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Nicht länger als eine Nacht
Langsam fuhr Paul in seinem anthrazitfarbenen Audi die Allee hoch. Sein Blick wanderte von einer Straßenseite zur anderen, während er mit der einen Hand lenkte und mit der anderen den Knoten seiner Krawatte löste. Gleich musste er da sein. Straßenlaternen und knallbunte Leuchtreklamen spiegelten sich verschwommen auf dem nassen Asphalt. Es hatte aufgehört zu regnen und der Wind hatte sich gelegt. Ein paar Tropfen fielen noch aus den kahlen Bäumen, die am Straßenrand wuchsen.
Augenblicke später entdeckte er einen freien Parkplatz, keine fünfzig Meter entfernt von der Kneipe, nach der er Ausschau gehalten hatte. Im Notausgang, damals ein beliebter Schülertreff, war er seit Mitte der 70er Jahre nicht mehr gewesen. Zu seiner Zeit war das einer jener Schüttelschuppen, wie seine Mutter sie lachend nannte, nach deren Besuch ihm noch lange die Ohren fiepten, selbst als er schon müde und ein wenig angetrunken im Bett lag. Diese Erinnerungen ließen ihn schmunzelten und er besah flüchtig sein Gesicht im Rückspiegel. Jaja, geschüttelt hatten sie sich, auch wenn ihm schon damals jene Haarpracht fehlte, die eigentlich dafür notwendig gewesen wäre. Nachdenklich strich er sich mit der Hand über die Glatze. Jetzt, mit beinahe fünfundvierzig, trug er auch die verbliebenen Haare kurz, was ihn insgesamt jünger machte.
Er stieg aus seinem Wagen, überquerte die Straße und zog die kalte Luft in die Nase, die für städtische Verhältnisse frisch roch an diesem Abend. Auf dem Bürgersteig waren nur vereinzelt Menschen zu sehen, die sich meist vor Eingangstüren drängten, um Einlass zu finden. Aus den umliegenden Kneipen quoll dumpf Musik. Paul spürte ein Kribbeln im Magen und er rieb sich über den Bauch. Beinahe zwanzig Jahre war es her, dass sie sich gesehen hatten. Heute war der 31. Oktober, sie hatte Geburtstag und es war Halloween. „Trick or Treats!“ fluchte er leise als ihm aufging, dass er direkt aus dem Büro gekommen und keineswegs verkleidet war. Aber irgendetwas musste er tun. „Bitte, zieh’ dir was Lustiges an“, hörte er sie noch am Telefon sagen. Er legte die Stirn in Falten, konzentrierte sich und hatte Augenblicke später die wahrscheinlich dümmste Idee seit langem.
Er eilte zurück zum Wagen, öffnete den Kofferraum und kramte nach kurzer Zeit eine braune Papiertüte hervor. Er betrachtete sie kritisch von allen Seiten. Sie war unversehrt, ein bisschen zerknittert vielleicht. Verlegen sah er sich um. Dann stülpte er sie über den Kopf, ertastete mit Zeige- und Mittelfinger die Punkte, an denen sich seine Augäpfel befanden und drückte vorsichtig darauf. Als er die Tüte wieder in der Hand hielt, betrachtete er blinzelnd die entstanden Einbuchtungen und stach an den markierten Stellen mit seinem Finger zwei Löcher hinein. Nachdem er seine Verkleidung erneut angelegt hatte, stellte er sich vor ein Schaufenster und betrachtete sein Spiegelbild. Es zeigte einen schlanken, etwa 1,80m großen Mann in Sakko und Cordhose, der eine Krawatte trug, deren Knoten gelöst war. Langsam wiegte er den Kopf erst zur rechten und dann zu linken Seite. Durch die Gucklöcher der Papiertüte schauten ihn zwei Augen an, die, im Gegensatz zu dem braunen Packpapier, das sie umgab, zu leuchten schienen. Zufrieden grunzte er unter seiner Tüte, nickte sich aufmunternd zu und ging in Richtung Notausgang.
Seitlich vor dem großen Fenster, das zur Straße zeigte, blieb er stehen und schaute hinein. Drinnen war es beinahe voll. Aus der ehemaligen Schülerkneipe war ein Café im Jugendstil geworden und weil heute Halloween war, standen auf den Tischen Tropfkerzen und orangefarbene Snack-Schalen mit Kürbismotiv, gefüllt mit Erdnüssen oder Salzstangen. An den Wänden hingen schwarze Fledermausgirlanden und auf den Regalen hinter der Bar flackerten Grablichter zwischen den Flaschen. Den Nebenraum, in dem zu seiner Zeit ein vergammelter Billardtisch stand, konnte er von hier aus nicht einsehen. Das Publikum von einst schien ebenfalls mit ihm gealtert zu sein. Einige der Gäste hatten bunte Strähnen in den Haaren oder trugen Hexenhüte, schwarze Umhänge mit hohen Kragen, durchsichtige Netzbodies oder auch Nonnenkostüme. Entschlossen öffnete er die Tür und trat ein. Für eine kurze Zeit, die ihm wie Stunden vorkam, ruhten alle Blicke auf ihm und keiner schien ein Wort zu sagen. Staunend starrten sie ihn an. Ein feuchtwarmer Luftschwall hüllte ihn ein. Wahrscheinlich das Einzige, das sich hier in den letzten Jahren nicht verändert hatte. Wenn jetzt jemand die Musik abgestellt hätte, er wäre auf der Stelle umgekehrt. Aber irgendwie konnte er nun nicht mehr.
„Ey, es wird kalt!“, beschwerte sich ein jüngerer Mann, der mit seiner Freundin an einem Tisch direkt neben dem Eingang saß.
„Entschuldigung“ murmelte Paul und schloss die Tür. Dann drängte er sich an ein paar Tischen vorbei bis zu einer Bank, die rechts an der Wand des Raumes stand. „Von dort habe ich einen guten Überblick“, folgerte er und setzte sich. Unter seiner Tüte wurde es warm.
„Was darf’s denn sein?“, fragte ihn eine weibliche Bedienung in Netzstrumpfhose und schwarzem, viel zu kurzem Minirock.
„Ein Bier bitte.“, kroch es unter der Tüte hervor. Paul räusperte sich.
„Ach ja?“, grinste die Frau, deren Gesicht ebenfalls eine Tüte vertragen hätte, wie Paul fand. Aber er nickte nur.
„Originelle Verkleidung, übrigens“, hörte er die Wasserstoffblonde sagen, als sie mit dem Tablett unter dem Arm zur Bar stakste.
Paul wartete ungeduldig. Nervös klopfte er mit den Fingern auf die Tischplatte. Seine Augen wanderten von Tisch zu Tisch. Gerne hätte er eine Zigarette geraucht. Obwohl er dieses Laster in den letzten Jahren stark eingeschränkt hatte, schmachtete er jetzt.
„Hier bitte, dein Bier“, raunte die Bedienung, die ein paar Minuten später unerwartet von der Seite an den Tisch herangetreten war. Sie stellte das Glas vor ihm ab und sah ihn an. Paul drehte sich zu ihr um, konnte aber nichts sehen, weil die Kopfbedeckung seiner Bewegung nicht folgte. Also sah er stur nach vorne und wartete. Schweiß lief ihm den Nacken hinunter. Sollte sie doch endlich verschwinden! Die Gäste an den umliegenden Tischen schienen ihn ebenfalls zu beobachten, oder war das Einbildung? Nach einer Weile hob er das Glas, setzte gierig an zum ersten Schluck, und kippte sich den Großteil seines Biers über Hemd und Krawatte, weil die Mundöffnung in der Tüte fehlte. Erschrocken sprang er auf und rückte dabei polternd seinen Tisch von sich weg. Mehrere Pärchen am Nebentisch kicherten und die Bedienung, die sich in einiger Entfernung aufhielt, bog sich vor Lachen hinter ihrem Tablett, das sie schützend hochhielt.
„Scheiße!“ maulte Paul, der unter seiner Verkleidung einen hochroten Kopf bekam. Außerdem klebte die Papiertüte auf seiner Glatze. Zwei Frauen, als Hexen verkleidet, grölten lauthals, und als sie Pauls wütender Blick traf, sahen sie sich an und prusteten erneut los. In solchen Momenten hasste er die Frauenbewegung, befürwortete Klitorisverstümmelungen und sah sich in diesem Falls als Inquisitor des Mittelalters mit einer Pechfackel zwei Scheiterhaufen entfachen. Aber seine Lage zwang ihn, eine Toilette aufzusuchen. Zähneknirschend drängte er sich an Stühlen und Tischen vorbei und fand sich Augenblicke später vor einem Waschbecken in der Herrentoilette wieder, wo er sich die Verkleidung vom Kopf riss und mürrisch ein paar feuchte Papierreste von seiner Glatze knibbelte. Er zog Hemd und Krawatte aus, stopfte beides in die durchlöcherte Tüte und wusch sich. Dann schlüpfte er in sein Sakko, unter dem er mittlerweile nur noch ein T-Shirt trug und ermahnte sich innerlich zur Ruhe. Mehrfach atmete er tief durch, aber es dauerte eine Weile, bis er spürte, wie seine Wut nach und nach einer inneren Erregung wich. Er dachte an das Meeting zurück, in dem er vor einer Woche gesessen hatte und an das Telefon, das klingelte. Er erinnerte sich an die zitternde Hand, mit der er den Hörer an sein Ohr hielt, als ihn der Klang Elinas Stimme aus der Bahn warf. Auf eine Tischplatte gestützt, war er ihren Sätzen gefolgt, während sich in seinem Gesicht Freude und Ausweglosigkeit abgewechselten. Doch als er sich zu guter Letzt seufzend auf einen Bürostuhl hatte fallen lassen, wollte einer der Kollegen wissen, ob jemand gestorben sei. Er hatte kopfschüttelnd verneint und das Telefonat mit einer flüchtigen Handbewegung abgetan, war aber noch Stunden später seinen Gedanken nachgegangen. Gedanken, die aus einer anderen Zeit stammten, einem Teil seines Lebens, der nicht abgeschlossen war, der ihn immer wieder einholte und ihn heute hierher geführt hatte.
Elina war fünfzehn Jahre alt, als sie sich kennen lernten. Sie war weder auffallend hübsch noch so dünn, wie manch anderes Mädchen ihres Alters, aber groß gewachsen. Sie trug mittelblonde, glatte Haare, die bis zur Hälfte ihres Rückens reichten. Sie kleidete sich auffallend bunt und hatte oft einen Seidenschal mehrfach um den Hals gewickelt. Paul hatte sich sofort in ihr Lachen und besonders in ihre ansteckende Lebensfreude verliebt, die sie ausstrahlte und die in völligem Gegensatz zu den düsteren Stimmungen stand, unter denen er während seiner Adoleszenz zu leiden hatte. Als sie kurze Zeit später ein Paar waren, entstand im Verlauf weniger Monate eine Vertrautheit und Nähe, die weit über das hinausging, was beide auf Dauer verkraften konnten. Rückblickend ist das vielleicht die einzige Erklärung, warum sie sich in den folgenden Jahren vielfach trennten um anschließend wieder zusammenzufinden. Eltern und Freunde gaben es nach Jahren auf, nach Gründen zu fragen und mussten mit ansehen, wie sie sich gegenseitig aufrieben. Nach einer Trennung dauerte es nie lange, bis der eine wieder auf den anderen zuging. Stand in solchen Augenblicken ein Nebenbuhler zwischen ihnen, war dieser so bedeutungslos wie ein Stück Papier zwischen zwei Magneten, mit dem man versuchen wollte, die Anziehungskraft zu durchbrechen. Erst nachdem Paul in Berlin mit seinem Maschinenbaustudium begonnen hatte und Elina in München Kunst studierte, schien sich dieses Hin und Her nach außen hin zu beruhigen.
Inzwischen war Paul fertig. Er verließ die Herrentoilette, ging den Gang entlang und folgte dem Stimmenwirrwarr und der Musik in die Richtung, aus der er gekommen war.
„Paul?“ hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich, deren Klang er sofort wieder erkannte. Augenblicklich blieb er stehen und drehte sich um. Eine Ader an seinem Hals pulsierte und die innere Freude, die in ihm aufstieg, raubte ihm den Atem, als er in Elinas Gesicht sah. Er brachte kein Wort heraus.
„Paul“ flüsterte Elina erneut und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie konnte die Aufregung kaum verbergen. Paul liebte diesen Augenblick, wenn ihre Wangen erröteten und der hauchdünne Film einer Freudenträne das Blau ihrer Augen leuchten ließ. Aber er stand immer noch wie festgenagelt da, die alberne Papiertüte in der Hand, während Elina langsam auf ihn zuging. Als sie dicht vor ihm stand, blieb sie stehen. Paul fiel auf, dass sie ihr Haar kürzer trug, als noch vor Jahren. Ohne ein weiteres Wort hob sie ihre Arme, nahm zärtlich seinen Kopf in beide Hände und sah ihn an. Einen Augenblick hielt sie inne und ihr Blick ging durch ihn hindurch, starrte auf einen Punkt, der weit hinter ihm lag. Doch dann fand sie ihr Lächeln wieder, zog ihn zu sich heran und küsste ihn mit jener Sinnlichkeit, die das unsichtbare Band zwischen ihnen aufs Neue zu festigen schien. Paul stellte geistesabwesend seine Tüte auf einem Zigarettenautomaten ab, der neben ihnen stand und als er endlich die Hände frei hatte, legte er seine Arme um sie. Er sog den Geruch ihres Körpers in sich auf, der durch einen Hauch Parfüm verfeinert worden war und drückte ihren Körper an sich. Eine ganze Weile standen sie so da, eng umschlungen, nur mit sich beschäftigt. Es kümmerten sie weder die Anderen, die den Gang entlang kamen und um sie herumgehen mussten, noch die leisen Pfiffe oder Bemerkungen.
„Ist das mein Geschenk?“, fragte Elina kichernd, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten und eine Pause eintrat, mit der beide nichts anzufangen wussten. Sie zeigte auf das unförmige, braune Etwas, das auf dem Automaten stand.
„Das, das ist eine längere Geschichte“, stotterte Paul, dem erst jetzt auffiel, dass er mit leeren Händen vor ihr stand.
„Weißt du, eigentlich wollte ich …“
Er suchte nach Worten, ohne Erfolg. In seinem Kopf drehte sich alles. Wie hatte er das vergessen können? Hilfe suchend sah er sie an. Zorn über sich selbst kroch in ihm hoch.
„Das macht nichts“, beruhigte sie ihn und legte ihre Hand auf seine Brust.
„Komm, wir gehen zu den Anderen.“
Mit diesen Worten nahm sie seine Hand und führte ihn vorbei an der Bar durch den schmalen Durchgang in das ehemalige Billardzimmer, in dem ein kleines Buffet aufgebaut war. Im Raum verteilt befanden sich mehrere Stehtische, an denen Bekannte und Freunde Elinas vor einem Glas Wein oder einem Bier standen und sich unterhielten. Elina führte ihn von Tisch zu Tisch und stellte die einzelnen Leute vor, die ihm allesamt unbekannt waren und deren Namen er wieder vergaß. Dann ging sie mit ihm zum Buffet.
„Iss erstmal was“, sagte sie, „ich muss mich noch um ein paar Dinge kümmern.“
Paul schaufelte sich Salat, mehrere Stücke Käse und ein paar Scheiben Brot auf seinen Teller und als ein Kellner in Sichtweite kam, bestellte er ein Bier. Die Ereignisse der letzen Stunde hatten ihn hungrig und durstig gemacht. Später gesellte er sich zu einer Gruppe von Leuten, die Elina noch aus ihrer Studienzeit kannte. Sie ging derweil von Tisch zu Tisch und plauderte mit ihren Gästen. Oft hörte er ihr Lachen und wenn sie aufgeregt zu ihm an den Platz zurückkam, trafen sich ihre Blicke, oder sie flüsterte ihm etwas zu.
Als sich nach Mitternacht ein Großteil der Gäste verabschiedete, kam Elina noch einmal zu ihm. Ihr Gesicht strahlte.
„Bring mich hier weg!“, raunte sie ihm zu und biss ihm hinter vorgehaltener Hand zärtlich ins Ohrläppchen. Paul errötete und räusperte sich. Lachend drehte er sich zu ihr um, wollte noch etwas sagen, aber sie war bereits verschwunden. Und so beeilte er sich, sie einzuholen.
„Ich dachte schon, du würdest nicht nachkommen“ zog ihn Elina auf, die bereits am Ausgang auf ihn wartete. Paul legte seinen Arm um ihre Hüfte und sie traten hinaus in die erste Novembernacht des Jahres, die sternenklar war. Elina sah das Lächeln, das um Pauls Lippen spielte, als sie zur nächsten Querstraße schlenderten und dort einbogen. Es hatte nie vieler Worte bedurft, wenn sie sich etwas vornahmen, und darin übereinstimmten. Nach einem kurzen Stück überquerten sie die Straße und standen Augenblicke später vor der Rezeption eines kleinen Hotels. Paul bestellte ein Zimmer und zahlte im Voraus. Schweigend fuhren sie mit dem Lift in die vierte Etage. Der Geruch frischer Wäsche empfing sie, als sie das winzige Zimmer betraten. Die Vorhänge waren zurückgezogen und die kleineren Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite gaben den Blick frei über die Dächer des Stadtviertels.
„Nein, kein Licht“ bat sie und hielt die Hand über den Schalter. Der Schein einer Straßenlaterne erleuchtete nur schwach einen kleinen Teil der Zimmerdecke, doch nachdem sich Pauls Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er Elina, die vor ihm stand, an einen Kleiderschrank gelehnt.
„Du musst erst noch dein Geschenk auspacken“ flüsterte sie und zwinkerte ihm zu. Paul lächelte und fing an, ihre Bluse aufzuknöpfen. Sie aber streckte beide Arme hoch.
„Beeil’ dich“, sagte sie, und ihr Körper zitterte, als er die halb offene Bluse über ihren Kopf zog und der Stoff ihre Haut streifte. Wenig später stand sie nackt vor ihm. Paul betrachtete eine Weile ihren Körper, der nicht gealtert schien, dessen Formen ihm vertraut waren, und den er begehrte, wie vor Jahren. Er strich mit der Hand zärtlich an Elinas Hals entlang bis zu ihren Brüsten und beobachtete, wie sich ihr Bauch mit jedem Mal ungleichmäßig hob und senkte, wenn er mit seinen Fingern über ihre Brustwarzen glitt.
Nachdem auch er sich entkleidet hatte und sie wenig später in enger Umarmung auf dem Bett lagen, schlugen sie fast zeitgleich die Augen auf und sahen einander lange an.
„Was stimmt nicht mit uns?“, entfuhr es Paul plötzlich und seine Stimme erstickte. Elina aber legte ihre Finger auf seine Lippen und schloss die Augen.
„Nichts“, antwortete sie, „gar nichts.“
Stattdessen begannen beide wie auf ein Zeichen, ihre Körper sanft hin- und herzuwiegen. Und mit jeder dieser Bewegung schloss sich die Kluft zwischen ihnen und die alte Wunde schien für einen kurzen Augenblick zu heilen. Als Elina schließlich die Wärme in sich spürte, nach der sich beide sehnten, kreuzte sie die Beine hinter seinem Rücken, als wollte sie ihn für immer festhalten. Wenig später begann sie ihr Becken erst in ungleichen Abständen, dann in rhythmischen Bewegungen hastig vor- und zurückzuschieben, bis sie den Kopf zur Seite warf und einen stillen Schrei von sich gab, als sie Paul in sich pulsieren spürte.
Nach einer Zeit des Schweigens, in der sie atemlos nebeneinander gelegen hatten, stützte sich Paul seitlich im Bett auf, sah hinaus in die klare Nacht, und die Gedanken folgten seinem Blick.
„Wo bist du?“, fragte Elina.
„Ich bin hier bei dir“ sagte er, und seine Augen wanderten über den verschwitzten Körper, der entspannt neben dem seinen lag. Als er mit der Hand eine Strähne aus ihrem Gesicht strich, öffnete sie die Augen, in denen jener besondere Glanz lag, den er auch bei Dunkelheit erkannte.
Es war kurz vor fünf, als Paul erwachte. Im Hotel war noch alles still. Er drehte sich um und sein Blick fiel auf einen Teil von Elinas Rücken, der schwach beleuchtet unter der Bettdecke hervorschaute. Zärtlich strich er mit seinem Finger über ihre Haut, die kalt war und blass wirkte im fahlen Licht. Er stand auf, nahm sein Bettzeug und deckte damit ihren Rücken zu. Sie stöhnte leise, rührte sich aber nicht. Dann ging er ins Bad. Als er wenig später ins Zimmer zurückkam und sich anzog, schlief sie immer noch ruhig. Nachdem er fertig war, beugte er sich zu ihr hinunter, strich ihr durchs Haar und küsste sie auf die Stirn, bevor er sich abwandte und leise hinter sich die Tür schloss.
Als er die Straße vor dem Hotel betrat, schlug ihm feuchte Novemberkälte entgegen. Die Stadt schlief noch inmitten von Nebelschwaden. Nur die kreisenden Bürsten einer Kehrmaschine waren zu hören, begleitet von orangenfarbenen Lichtblitzen, die an Hauswänden zuckten. Paul fror, und er beeilte sich, zu seinem Wagen zu kommen. Nachdem er eingestiegen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm ihn eine dumpfe Stille gefangen. Doch als er sich vorbeugte, um den Motor zu starten, zog ihm mit einemmal Elinas Geruch in die Nase und er hielt inne. Er dachte zurück an die letzten Stunden, an seinen peinlichen Auftritt, die blödsinnige Tüte, die immer noch auf dem Automaten liegen musste und an Elinas strahlendes Gesicht, als sie sich trafen. Er hörte ihr Lachen, spürte ihre Lippen an seinem Ohr und schmeckte ihre Haut, wenn er die Augen schloss. Aber er sah auch die betroffenen Gesichter der Freunde, die immer wieder dieselben Fragen stellten. Er hörte Elinas Weinen, sah sein eigenes verheultes Gesicht im Spiegel und erinnerte sich an das klirrende Geräusch eines Aschenbechers, der an der Wand zerschellte. Er sah sich betrunken und wütend auf der Couch schlafen, hörte Elina im Bad, die in regelmäßigen Abständen ihren Kopf gegen die Fliesen schlug und sah später ihre beste Freundin im Krankenhaus, die auf einem Stuhl in der Notaufnahme wartete.
Es mussten einige Minuten vergangen sein, bevor Paul aus seinem Tagtraum zurückfand. Er rieb sich mit den Händen durchs Gesicht, sah in Richtung Hotel und lächelte.
„In sechs Jahren werden ich fünfzig, und du bist eingeladen.“, sagte er plötzlich, schlug mit einer Hand aufs Lenkrad und schmunzelte noch lange, als er in seinem Wagen die Straße hinunterfuhr.