Nicht so bald
Es nachtete bereits, als Uriels Blick die weiten Schluchten streifte, die Felsen, die steil und zackig in die Tiefe fielen und an ihrem Fuß vom Meer verschlungen wurden.
„So einsam wählst du den Ort, an dem wir uns begegnen?“
Er drehte sich nicht um, als er sprach. „Gefällt es dir nicht, Schöne?“
„Du weißt doch gar nicht, ob ich noch schön bin, Schnitter.“
„Sehnsucht ist immer schön, ich weiß es. Es kann nichts geben, was ihr je gleich kommen könnte.“ Nun wandte er sich ihrem Antlitz zu, sah sie, im weißen Gewandt der Tugenden Gottes, mit langem Haar und diesen dunklen, grau anmutenden Augen. Wie recht er hatte. Doch wie war sie geworden, was hatte Er aus ihr gemacht? Uriel sah sie bloß an.
„Möchtest du mich nicht berühren, mich verhungern lassen hier?“ Der Wind, der ihn nicht berührte, zerrte an ihren Haaren und Kleidern und ihr Gesicht war feucht vom Regen. „Sag nicht, ich bin umsonst hierher gekommen.“ Sie blickte ihn an und er entdeckte die Veränderung in ihren Augen, auf ihren Zügen, im Klang ihrer Stimme. Die Flügel waren verschwunden und an manchen Stellen war ihre samtene Haut zerschnitten. Sie war jetzt ein Mensch, kein Engel mehr. Gott hatte ihren Verrat an seinem Gesetz bestraft.
Sie wandte den Blick ab und schritt mit ihren bloßen Füßen an ihm vorbei zum den Rand der Klippen. „Ich habe bei Gott für uns beide bezahlt, Uriel. Für eine Liebe, der ich mir jetzt nicht mehr sicher sein kann, wenn ich in deine Augen sehe.“ Dort, wo einst die weißen Schwingen ihren Rücken bedeckten, starrte ihn nun eine klaffende Wunde an. Das Blut, das noch nicht getrocknet war, färbte ihr Gewand dunkel.
„Reust du es?“
„Nein.“ Der Wind wehte so heftig, dass er sie in die Tiefe zu reißen drohte. „Ich werde dich nicht wiedersehen, nicht wahr?“ So hatten ihre Augen ihn noch nie zuvor angesehen. Die Augen eines Engels waren dazu nicht imstande. „Und doch, einmal wirst du es nicht verhindern können. Ich bin jetzt eine Sterbliche.“ Sie lächelte in die Nacht. „Du bist der Tod, der göttliche Tod.“
Er schwieg eine Weile. „Gott gab uns dies letzte Mal.“
„Wie gütig Er ist, der Seinen eigenen Geschöpfen das Lieben nicht gestattet!“ Jetzt schaute sie ihn wieder an und nun ertrug er es nicht mehr, dass sie fern schien von ihm, obwohl sie doch so nah war. Er streckte die Hände nach ihr aus und nahm sie in seine Arme, drückte sie an sich und umschloss sie mit seinen schwarzen Schwingen, auf dass nichts sie erreichen könne, nichts ihr wehtun, sie verletzten oder von ihm fortreißen. Sie fühlte sich beinah an, wie es immer gewesen war, wenn sie sich trafen an Stellen, von denen sie glaubten, sie lägen jenseits der allsehenden Augen des Herrn, und sie sich küssten, einander festhielten, sich liebten, wie es nur die Menschen taten; so, wie es Engeln nicht gestattet war.
Sie verharrten lange still, bis sie wussten, dass es Zeit war. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, blickte sie an und küsste sie sacht auf die Lippen, die jetzt, da sie ein Mensch war, warm waren und nach Leben schmeckten.
Er strich ihr eine Strähne nassen Haares aus der hohen Stirn. „Dass wir uns wiedersehen... Lass es nicht so bald sein.“
Dann war er verschwunden.