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Nicht nichts
Beine in Hosen, unter Röcken und auf mehr oder weniger lauten Schuhen eilten an ihr vorüber. Hauptbahnhof, Vorplatz, ihr Revier, ihr Kiez, ihre Heimat, wenn es so etwas für sie gab. Ihr Kopf stieß an die Wand und die Sonne blendete, auch durch die eintönige Wolkendecke hindurch. Es war kühl, kam ihr kalt vor und ließ sie an ein bisschen Wärme denken, die aus einer Nadel in ihre Venen strömte und sich wie eine schwere Decke um ihre blasse Haut legte.
Ein Hemd und eine Hose standen in der Ecke mit dem stählernen Aschenbecher. Das Gesicht darüber zog an einer Zigarette, blies Rauch über ein Smartphone hinweg und sah diesen und jenen Beinen hinterher. Ihre Füße folgten mühsam den wenigen Gedanken, die sich auf den Weg machten.
„Hast du noch so eine?“
Das Gesicht bekam einen Ausdruck, der fast neutral wirkte und nicht den üblichen Ekel oder das gewohnte Abwenden trug. Er hielt ihr die Zigarette hin, ungefiltert, selbstgedreht.
„Kannst meine haben.“
Das Papier fühlte sich warm und feucht zwischen ihren Lippen an, als hätten seine sie berührt, zumindest glaubte sie, dass sich Berührungen einmal so angefühlt hatten. Der Rauch, den sie in ihre Lungen saugte, verdrängte die lächerlich vagen Erinnerungen, verdrängte auch die wärmende Decke, aber nicht die Sehnsucht danach. Für ein paar Berührungen, die keiner Erinnerung würdig waren, ließen sich auch heute wieder ein paar Gramm bestreiten. Bestimmt. Ganz sicher.
„Noch eine für später?“
Sie drehte mit übertriebenem Dank eine weitere Zigarette, wagte nicht, den überschüssigen Tabak wieder in die Packung zu stecken oder den Blick zu heben. Ihre zittrigen Hände hielten ihm Tabak und Blättchen hin und ließen los, als er danach griff, obwohl sie gerne festgehalten hätten, was sich nach einem Stück Leben anfühlte. Sie ging ein paar Schritte, sah auf die große Uhr über dem Haupteingang und überschlug die Stunden, die noch ausstanden. Sie steckte sich die Zigarette hinter das linke Ohr und wischte ein paar Strähnen zur Seite, die an feuchter, kalter Haut klebten. Sie roch nicht nach Schweiß, es wehte auch kein Duft vom Bäcker zu ihr rüber oder irgendein Geruch aus dem Gitter, auf das sie sich setzte.
Ihr Griff fand das Besteck in der Hosentasche und legte sich darum, als könnte sie mit einem Wurf reinen Tisch machen, als könnte sie loslassen. Es fehlten nur ein paar Gramm für einen letzten Schuss. Oder einen vorletzten. Das Papier schmeckte nicht nach Tabak und leider auch nicht nach seinen Lippen, wie auch immer die schmecken mochten. Wie auch immer irgendetwas schmecken mochte.
Der abgewetzte, kunstlederne Beutel in der Hosentasche schien an ihrer Hand zu kleben. Der Fluch, der darin wohnte, würde sie auch heute mit seinem süßen Lächeln alle Lippen, jeden Duft und auch Geschmack vergessen lassen.
„Ich bin nicht nichts ohne dich“, dachte sie, zog noch einmal an der Zigarette und umklammerte, was sich so harmlos anfühlte, „aber weniger, viel weniger für mich.“
Ihr Griff löste sich und sie fingerte das Feuerzeug aus der Tasche. Die zweite Zigarette zündete sie an, während die erste noch auf dem Vorplatz verglühte. Ihr Kopf stieß an die Wand und die Sonne blendete, auch durch die eintönige Wolkendecke hindurch.