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Nichts damit zu tun
Nichts damit zu tun
"Geh mal rüber und frag sie, woher sie diese Augen hat!" Ben sah Jerry ungläubig an. "Das ist jetzt nicht sein Ernst, oder?" - "Doch, klar! Und dann sagst du, was immer sie auch sagt: ‚Das ist gelogen. Die hast du aus dem Himmel gestohlen!' Glaub mir, das zieht immer!" Ben sah ihn skeptisch an. "Mach du doch, Mann!"
"Eh zu spät. Die ist weg. Aber stell dich nicht so an. So kriegst'e nie eine ab!" Ben winkte ab, aber bevor ihm eine schlagfertige Bemerkung einfiel, hatte sich Ron eingemischt. "Lass gut sein, Alter. Der Kleine ist noch zu jung. Der hat's eh noch nicht drauf." Ben hob drohend die Faust, aber Ron lachte ihm ins Gesicht. "Du weißt doch nicht, was es heißt, ein Mann zu sein!" - "Aber du, ja? Mit sechzehn!"
Ron sah auf ihn herunter. "Na, was denkst du denn? Klar weiß ich."
Unter Bens skeptischem Blick klopfte er auf den unteren Saum seiner Jacke. "Da hab ich, was man braucht, um ein Mann zu sein." - "Da oben? Sag mal, bist du mutiert, oder was?" Aber anstatt wütend zu werden, lächelte Ron ihn gelassen an. "Ach, du bist dermaßen unterbelichtet, das glaub ich ja gar nicht. Von Sex red' ich doch hier gar nicht." Bei dem Wort ‚Sex' verdrehte er übertrieben genussvoll die Augen und mit einem wissenden Seitenblick zu Jerry klopfte er noch einmal auf seine Jacke. "Ach, er kann's ja meinetwegen wissen, oder? Wenn er quatscht, is' er eh tot." Aber Jerry zuckte nur die Schultern.
"Was kann ich wissen?" Bens Neugier hatte gesiegt. Ron war gefährlich, das hatte er mit mehr als einer Aktion bewiesen, aber offenbar wollte er es ihn ja wissen lassen. Sonst hätte er nichts sagen müssen. Er durfte es nur nicht übertreiben. Jetzt, wo er sie endlich dazu gebracht hatte, ihn mitzunehmen. Weiber-Checken. Was eigentlich nur hieß, in der Stadt rumzuhängen, und für blöde Sprüche abfällige Blicke zu ernten. Aber sich erwachsen zu fühlen.
Ron steckte sich eine Zigarette an, die er mit den Lippen aus der Packung gefischt hatte. Er hielt auch Ben die Schachtel hin. Aber der wehrte ab. Noch. An einem dieser Tage würde er zugreifen müssen. Langsam nervten die Sprüche von Ron. Und wenn er dazugehören wollte, dann mit allem drum und dran.
Er hatte auch einen neuen Namen, seit er hier mit ihnen rumhing. Einen Namen, von dem seine Eltern nichts wussten. "Ben", nicht mehr Michael. Ben war cool, den hatte Jerry sich ausgedacht. Michael Benkowsky. Und dann konnte er auch Ben heißen.
Jerry hatte früher Gerald geheißen. Alles andere, als cool. Und wie Ron früher geheißen hatte, wusste Ben nicht so genau. Jemand hatte neulich gesagt, er hätte mal Robert geheißen. Aber selbst die Lehrer nannten ihn Ron, mittlerweile. Irgendwann würden die Lehrer ihn Ben nennen. Dann, wenn er cool genug war. Das hing alles zusammen und Jerry hatte es ihm erklärt.
Anstatt ihm zu erzählen, wovon er geredet hatte, warf sich Ron in Pose, um einem Mädchen zu imponieren, das gerade vorbeikam. Kopf in den Nacken, ein Bein hochgestellt gegen die Mauer hinter ihm. Er hatte diesen Trick drauf, den Rauch so langsam aus dem Mund quellen zu lassen, dass es richtig unanständig aussah. Aber das Mädchen tat, als hätte sie ihn gar nicht gesehen. Hatte sie aber doch.
"Nun sag schon, Mann! Was hast du da?" Ron wandte den Blick von dem Mädchen ab, als sie um die Ecke verschwand, und sah wieder auf Ben herunter. Dieser verdammte Kopf Unterschied. Ron würde ihn nie ernstnehmen, solange er kleiner war. "Ne Knarre." Die Stimme wirkte beiläufig, so als wäre er furchtbar gelangweilt. "Eine was?" Ben dagegen war alles andere, als gelangweilt. "Eine Knarre? Du meinst doch nicht eine Pistole! Ey, Alter, das glaub ich nicht!"
Rons Blicke sprühten gefährliches Feuer. "So, Kleiner, spitz die Lauscher, ich sag's nur einmal: Das schreist du hier nicht noch mal rum, sonst war's das letzte Mal, dass du mitwarst. Und wenn du mir nicht glaubst, hast du eh Pech gehabt. Also halt die Klappe." Damit wandte er sich wieder ab und zog an seiner Zigarette.
"Ach, hab dich nicht so. Ich bin ja schon ruhig. Jetzt zeig aber her!" Ben war sichtlich bemüht, die Wogen zu glätten. Sich Ron zum Feind zu machen, war alles andere, als schlau. "Nein, ich meine, was ich sage. Zu sehen kriegst du das Teil nicht. Sieh es als Vertrauenstest. Ich sage, du glaubst, alles ist gut." Ron blieb hart.
Als Ron die Zigarette austrat, sah er Jerry von der Seite an. "Hast mal ne Minute?" Jerry nickte nur stumm und folgte Ron, der um eine Ecke gebogen war. Ben wollte den beiden folgen, aber ohne sich umzudrehen, zischte Ron über die Schulter. "Du bleibst, wo du bist, oder du bereust es, Kleiner." Und irgendwie klang sein Tonfall ernst. Hinter der Ecke konnte Ben sie tuscheln hören. Jerry lachte kurz auf.
Ben verrenkte sich den Hals, um in die Nische blicken zu können und etwas zu erkennen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Er sah nur ihre Rücken. Gerade noch rechtzeitig zuckte er wieder zurück und versuchte, unbeteiligt zu wirken, als die beiden sich umdrehten, und zurückkamen. Beide mit einem wirklich zufriedenen Grinsen.
"Was habt ihr gemacht?" Ben konnte sich die Frage nicht verkneifen. "Getauscht", antwortete Ron mit einem selbstzufriedenen Zwinkern in Jerrys Richtung. "Richtig, Mann." Jerry klopfte jetzt auf seine Brusttasche. "Lass uns abhauen. Bringt heut eh nix mehr. Die Weiber ham' heut eh' alle n' Schuss."
Ben trottete ihnen hinterher zur U-Bahn. In der Bahn ließen sich die beiden nebeneinander in einen Vierer fallen und er setzte sich ihnen gegenüber. Das Gespräch zog sich über irgendwas in die Länge. Über einen Typen, den Ben nicht kannte. Deshalb hörte ohnehin nur mit halbem Ohr zu.
Unvermittelt beugte sich Ron zu Jerry herüber, und zischte scharf zwischen den Zähnen hindurch. "Das ist der Typ." Jerry war sofort hellwach und äugte über Bens Schulter hinweg den Zug entlang. "Welcher?" "Der in dem schwarzen Kapuzenpulli." "Bist du sicher?" "Wofür hältst du mich? Das Gesicht vergeß' ich nicht mehr!"
Ben wollte sich umdrehen, um herauszufinden, von wem sie sprachen, wenn er schon nicht wusste, worum es eigentlich ging. Aber ein harter Tritt vors Schienbein ließ ihn zusammenfahren. "Was ist?" Mit zusammengebissenen Zähnen funkelte er Ron an. "Wag ja nicht, dich umzudrehen!" Irgendetwas an seinem Tonfall war so eisig, dass Ben es tatsächlich nicht wagte, nach hinten zu sehen.
"Ein Typ, mit dem Ron sich angelegt hat, vor ein paar Tagen." Jerry hatte irgendwie das Bedürfnis, die Angelegenheit zu erklären. "Ein Dealer, oder so was", fuhr er mit leisem Zischen fort. "Mieser Typ."
"Scheiße, halt die Klappe, Mann. Jetzt hat er uns gesehen!" Ron duckte sich merklich zusammen, so als wollte er unsichtbar werden. "Scheiße, er kommt rüber!" In diesem Moment wurde die Bahn langsamer. "Münsterstraße", verkündete die mechanische Stimme. "Ausstieg rechts." - "Raus!", zischte Ron und zog Ben kurz am Ärmel. Dann wirbelte er herum und flitzte durch die Tür nach draußen auf den Bahnsteig. Jerry und Ben folgten ihm. "Los, lauft! Er kommt!"
Ben lief. Ohne eine Ahnung, vor wem oder was er davon lief, rannte er als erster auf die lange Rolltreppe zu. Er glaubte, dicht hinter sich Jerrys Schritte zu hören. Als die Treppe ansprang und ihn hinauftrug, wurde er langsamer. Die Stufen zehrten Kraft. Er sah sich um und bemerkte nur noch, wie Ron im Laufen nach Jerry griff und ihn zurückhielt, bevor der die Rolltreppe erreicht hatte. Was er ihm zurief, konnte Ben nicht verstehen. Dann duckten sich beide hinter der Balustrade der Treppe außer Sicht.
Ben fühlte den sauren Geschmack im Mund und wollte schreien. Sie hatten ihn verarscht. Wieder mal. Hatten ihn abgehängt und lachten sich jetzt sicherlich kaputt darüber, dass er vor einem Mann weggelaufen war, den es nicht einmal gab. Er wiederstand dem Impuls, der Treppe entgegenzurennen und sie zur Rede zu stellen. Es hätte keinen Sinn. Unten hörte er den Zug wieder anfahren und im Tunnel verschwinden. Ein lautes, irgendwie schnalzendes Geräusch drang herauf, dann noch eins. Aber er konnte sich nicht erklären, woher es kam.
Am Ausgang angekommen, fluchte er leise, und machte sich auf den Heimweg. Von hier aus musste er fast zehn Minuten länger laufen, als von der richtigen Haltestelle, aber um nichts in der Welt wollte er sich zum Affen machen und wieder runter gehen. Die beiden hatten ihn gekonnt hochgenommen. Wahrscheinlich gab es nicht einmal diese Waffe. Gesehen hatte er sie nicht. Und diese Show mit dem Tauschen war auch bloß geblufft.
Seine Mutter war im Wohnzimmer. Er hörte das Radio laufen, aber er schenkte den Wortfetzen wenig Beachtung und holte sich ein Yoghurt aus dem Kühlschrank. Damit schlenderte er schließlich ins Wohnzimmer. Seine Mutter blickte kaum auf und deutete stattdessen auf das Radio. "Furchtbar! Und so was passiert hier bei uns!" Er sah sie unverständig an, dann konzentrierte er sich auf den Sprecher.
"....das Ganze ereignete sich vor nicht einmal einer halben Stunde an einer U-Bahn-Haltestelle nördlich der Innenstadt. Der Pressesprecher der Polizei fasste den Sachverhalt für uns noch einmal zusammen: Eine dreißigjährige Frau, die sich in der anfahrenden U-Bahn befand, wurde von einem Querschläger getroffen und schwer verletzt. Ihr Zustand ist lebensbedrohlich.
Nach ersten Aussagen der ermittelnden Beamten ist nicht klar, was genau vorgefallen ist. Zeugen berichteten von einer Gruppe Jugendlicher, die davongelaufen war, bevor die beiden Schüsse fielen. Wer aber geschossen hat, und ob die Jugendlichen in die Sache verwickelt waren, konnten die Zeugen nicht angeben. Rätselhaft ist vor allem, welche Rolle der von Zeugen ebenfalls beschriebene circa vierzigjährige Mann in dieser Sache spielt. Er war den Jugendlichen nachgelaufen, als diese die Bahn verließen. Weder die Identität des Mannes, noch die der Jugendlichen wurde von der Polizei bisher ermittelt. In Bezug auf den Mann gehen die Aussagen der Augenzeugen weit auseinander. Einig sind sie sich nur darin, dass er zwischen einem Meter fünfundsiebzig und einem Meter fünfundachtzig groß ist und blaue Jeans trug. Die Jungen werden von den Zeugen wie folgt beschrieben..."
Ben sah an sich herunter, während der Radiosprecher seine Beschreibung vorlas und konnte das heiße Blut in seinen Adern spüren. Er hatte mit allem doch nichts zu tun. Das sollte der Mann jetzt sagen, sofort. Stattdessen bat der Sprecher um die Mithilfe der Hörer. "...wenden Sie sich bitte an die nächstgelegene Polizeidienststelle." Unauffällig verzog er sich aus dem Wohnzimmer. Seine Mutter war immer noch kopfschüttelnd auf das Radio konzentriert. Sie hatte nicht bemerkt, dass er genauso aussah, wie der Sprecher es beschrieben hatte.
Polizei. Eine Frau verletzt. Noch waren diese Dinge nicht zu Ben durchgedrungen. Lebensbedrohlich. Weit entfernt. In seinen Ohren wiederholte sich das schnalzende Geräusch. Zweimal. Eine Frau. Wer war der Mann, vor dem sie weggelaufen waren? Und wer hatte geschossen?
Er konnte nicht glauben, dass Jerry geschossen hatte. Aber er hatte die Waffe gehabt. Vielleicht hatte er sie Ron zurückgegeben. Aber alles war so schnell gegangen. Jerry hätte niemals geschossen. Sie waren zusammen aufgewachsen. Jerry würde so etwas nicht tun.
Immer wieder klangen ihm ihre Beschreibungen im Ohr. Unmöglich, dass sie keiner erkennen würde. Neben dem Telefon in der Küche blieb er stehen. Er sollte Jerry anrufen. Dann wüsste er, was geschehen war. Jerry würde es ihm sagen. Trotzdem zögerte er. Anrufen konnte er später. Jerry würde ihm sagen, dass alles gut war. Alles ein Irrtum. Er musste das sagen. So war es ja gewesen.
Bestimmt hatten sie überhaupt keine Waffe gehabt. Sie hatten ihn hochgenommen, wie sonst auch. Irgendwas war schiefgegangen und jetzt waren sie in diesen Scheiß hineingeraten. Sie hatten doch nichts getan. Aber die Frau war verletzt. Wenn sie keine Waffe gehabt hatten, dann konnte das nicht sein. Die Frau war jetzt im Krankenhaus. Wahrscheinlich hatte dieser Typ geschossen. Querschläger haben sie gesagt. Hätte also von überall kommen können. Wahrscheinlich hatte der Typ geschossen. Aber er hatte den Typen gar nicht gesehen. Schwarzer Kapuzenpulli. Davon hatte der Sprecher nichts gesagt.
Er knallte seine Zimmertür hinter sich zu und hieb mit der Faust gegen seine Stereoanlage. Sie hatten damit nichts zu tun. Jerry bestimmt nicht. Und Ron? Ron wohl auch nicht. Nach und nach drehte er den Bass weiter auf und die Musik lauter. Nichts damit zu tun.