Nicht mehr als ein Zodiakallicht
Ich tippe verloren mit dem Daumen auf dem Lenkrad herum und überlege, was man zu jemandem sagt, zu dem man zuletzt meinte, dass man ihn nie wieder sehen will.
Die Ampel springt auf grün um und ich lasse die Kupplung zu langsam kommen. Der hinter mir wird ungeduldig. Scheiß Stadtverkehr. Ich beschleunige bald auf fünfzig, der abgeranzte Wagen schnurrt ebenmäßig, obwohl er schon so alt ist.
An der nächsten Abbiegemöglichkeit dann rechts und weiter durch die Nacht. Es wird immer später, die Musik wird lauter und aggressiver. Vielleicht einfach umkehren? Ich blicke auf die Kilometeranzeige am Armaturenbrett. Dreihundert Kilometer zu viel drauf. Umkehren wäre ein Zugeständnis, das ich mir jetzt nicht mehr machen möchte.
Irgendwo hier muss es doch sein. Die Stockwerkanzahl der Wohnhäuser steigt parallel zu meiner Nervosität stetig an. Mein Herz scheint platzen zu wollen, als ich den Namen auf dem Straßenschild erkenne. Hier einbiegen, ein riesiger Parkplatz vor einem riesigem Wohnblock.
Ich chauffiere den Wagen in eine einsame Parklücke und blicke hinauf zu den Häusern. Hier und da brennt ein gedimmtes Licht, doch die meisten Bewohner scheinen entweder ausgegangen zu sein, oder sie schlafen. Ich muss nicht nochmal auf mein Navigationsgerät blicken, um zu wissen, dass ich hier richtig bin. Stuttgart, du bist so hässlich-schön.
Ich stelle den Motor ab, lasse den Schlüssel aber stecken. Was will ich hier?
Es fängt zu regnen an, als ich mit festen Schritten zur Haustüre laufe. Die Kapuze auf meinem Kopf fängt zwar die meisten Tropfen ab, aber meine Haarspitzen, die wirr unter dem Stoff hervorblitzen, werden nass und dunkel. Der Regen zieht seine Bahnen über mein Gesicht, als ich vor der Tür stehe und nach oben blicke und mir wünsche, niemals in mein Auto gestiegen zu sein. Nicht für diese eine Fahrt, diese lächerliche Fahrt.
So viele Klingelschilder. Ich brauche ein paar Minuten, um das Richtige zu finden. Mit einer ungewollten Zärtlichkeit, die ich nicht mehr zurücknehmen kann, streicht mein Zeigefinger über deinen Namen. Dann drücke ich ein Schild im letzten Stockwerk und hoffe, dass jemand blöd oder verschlafen genug ist, um mir die Türe aufzumachen.
Ein bleiernes Summen ertönt und ich lehne mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die schwere Tür, bevor sie sich nicht mehr öffnen lässt. Im Treppenhaus schließe ich sie ganz langsam und bleibe erst mal stehen. Ich höre, wie oben eine Tür auf geht und sich irgendwann wieder schließt. Dann ganz lange nichts mehr.
Was sagt man denn nun zu jemandem, den man nie wieder sehen wollte und für den man nun dreihundert Kilometer in die Fremde gefahren ist? "Hallo, wie geht es dir?"
Ich muss lachen. Ziehe mir die Kapuze vom Kopf und den Reißverschluss meiner Jacke auf. Dann steige ich die Stufen nach oben, Stufe für Stufe, bis zum achten Stock. Hier sind vier Türen, alle verschlossen. Unter einer Tür sehe ich einen schmalen Lichtstrahl, doch dorthin möchte ich nicht. Stattdessen gehe ich zu der Tür ganz am Ende des Flures und weiß, ohne auf das Namensschild zu schauen, dass ich angekommen bin.
Jetzt klopfen.
Ich trau mich nicht.
Ich lasse all die Luft raus, die ich zuvor in meine Lungen gepresst habe, und lasse mich dann auf die Treppenstufen sinken. Der Boden ist kalt unter meinem Hintern und so langsam zieht sie Kälte auch durch meine Kleidung. Das ist die einzige Erklärung für die Gänsehaut. Ja, ganz bestimmt.
Mein Kopf lehnt sich irgendwann wie von Selbst gegen die Wand neben mir. Mein Körper ist müde, aber das nervöse Zucken in meinen Händen und Beinen hält mich wach und meine Gedanken tanzen wirr umeinander herum. Was soll ich bloß sagen?
Ich höre etwas. Unter mir fällt eine Tür schwer ins Schloss und Schritte kämpfen sich die vielen Treppen nach oben. Sie kommen mir immer näher und kurz überlege ich, ob ich weiter nach oben flüchten soll. Doch ich komme nicht hoch, meine Gelenke sind schwer. Mit erstarrter Miene bleibe ich also dort am Boden und warte auf-
Der Mann, der mir entgegen kommt, bist nicht du. Aber trotzdem bleibt er stehen und blickt mich fragend an, bis sich ein überraschter Ausdruck in seine Augen schleicht. Ein stilles 'Ich kenne dich'.
"Entschuldigung, kann ich dir helfen?"
Ich ziehe die Beine an, damit er an mir vorbei gehen kann, und schüttle den Kopf. "Nee". Ich glaube nicht.
"Bist du Antonia?"
Etwas in mir fängt an, zu hüpfen. Mein Herz? Mein Magen? Wenn diese Unruhe nicht endlich ihr Ende findet, kotze ich dem Fremden direkt vor die Füße.
Ich runzle die Stirn und schaue den Mann nun direkt an. Ist das-
"Komm, steh auf. Ich lass dich in die Wohnung rein." Dein Mitbewohner bringt mich zu dir.
Die Wohnung ist dunkel, aber warm. Es riecht nach Kaffee und ein wenig nach deinen Zigaretten. Ich weiß, dass es deine sind. Ich weiß es einfach. Ich streife meine Jacke ab und drücke den nasskalten Stoff an mich, als wäre er mein Anker. Mein Blick geht nach links unten, zu den Schuhen. Eines der Paare kenne ich.
Wieder atme ich schwer aus und dein Mitbewohner hört es. "Ist alles okay?"
Kopfschüttelnd sage ich nur: "Ich sollte gehen." Doch er stellt sich neben mich, blickt mich aufmunternd an und meint: "Bleib." Also bleibe ich. Er sagt dann, dass er dich rufen wird und ich im Wohnzimmer warten könne, doch ich will hier stehen bleiben. Meine Knie zittern nämlich jetzt so sehr, dass ich keinen Schritt mehr machen könnte.
Ich sehe zuerst nur den Rücken deines Mitbewohners, der an deine Tür klopft und irgendetwas ruft. In meinen Ohren rauscht es. Dann geht dein Mitbewohner und ich sehe nur noch die Tür. Und dann deine Hand, mit dem blöden Ring am Finger. Ich kann nichts dafür, mein Blick geht zu meiner eigenen Hand und ich spreize meine Finger, bis ich meine Handlinien sehen kann, die deinen so verflucht ähnlich sind.
Ich habe nie verstanden, für wen du diese Ringe trägst.
Als ich wieder nach oben schaue, stehst du da gegen den Türrahmen gelehnt und blickst mich mit einer Mischung aus Traurigkeit und Erstaunen an. Ich weiß jetzt, was man zu jemandem sagt, den man eigentlich nie wieder sehen wollte. Nämlich gar nichts.
Deine Haare sind länger geworden, fast sogar länger als meine. Sie hängen dir strubblig in die Stirn und in die dunklen Augen, gerötet von- ja, von was? Will ich denn überhaupt noch wissen, ob du dir dein Hirn wegballerst?
Ich schaue dich an und fühle nur, ganz tief in mir, ein einsames Zwicken und nicht mehr. Das Kribbeln ist schon lange tot. Ich glaube, wir sind keine Seelenverwandten mehr. Doch als du sprichst, zieht es mir erneut den Hals zusammen.
"Bitte, geh."
Das Rauschen wird zu leisen Wellen und dann zum tosenden Sturm. Ich drücke meine Jacke wieder fest an meinen Bauch und wünsche mir die schützende Kapuze zurück auf meinen Kopf. Ich seh dich nur noch verschwommen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich in das Treppenhaus gekommen bin. Hinter der geschlossenen Türe deiner Wohnung höre ich nur noch aufgeregte Stimmen, dein Mitbewohner schimpft mit dir und du schimpfst zurück. Ich will nach Hause.
Der Abstieg ist einfacher als der Aufstieg. Ich flüchte in Windeseile zu meinem Auto, werfe meine Jacke auf den Beifahrersitz und hantiere ungeschickt mit dem Autoschlüssel. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie im Treppenhaus das Licht angeht, und mein Schlüssel fällt in meinen Schoß. Dumme Idee, hierher zu fahren.
Du bist mir nachgelaufen. Als ich aussteige und du mir entgegen gehst, ist es fast so wie damals, nur ohne das Spitzbubengrinsen. Du bleibst nicht stehen, du kommst ganz nah an mich heran und schließt vorsichtig die Tür meines Wagens.
Dann nimmst du mich einfach in den Arm.
Ich rieche deine Zigaretten und deine Haut, die nach Zigaretten riecht. Nur nach Zigaretten. Und du sahst so viel mehr in mir.
Wir sind nur noch ein Zodiakallicht am Himmel - und nicht mehr mehr.
„Ich hatte einen schönen Traum“ – „Ich dachte, du wärst draußen gewesen.“ – „Auf dem Balkon.“ – „Was hast du geträumt?“ – „Dass wir alt sind. Und kleine Kinder bei meinen Eltern abgeben und dann nach Paris fahren. Und auf der Autofahrt, da waren so warme Bilder. Wie du auf meiner Schulter liegst und zu mir hoch lächelst und wir total glücklich sind. So warme Farben. Und wir liegen im Hotel, dann gehen wir raus und wir sind so glücklich. Als wäre kein Tag vergangen zwischen dem, an dem wir uns kennengelernt haben und heute.“ – Der Hörer in meiner Hand wackelt. - „Das ist ein sehr schöner Traum. Wenn ich das heute Nacht träume, wird es dann wahr?“ – „Ja. Du hast ja gesagt, das passiert so.“ – „Und wenn ich das nicht träume, wird es trotzdem wahr?“ – „Ja. Das ist ja das Schöne.“ – „Und dir ist bewusst, was das heißt?“ – „Ja. Und dir?“ – „Ja.“ - “Ich werde aus mir einen besseren Menschen machen. Für dich werde ich besser sein."