ihre Vorgesetzten und hören beinahe die gleichen Worte wie wir damals. Auch sie werden alles glauben. Was macht es für einen Unterschied in einer Demokratie, Monarchie, Diktatur oder im Kommunismus in den Krieg zu ziehen? Die Gesichter bleiben gleich. Junge Gesichter. Glaubende Gesichter. Brötchenholer.
Die letzte Berechtigung, die wir durch den Krieg bekamen, Abschreckung zu sein, Beispiel falsch handelnder, fehlgeleiteter, irregeführter Menschen, dieser letzte Sinn, wird mir und tausenden Toten dieser Tage genommen.
So wie mein Enkel, lernt wohl nicht nur der Einzelne, sondern alle miteinander, immer wieder nur durch Erfahrung. Und wieder werden „Männer“ aus dem Krieg heimkehren, alles aufschreiben und warnen. Das Rad dreht sich immer weiter.
Wir haben nichts gelernt.