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Nicht nichts

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08.01.2018
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Nicht nichts

Beine in Hosen, unter Röcken und auf mehr oder weniger lauten Schuhen eilten an ihr vorüber. Hauptbahnhof, Vorplatz, ihr Revier, ihr Kiez, ihre Heimat, wenn es so etwas für sie gab. Ihr Kopf stieß an die Wand und die Sonne blendete, auch durch die eintönige Wolkendecke hindurch. Es war kühl, kam ihr kalt vor und ließ sie an ein bisschen Wärme denken, die aus einer Nadel in ihre Venen strömte und sich wie eine schwere Decke um ihre blasse Haut legte.

Ein Hemd und eine Hose standen in der Ecke mit dem stählernen Aschenbecher. Das Gesicht darüber zog an einer Zigarette, blies Rauch über ein Smartphone hinweg und sah diesen und jenen Beinen hinterher. Ihre Füße folgten mühsam den wenigen Gedanken, die sich auf den Weg machten.
„Hast du noch so eine?“
Das Gesicht bekam einen Ausdruck, der fast neutral wirkte und nicht den üblichen Ekel oder das gewohnte Abwenden trug. Er hielt ihr die Zigarette hin, ungefiltert, selbstgedreht.
„Kannst meine haben.“

Das Papier fühlte sich warm und feucht zwischen ihren Lippen an, als hätten seine sie berührt, zumindest glaubte sie, dass sich Berührungen einmal so angefühlt hatten. Der Rauch, den sie in ihre Lungen saugte, verdrängte die lächerlich vagen Erinnerungen, verdrängte auch die wärmende Decke, aber nicht die Sehnsucht danach. Für ein paar Berührungen, die keiner Erinnerung würdig waren, ließen sich auch heute wieder ein paar Gramm bestreiten. Bestimmt. Ganz sicher.

„Noch eine für später?“
Sie drehte mit übertriebenem Dank eine weitere Zigarette, wagte nicht, den überschüssigen Tabak wieder in die Packung zu stecken oder den Blick zu heben. Ihre zittrigen Hände hielten ihm Tabak und Blättchen hin und ließen los, als er danach griff, obwohl sie gerne festgehalten hätten, was sich nach einem Stück Leben anfühlte. Sie ging ein paar Schritte, sah auf die große Uhr über dem Haupteingang und überschlug die Stunden, die noch ausstanden. Sie steckte sich die Zigarette hinter das linke Ohr und wischte ein paar Strähnen zur Seite, die an feuchter, kalter Haut klebten. Sie roch nicht nach Schweiß, es wehte auch kein Duft vom Bäcker zu ihr rüber oder irgendein Geruch aus dem Gitter, auf das sie sich setzte.

Ihr Griff fand das Besteck in der Hosentasche und legte sich darum, als könnte sie mit einem Wurf reinen Tisch machen, als könnte sie loslassen. Es fehlten nur ein paar Gramm für einen letzten Schuss. Oder einen vorletzten. Das Papier schmeckte nicht nach Tabak und leider auch nicht nach seinen Lippen, wie auch immer die schmecken mochten. Wie auch immer irgendetwas schmecken mochte.

Der abgewetzte, kunstlederne Beutel in der Hosentasche schien an ihrer Hand zu kleben. Der Fluch, der darin wohnte, würde sie auch heute mit seinem süßen Lächeln alle Lippen, jeden Duft und auch Geschmack vergessen lassen.
„Ich bin nicht nichts ohne dich“, dachte sie, zog noch einmal an der Zigarette und umklammerte, was sich so harmlos anfühlte, „aber weniger, viel weniger für mich.“

Ihr Griff löste sich und sie fingerte das Feuerzeug aus der Tasche. Die zweite Zigarette zündete sie an, während die erste noch auf dem Vorplatz verglühte. Ihr Kopf stieß an die Wand und die Sonne blendete, auch durch die eintönige Wolkendecke hindurch.

 

Hola @joycec,

ich rede noch von Schmorenlassen – und zack! ist Deine neue drin.

Dein Thema betrifft die perfideste Sache der Welt.
Besonders gekonnt finde ich Dein Maß für alles zu Sagende und Deinen Erzählton.
Der Verzicht auf Drama macht den Text eindringlicher.

joycec: schrieb:
Ich stelle mal ein Kontrastmittel zum jetzigen Text ein. Mal sehen, ob ich dafür Prügel beziehe.
Wirst Du nicht. Kommentatoren, die gerne alle Merkmale einer klassischen(?) KG vorfinden würden, könnten deren Mangel anmerken. Mir ist das nicht so wichtig, wenn mir der Text ein Leseerlebnis gibt. Diese ganze Drogen-Scheiße, die Crystal Meth-Flut, die Bataillone von Zombies verursachen wird und unermessliche Tragödien mit zerfressenen Körpern und Hirnen – ganz ohne Krieg, nur durch Laschheit der Verantwortlichen!
Du hast diesen Wahnsinn vor unseren Augen erschütternd dargestellt. Der Text ist kurz, doch in seiner Intensität muss er den Leser packen – und der soll sich um diese unfassbaren Zustände kümmern (aber nicht AfD wählen!).
Kompliment von meiner Seite, joycec, für den Mut zum Thema und die Ausarbeitung!

Beste Grüße!
José

 

Hallo joycec,

stehe gerade auf dem Schlauch, dieser Satz hier ...

"Ihr Kopf stieß an die Wand und die Sonne blendete, auch durch die eintönige Wolkendecke hindurch."

... der taucht ja zweimal auf in deiner Geschichte. Magst du mir verraten, was der bedeutet?

Gruß
Analog

 

Halla Analog,

nein, mag ich nicht, dann stünde meine Geschichte auf dem Kopf oder wäre dahin oder widersinig. Aber es ist schön, dass du ihren zentralen Satz entdeckt hast. ;-)

 

Jallah joycec,

nimm es nicht persönlich, aber ich habe diese Frage weniger aus Interesse, als vielmehr aus der Ahnung gestellt, dass du sie nicht beantworten kannst.

Dein Schreibstil gefällt, deine Geschichte ist nichtssagend.

Gruß Analog

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo joycec,

Beine in Hosen, unter Röcken und auf mehr oder weniger lauten Schuhen eilten an ihr vorüber.
Für mich ein sehr guter erster Satz. Der Leser kann sich schon sehr gut orientieren, worum es gehen könnte.

Ihr Kopf stieß an die Wand und die Sonne blendete, auch durch die eintönige Wolkendecke hindurch.
Das ist für mich nicht nachvollziehbar: Wenn ein Kopf gegen eine Wand stößt, kann diese Person durch die Sonne nicht geblendet werden. Perspektivisch falsch.
Es war kühl, kam ihr kalt vor und ließ sie an ein bisschen Wärme denken, die aus einer Nadel in ihre Venen strömte und sich wie eine schwere Decke um ihre blasse Haut legte.

Wer erzählt denn jetzt? Es war kühl. Kam ihr kalt vor. Ja, was denn nun?
Ein bisschen Wärme, die aus einer Nadel in ihre Venen strömte und wie eine schwere Decke um ihre blasse Haut - da werden viele Bilder bemüht, die für mich nicht stimmig sind.


Das Papier fühlte sich warm und feucht zwischen ihren Lippen an, als hätten seine sie berührt, zumindest glaubte sie, dass sich Berührungen einmal so angefühlt hatten.
Sehr schön.
Für ein paar Berührungen, die keiner Erinnerung würdig waren, ließen sich auch heute wieder ein paar Gramm bestreiten.
Eine gute Umschreibung.

Sie drehte mit übertriebenem Dank eine weitere Zigarette, wagte nicht, den überschüssigen Tabak wieder in die Packung zu stecken oder den Blick zu heben.
das mit dem überschüssigen Tabak verstehe ich nicht - das ist doch ein normaler Vorgang, wieso hatte sie da Angst?
Sie roch nicht nach Schweiß, es wehte auch kein Duft vom Bäcker zu ihr rüber oder irgendein Geruch aus dem Gitter, auf das sie sich setzte.
Das ist für mich sehr intensiv, obwohl genau das Gegenteil beschrieben wird.
Das Papier schmeckte nicht nach Tabak und leider auch nicht nach seinen Lippen, wie auch immer die schmecken mochten. Wie auch immer irgendetwas schmecken mochte.

Das abgewetzte, kunstlederne Bündel in ihrer Tasche schien an ihrer Hand zu kleben.


Nur auf hohem Niveau die Anmerkung, dass in zwei nachfolgenden Sätzen beide Mal Das als erstes Wort am Anfang verwendet wird.

Mir gefällt die Schreibe sehr gut, aber inhaltlich ist es trotzdem noch sehr dünn. Mach die Sache etwas fetter, Butter an die Fische, dann wird das richtig gut.
Bisher ist das einfach nur eine Szene, die zwar super geschrieben, aber für mich noch nicht rund ist als Kurzgeschichte.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo bernadette,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren!

Ihr Kopf stieß an die Wand und die Sonne blendete, auch durch die eintönige Wolkendecke hindurch.
Das ist für mich nicht nachvollziehbar: Wenn ein Kopf gegen eine Wand stößt, kann diese Person durch die Sonne nicht geblendet werden. Perspektivisch falsch.
Der Kopf ist rund und besteht auch aus einem Hinterkopf. Auch der kann an eine Wand stoßen. :D
Es war kühl, kam ihr kalt vor und ließ sie an ein bisschen Wärme denken, die aus einer Nadel in ihre Venen strömte und sich wie eine schwere Decke um ihre blasse Haut legte.

Wer erzählt denn jetzt?
Die Perspektive ist doch eindeutig auktorial.

Sie drehte mit übertriebenem Dank eine weitere Zigarette, wagte nicht, den überschüssigen Tabak wieder in die Packung zu stecken oder den Blick zu heben.
das mit dem überschüssigen Tabak verstehe ich nicht - das ist doch ein normaler Vorgang, wieso hatte sie da Angst?
Ich pendle regelmäßig und ließ bei Gelegenheit (als ich noch rauchte) jemanden eine Zigarette drehen. Nie(!) steckte jemand den überschüssigen Tabak in die Packung zurück. Einer zuckte regelrecht zurück ("Ach nee!"). Als fühlten sie sich ansteckend. Das mag irrational sein, ist aber erfahrungsgemäß durchgehend so.

Das Papier schmeckte nicht nach Tabak und leider auch nicht nach seinen Lippen, wie auch immer die schmecken mochten. Wie auch immer irgendetwas schmecken mochte.

Das abgewetzte, kunstlederne Bündel in ihrer Tasche schien an ihrer Hand zu kleben.


Nur auf hohem Niveau die Anmerkung, dass in zwei nachfolgenden Sätzen beide Mal Das als erstes Wort am Anfang verwendet wird.
Adlerauge! Das sehe ich mir noch mal an. Danke!

Mir gefällt die Schreibe sehr gut, aber inhaltlich ist es trotzdem noch sehr dünn. Mach die Sache etwas fetter, Butter an die Fische, dann wird das richtig gut.
Bisher ist das einfach nur eine Szene, die zwar super geschrieben, aber für mich noch nicht rund als Kurzgeschichte.
Das war ein Beitrag zu einem Kurzgeschichtenwettbewerb mit dem Thema "Fast ein Kuss" und der Vorgabe 500-600 Wörter. Mehr ging also nicht. Jetzt, da der Garten weniger Aufmerksamkeit fordert, ist vielleicht etwas mehr Zeit für Längeres (wer's glaubt ...)

Danke und liebe Grüße
Joyce

 

Der Kopf ist rund und besteht auch aus einem Hinterkopf. Auch der kann an eine Wand stoßen. :D
ich habe wohl nur diese Möglichkeit im Kopf: :bonk:
wie du argumentierst andersrum gesehen nachvollziehbar :D

Ich pendle regelmäßig und ließ bei Gelegenheit (als ich noch rauchte) jemanden eine Zigarette drehen. Nie(!) steckte jemand den überschüssigen Tabak in die Packung zurück.
Das muss ich wohl so stehen lassen - ich jedoch habe es immer (auch bei Fremden) getan, aber vielleicht waren das noch andere Zeiten, wo man sich über Hygiene weniger Gedanken gemacht hat. :shy:
Aber an sich eine interessante Sache, ich beobachte das jetzt mal.

 

Ich pendle regelmäßig und ließ bei Gelegenheit (als ich noch rauchte) jemanden eine Zigarette drehen. Nie(!) steckte jemand den überschüssigen Tabak in die Packung zurück.
Das muss ich wohl so stehen lassen - ich jedoch habe es immer (auch bei Fremden) getan, aber vielleicht waren das noch andere Zeiten, wo man sich über Hygiene weniger Gedanken gemacht hat. :shy:
Aber an sich eine interessante Sache, ich beobachte das jetzt mal.
Das muss ich jetzt konkretisieren: Von denen, die sich regelmäßig auf dem Bahnhofsvorplatz aufhalten und bei denen man gewiss sein kann, dass sie einen um eine Zigarette/Tabak bitten. Auf einer Party (und bei Gelegenheit) wäre das normal, da hast du sicher recht.

 

hallo joytec, ich will nur einen Eindruck da lassen. Ich finde deine kurze Geschichte sehr atmosphärisch, sehr stimmig. Klar, das Thema ist schon gut abgehangen, aber es mit diesem Kussthema zu kombinieren, gefällt mir trotzdem. Also ich hätte deine Geschichte ins Büchelchen gesteckt. Hat mir sehr gut gefallen. Man merkt, dass du viel und versiert schreibst, die Bilder funktionieren für mich gut.

Ich zitiere einfach mal ein paar Beispiele.

Beine in Hosen, unter Röcken und auf mehr oder weniger lauten Schuhen eilten an ihr vorüber.
Ich bin zuerst gestolpert, dachte, ungewöhnliche Perspektive. Aber es passt. Sie blickt von unten, sitzt vielleicht irgendwo, ein belebter Platz. Und sie sieht die Leute nicht mehr als wirkliche Personen, sondern als eine bebeinte Masse.

Es war kühl, kam ihr kalt vor und ließ sie an ein bisschen Wärme denken, die aus einer Nadel in ihre Venen strömte und sich wie eine schwere Decke um ihre blasse Haut legte.
Du hast einen durch die Sätze vorher schon darauf vorbereitet, ich hab mich in die Gegend um den Frankfurter Hauptbahnhof erinnert gefühlt. Ich wäre dann wohl eines dieser Hemden oder Blusen gewesen, das sie um eine Zigarette anschnorrt.

Er sah in ihre Augen, wo sie die gleichen dunklen Ränder vermutete, die sich unter ihren Fingernägeln festgesetzt hatten.
Ääh, das fand ich übertrieben. Der Bezug zu ihren Fingernägeln, den finde ich zu aufgesetzt, auch sprachlich unglücklich. Das passt einfach nicht. Das klingt, als würdest du sagen, die Trauerränder unter ihren Fingernägeln befinden sich in seinem Gesicht.

Sie drehte mit übertriebenem Dank eine weitere Zigarette, wagte nicht, den überschüssigen Tabak wieder in die Packung zu stecken oder den Blick zu heben.
Ulkig, gerade diese Stelle gefiel mir besonders gut. Sie weiß, dass die Leute sich vor ihr ekeln, sie trägt dem Rechnung. Es war gerade diese Stelle, die mich berührt hat.

Das Papier schmeckte nicht nach Tabak und leider auch nicht nach seinen Lippen, wie auch immer die schmecken mochten. Wie auch immer irgendetwas schmecken mochte.
Ja, da hast du das Thema deines Wettbewerbes. Ich hoffe, es ist was geworden, fürchte allerdings, eher nicht, sonst hättest du ihn hier nicht gepostet. Wie auch immer, dein Text gefiel mir.

Ein herzliches Willkommen nachträglich, ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen.
Viele Grüße von Novak

 

Hallo Novak,

vielen Dank für das Willkommen und die netten Worte!

Es war kühl, kam ihr kalt vor und ließ sie an ein bisschen Wärme denken, die aus einer Nadel in ihre Venen strömte und sich wie eine schwere Decke um ihre blasse Haut legte.
Du hast einen durch die Sätze vorher schon darauf vorbereitet, ich hab mich in die Gegend um den Frankfurter Hauptbahnhof erinnert gefühlt. Ich wäre dann wohl eines dieser Hemden oder Blusen gewesen, das sie um eine Zigarette anschnorrt.
Volltreffer! :D

Er sah in ihre Augen, wo sie die gleichen dunklen Ränder vermutete, die sich unter ihren Fingernägeln festgesetzt hatten.
Ääh, das fand ich übertrieben. Der Bezug zu ihren Fingernägeln, den finde ich zu aufgesetzt, auch sprachlich unglücklich. Das passt einfach nicht. Das klingt, als würdest du sagen, die Trauerränder unter ihren Fingernägeln befinden sich in seinem Gesicht.
Oder in ihrem. Da habe ich drauf gewartet. Über die Stelle stolpere ich ja selber bei jedem Lesen. Sollte ich dann wohl endlich mal angehen. ;)

Das Papier schmeckte nicht nach Tabak und leider auch nicht nach seinen Lippen, wie auch immer die schmecken mochten. Wie auch immer irgendetwas schmecken mochte.
Ja, da hast du das Thema deines Wettbewerbes. Ich hoffe, es ist was geworden, fürchte allerdings, eher nicht, sonst hättest du ihn hier nicht gepostet. Wie auch immer, dein Text gefiel mir.
Dritter Platz (den zweiten poste ich vielleicht noch). Für das unerfreuliche Thema kann ich damit gut leben. :thumbsup: Es ging auch nur um Ru(h)m und Ehre, nicht um einen Einband drumherum.

Ein herzliches Willkommen nachträglich, ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen.
Viele Grüße von Novak
Vielen Dank!
Ich war so lange abstinent, ich müsste nachsehen. ;)
Liebe Grüße
Joyce

 

Hallo,

Beine in Hosen, unter Röcken und auf mehr oder weniger lauten Schuhen eilten an ihr vorüber.
Sind die Schuhe laut? Nein, es sind doch die Geräusche, die durch die Absätze produziert werden. Lese ich so einen Satz, denke ich, der Autor schert sich einen Dreck um sprachliche Präzision. Schon mal kein gutes Zeichen. Und es sind ja auch nicht nur Beine, die an ihr vorübereilen, das geht ja gar nicht, oder haben Beine ein Eigenleben. Du willst hier eine Sicht zeigen, die selektive Sicht deines Protagonisten, aber so einfach sollte man es sich nicht machen.

Hauptbahnhof, Vorplatz, ihr Revier, ihr Kiez, ihre Heimat, wenn es so etwas für sie gab
Was denn jetzt? Gibt es das, oder eben nicht? Warum lässt der Autor uns hier im Unklaren? Weil es gut klingt. Weil es den Text und den Charakter irgendwie interessant machen soll. Aber das geht nicht auf, weil ich noch kein Gefühl für den Charakter habe, ich kenne seinen Platz nicht, das ist wie eine sich entschuldigen, bevor ich dir auf die Füße getreten bin. In den USA würde man sagen lazy writing. Irgendwas denkt sich der Leser schon, wenn ich das so schreibe. Der Leser denkt sich, der Autor gibt sich hier wirklich wenig Mühe, einen Charakter zu zeichnen.

Es war kühl, kam ihr kalt vor und ließ sie an ein bisschen Wärme denken, die aus einer Nadel in ihre Venen strömte und sich wie eine schwere Decke um ihre blasse Haut legte.
Wieso kommt es ihr kalt vor? Was ist der Grund? Und warum lässt die gefühlte Kälte sie an ein bisschen Wärme aus der Nadel denken? Das nenne ich schrecklich schön schreiben - irgendwas mit Wärme und Nadel und Venen, poor me, und alle so: Ja, das ist traurig und dramatisch und auch soooo schön beschrieben. Übrigens kenne ich keinen einzigen Junkie, der sich die Nadel reinhaut und das mit Wärme beschreibt. Die sind immer kurz vor dem ohnmächtig werden, weil sie solange einen Affen geschoben haben, das ihr Körper streikt und sie dann noch eine brauchbare Vene finden müssen.

Er sah in ihre Augen, wo sie die gleichen dunklen Ränder vermutete, die sich unter ihren Fingernägeln festgesetzt hatten.
Warum vermutet er denn nun die gleichen dunklen Ränder? Er sieht ihr in die Augen, also entweder sieht er sie oder eben nicht. Und dann: Fingernägel. Also vermutet er den gleichen Schmutz, den sie unter den Fingernägeln hat, auch unter ihren Augen? Wie ist der nur dahingekommen? Und warum ist das wichtig?

Für ein paar Berührungen, die keiner Erinnerung würdig waren, ließen sich auch heute wieder ein paar Gramm bestreiten. Bestimmt. Ganz sicher.
Wenn nichts mehr geht, die Junkie-Nutte geht immer.

„Ich bin nicht nichts ohne dich“, dachte sie, zog noch einmal an der Zigarette und umklammerte, was sich so harmlos anfühlte, „aber weniger, viel weniger für mich.“
Nur noch der Junkie-Poet, der geht auch immer.

Ärgerlicher, oberflächlicher, vollkommen unempathischer Text, der nur vorgibt, als würde er sich für irgendeinen Charakter interessieren, aber eigentlich nur genau die Klischees reproduziert, die alle ohnehin schon zu kennen glauben. Was wird mir hier erzählt? Ein romantisch-nihilistischer Schwank aus dem Leben einer Junkie-Nutte in verquaster Sprache? Ist das dein Ernst? Der Text entwickelt nie eine Haltung, der bleibt immer auf so einer voyeuristischen Halbdistanz, bißchen Ekel, bißchen Erinnerung (an was eigentlich?) und dann, tja, der letzte Schuss, heroin chic, Freitod, immer eine Lösung.

Nee, das ist einfach gar nichts.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Jimmy,

Sind die Schuhe laut? [...] haben Beine ein Eigenleben
[...] Was denn jetzt? Warum lässt der Autor uns hier im Unklaren? [...]
Wieso kommt es ihr kalt vor? Was ist der Grund? [...] Was wird mir hier erzählt?

Ich sehe, du magst dein Sonntagsbrötchen vorgekaut. Da ist bei mir nix zu holen, zugegeben.
Allerdings:
Er sah in ihre Augen, wo sie die gleichen dunklen Ränder vermutete
Warum vermutet er denn nun die gleichen dunklen Ränder?
So ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit beim Lesen erhoffe ich mir ja schon. ;)

Gruß zurück und schönen Sonntag
Joyce

 

Na, wenn das alles ist, was du zu sagen hast und auf so einem lächerlichen Verleser rumreitest ... ich könnte immer noch sagen, dass das Unsinn ist, weil sie ihr Gesicht überall sehen kann, in jedem Schaufenster, überall. Und immer noch bleibt die Frage, wie der Schmutz unter ihren Fingernägeln unter ihre Augen gekommen ist, denn so steht es da ja, ich folge nur der Logik des Textes. Aber geschenkt, denn substanziell wird da von dir kaum mehr kommen. Sonntagsbrötchen vorgekaut ... nee, überhaupt nicht, ich präferiere Texte, die zwischen den Zeilen erzählen, aber in diesem Text hier wird nichts zwischen den Zeilen erzählt, da wird nur vorgegeben, dass da etwas mitschwingt, da wird Wichtigkeit und Literarizität vorgetäuscht, in Wahrheit ist da nichts hinter. Da ist in der Tat bei dir nichts zu holen, das stimmt, ja.

Gruss, Jimmy

 

Hoppela, da komm ich ja aus‘m Husten gar nicht mehr raus und vllt. kann da ein Nichtraucher gar nicht mitreden, aber es ist eine hübsch „nichtsende“* Miniatur, die dank der schnörkelloseren Sprache gegenüber dem m. E. gelungenen Debut,

lieber joycec,

gefälliger ist. Um überhaupt und etwas mehr zu sagen wäre vllt. bei diesen Beispielen

Er sah in ihre Augen, wo sie die gleichen dunklen Ränder vermutete, die sich unter ihren Fingernägeln …
[...]
Ihr Griff fand das Besteck in ihrer Hosentasche und legte sich darum, als könnte sie …
[...]
Das abgewetzte, kunstlederne Bündel in ihrer Tasche schien an ihrer Hand zu kleben.
Die Zahl der „ihre/n“ einzugrenzen, der Griff in die eigene, „ihre“ Hosentasche (nur als Beispiel) interessanter, wenn sie in eine „fremde“, eines andern Hosentasche griffe …

Gern gelesen vom

Friedel,
der noch einen schönen Sonntagabend wünscht!


* „nichtsen“ gibt‘s tatsächlich als ein „nichtsen, nichtsent, eine erweiterte form von nichts, die entweder nach analogie von nichten gebildet oder aus nichtsnicht entstellt ist: ...“
(Wörterbuchnetz - Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm) und Zeller hat es in einem Schreiben an Goethe zum“Verb“ geadelt „bei tische wieder gesungen, gejodelt, gelacht .. genichtst, und man gieng vergnügt auseinander.“ (Fettdruck durch mich)
ebd. ...&lemid=GN04991#XGN04991

 

Die Zahl der „ihre/n“ einzugrenzen, der Griff in die eigene, „ihre“ Hosentasche (nur als Beispiel) interessanter, wenn sie in eine „fremde“, eines andern Hosentasche griffe …
Guter Punkt, lieber Friedel! Mit dem bestellten Papyrus wäre das nicht passiert, um mal eine billige Ausrede zu bemühen. :Pfeif: Da muss ich noch mal ran.

Gern gelesen vom

Friedel,
der noch einen schönen Sonntagabend wünscht!

Danke und ebenso!
Und Dank auch für das Schmunzeln am Sonntagnachmittag durch das hier: ;)
* „nichtsen“ gibt‘s tatsächlich als ein „nichtsen, nichtsent, eine erweiterte form von nichts, die entweder nach analogie von nichten gebildet oder aus nichtsnicht entstellt ist: ...“

 

Er sah in ihre Augen, wo sie die gleichen dunklen Ränder vermutete, die sich unter ihren Fingernägeln festgesetzt hatten.
Das klingt, als würdest du sagen, die Trauerränder unter ihren Fingernägeln befinden sich in seinem Gesicht.

den gleichen Schmutz, den sie unter den Fingernägeln hat, auch unter ihren Augen? Wie ist der nur dahingekommen? Und warum ist das wichtig?
Ich bekomme da ohne Nebensatz nix Sinnvolles draus geklöppelt und ohne es fehlt auch nix. Also habt ihr beide recht und es kann weg, was es jetzt auch ist.

Danke für den Hinweis :thumbsup:

 

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