Nicht einmal der Mond bleibt
Wenn man das Universum als Ganzes betrachtet, so erkennt man, dass es sich aus zahllos kleinen Puzzleteilen zusammen setzt. Zwischen all diesen Puzzleteilen befindet sich ein Teilchen namens Erde, welches aus noch kleineren Stückchen besteht. Und auf einer diesen winzigen Stückchen, sitzt eine Frau in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda, ein Glas Orangensaft vor sich, wie sie es in heißen Sommernächten zu tun pflegt und betrachtet den Mond. Ihr Name ist Mary.
Sie denkt daran, wie schön er aussieht und wie eng er doch mit ihrem gesamten Leben verbunden ist. Sie denkt, dass sie nur eine Frau ist, welche auf einer Farm in Texas sitzt, die sie nach jahrelanger Pflege ihres kranken Vaters geerbt hat. Und damit mag sie recht haben, denn zwischen all den anderen Millionen Seelen ist ihre kaum mehr als ein unbedeutendes Sandkorn im Universum. Aber damit ist sie zufrieden. Sie hat sich nie bemüht, etwas Besonderes zu werden. Sie hat weder ein College besucht, noch hat sie einen High-Schoolabschluss. Das der Sand zwischen ihren Zähnen knirscht und sie abends vor Erschöpfung in ihr Bett fällt, sind Bestandteile ihres Lebens, die zwar nicht angenehm sind, die sie aber vermissen würde. Natürlich wäre es schön, wenn sie ein bisschen mehr Geld hätte, – wer wünscht sich das nicht? – aber in diesem einen Augenblick ist auch dies egal.
Ein sanfter Windhauch berührt ihr Gesicht, während sie weiter in ihren Erinnerungen an ihr Leben schwelgt, in denen ihr der Mond wie ein treuer Begleiter erschien. Er spiegelt sich in ihren kastanienbraunen Augen, die versuchen, jedes kleine Detail zu erfassen. Die weiß-graue Oberfläche, die Krater und die Beschaffenheit der Oberfläche. Es erscheint ihr unglaublich, dass etwas so schönes existiert. In gewisser Weiße fand sie ihn schon immer viel schöner und faszinierender als die Erde. Vielleicht, weil er bisher so unnahbar erschien. Und während sie das denkt, kommt in ihr die Erinnerung an die erste Mondlandung hoch …
Es war der 20. Juli, als Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betrat. Marys Vater feierte dieses Ereignis mit seinen Freunden bis spät in die Nacht, was für das damals fünfjährige Mädchen der Freifahrtschein für langes Wach-Bleiben bedeute. Auch wenn sie noch zu jung war, um die große Aufregung zu verstehen, wusste sie, dass etwas Besonderes in der Luft lag. Sie hatte ihre Eltern selten so ausgelassen erlebt, wenn sie beisammen gewesen waren. Zu dieser Zeig wurde es immer offensichtlicher, dass es in ihrer Ehe mehr und mehr zu zerbrechen drohte. Dennoch hatten sie sich nie von einander getrennt, obwohl Mary vermutet, dass ihre Mutter einige Jahre später eine Affäre begann.
Es war schon spät gewesen und Mary war bereits auf der hölzernen Bank in der Küche eingeschlafen, als ihr Vater zu ihr kam, um sie zu wecken.
Der übliche Geruch nach Tabak, Bier und Schweiß erschien ihr in dieser Nacht intensiver, vor allem daran kann sich Mary erinnern. Später verfolgte sie dieser Duft ihr ganzes Leben. Mit ihr auf dem Arm trat er hinaus in die Nacht, während sie noch schlafgetrunken die Augen rieb und setzte sich in den Schaukelstuhl auf der Veranda. Seine Bartstoppeln kratzten an ihrer Stirn, als er sie sanft an sich drückte und nach oben deutete.
Dort stand er. Der Mond. Das war das erste Mal, dass Mary ihn wirklich bewusst wahrnahm und seine Schönheit erblickte. In dieser Nacht sah er aus wie ein großes D und entfaltete seinen Zauber für sie.
Vom Wohnzimmer dröhnte die Musik nach draußen und Mary konnte das laute Lachen seiner Freunde vernehmen.
„Siehste', Prinzessin? Da sind se' heut' gelandet. Das bedeutet deinem Daddy und vielen an'ren Menschen ganz, ganz viel.“
Mary versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken und schmiegte sich an das nassgeschwitzte Hemd ihres Vaters. „Wieso?“
„Weil er ganz weit weg is' und bisher kein Mensch druff' war.“
Mary verstand nicht, was so toll daran war, als erstes einen Ort zu betreten, dafür interessierte sie etwas anderes mehr. „Ist der Käse dort gut?“
Ihr Vater stieß ein raues Lachen aus und fuhr ihr durch ihre Haare. „Prinzesschen, der Mond is' aus vielem, aber net aus Käse.“
„Aus was dann?“
„Geröll, Gestein und Sand“, erklärte er ihr. Nun verstand sie zwar noch weniger, was die Erwachsenen so toll an dieser Sachen fanden, aber sie beschloss, dass die Schönheit des Mondes ausreichend sein musste und natürlich die Entdeckung, dass er doch nicht aus Käse bestand – was sie allerdings sehr bedauerlich fand …
Ein Rumoren im Erdreich reist Mary aus ihrer Gedankenwelt.
Sie blinzelt erschrocken. Die Beben haben sich in der letzten Stunde gehäuft und mittlerweile handelt es sich dabei nicht mehr um eine kaum wahrnehmbare Erschütterung des Bodens. Bald wäre es Zeit, sich in das Haus zurück zu ziehen. Sie hofft, dass das Haus den Naturgewalten lange genug standhält.
Sie verspürt einen unangenehmen Druck auf ihrer Brust. Es ist keine Angst - diese hat sie schon längst hinter sich gelassen - mehr die Erkenntnis, nur noch warten zu können.
Der Orangensaft schwappt etwas über den Rand des Glases, weshalb sie es in die Hand nimmt und es fest umschließt. Es fühlt sich gut an, sich an etwas handfestem festhalten zu können. Aber sie wird es durchstehen – letztendlich bleibt ihr keine Wahl.
Es erscheint ihr unwirklich, dass im hohen Gras noch die Grillen ihr Lied spielen und einige Mücken darauf aus sind, ihr das Blut auszusaugen. Diese Dinge wirken einfach viel zu normal und natürlich, als dass sie in einer solchen Situation wirklich scheinen können.
Starr richtet sie wieder ihren Blick auf den Mond und beschwört die Erinnerung an ihren allen ersten Kuss hoch.
Mit einer Schüssel Eis in der Hand saß sie auf seiner Veranda und lachte über einen seiner Witze. Mary meint sich daran erinnern zu können, dass er nicht einmal besonders witzig gewesen war.
Sie besaß eines dieser schrillen Lachen, welche einem in den Ohren schmerzen und auf einen minderen Intellekt schließen lassen. Dabei war Mary zu dieser Zeit noch der Meinung, dass alles aus ihr werden könne.
Sie hatte diesen Abend mit einem Jungen namens Jimmy im Kino verbracht, der sie anschließend auf ein Eis zu sich in seine Wohnung einlud. Natürlich hatte sie sich nichts dabei gedacht als sie dieses Angebot annahm – obwohl Jimmy wahrscheinlich über fünf Jahre älter als sie war und bereits eine eigene Wohnung besaß. Aber mit fünfzehn war es angesagt, mit älteren auszugehen. Eigentlich wusste sie nicht viel von ihm – außer, dass er in einer Werkstatt eine Stadt weiter arbeitete.
Allmählich kam sie wieder zu Luft, stellte die leere Eisschale auf den Tisch vor sich und stützte sich auf ihren Ellenbogen.
„Willste noch nen Bier?“, fragte er und nippte an seinem eigenem.
Sie schüttelte den Kopf. „Mein Vater erwartet mich spätestens um elf. Und wenn ich nicht pünktlich bin, tobt er wieder.“
„Hmm, schade. Ich hat' noch was mit dir vor.“ Frech grinste er sie an und sie erwiderte sein Grinsen, wobei ihres nicht durch schlechte und ungepflegte Zähne glänzte. Sie ahnte, was nun kommen würde. „Komm ma' her.“ Er bedeutete ihr, sich weiter über den Tisch zu ihm zu beugen und sie tat es bereitwillig.
Hinter ihm schien der Mond, das ist das deutlichste, was Mary im Gedächtnis blieb. Und als er etwas grob ihr Kinn umfasste und sie für einen faulig riechenden Kuss zu sich hinüber zog, war es nicht er, der ihre Gedanken erfüllte, sondern die Schönheit, welche vom Mond ausging. Sie dachte daran, dass sie sich nachts manchmal heimlich davon stahl, um von einem kleinen Hügel aus den Mond zu beobachten. Er war ihr geheimer Vertrauter, wusste über ihre intimsten Geheimnisse bescheid, auch darüber, was sie tat, wenn die Sonne längst nicht mehr schien und sie unter ihrer Decke lag.
Als er seine rauen Lippen von ihren löste, haftete ihr Blick immer noch am Mond. Leichte Röte stieg ihr ins Gesicht, als sie Jimmys Blick bemerkte. Aber wahrscheinlich schob er es auf den Kuss. Schließlich hatte sie ihm am frühen Abend erzählt, dass sie zuvor noch nie geküsst worden war.
„Und?“, wollte er von ihr wissen.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lächelte ihn an. „Das war schön. Aber ich glaube, es ist Zeit …“
„Dann fahr ich dich wohl ma' besser heim, ne'?“, meinte er und machte Anstalten, aufzustehen. Es war eindeutig, dass er noch mehr erwartete.
„D - Danke“, stotterte sie und verspürte ein klein wenig schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht auf ihn konzentriert hatte. Aber sie beschloss, sich beim Abschied noch einen zweiten Kuss zu holen, auch wenn sie noch nicht genau wusste, wie sie das anstellen sollte. Aber bis dahin musste der eine genügen – sie ahnte, dass es sonst auf viel mehr hinaus laufen würde, als sie zu geben bereit war …
Der Wind hat an Stärke zugenommen. Er umspielt nicht mehr Marys Haar sondern reißt regelrecht daran. In der Küche scheppert es laut, als Töpfe, Schüsseln und andere Gegenstände durch das Erschüttern des Erdreiches aus den Schränken fallen.
Mary hat nach wie vor ihren Blick auf den Mond gerichtet. Sie kann nicht von der strahlenden Schönheit loslassen, ganz gleich, was um sie herum geschieht. So schön wie in dieser Nacht war er nie zuvor. Nie hätte sie gedacht, dass er derart groß ist.
„Eine Leiter zum Mond bauen“, murmelt sie und glaubt, dass es jetzt möglich wäre, so nah erscheint er ihr. Oft hat sie als Kind davon geträumt, den Mond zu sich herunter holen zu können …
Als hinter ihr die Verandatür so heftig zu schlägt, dass sie das Holz des Rahmen splittern hören kann, reist sie sich doch von diesem Anblick los und beschließt, dass es an der Zeit ist, hinein zu gehen. Natürlich wird das Haus früher oder später nachgeben.
Erst jetzt bemerkt sie, dass die Grillen verstummt sind und sie nicht länger als Nahrungsquelle für die Mücken dient.
Mary seufzt.
Sie hat nie gedacht, dass sie selbst das eines Tages vermissen würde. Aber jetzt tut sie es wirklich. Denn nun fühlt sie sich tatsächlich wie die letzte Überlebende auf diesem Planeten.
Noch einen Moment lang betrachtet sie das verdorrte Gras, welches im Sturm um sein Leben kämpft, dann steht sie mit dem Glas Orangensaft in der Hand auf. Ihr läuft der Schweiß über die Stirn. In der letzten Stunde sind auch die Temperaturen angestiegen. Sie weiß, dass es jetzt im Haus heiß und stickig sein wird. Ihre Kehle ist trocken und würde sie versuchen zu sprechen, bekäme sie gerade mal ein Krächzen heraus. Aber noch wartet sie mit dem Trinken.
Die Dielen knarren unter ihren Füßen, als sie die Verandatür passiert und sich schweren Schrittes auf den Weg ins Wohnzimmer macht.
Schon aus der Küche kann sie das Rauschen des Fernsehers hören. Bereits seit einigen Tagen bekommt sie nur dies als Signal. Im Radio das Gleiche. Trotzdem hat sie ihn gegen späten Abend eingeschaltet, um die Stille um sich herum zu übertönen. Am Nachmittag hatte sie noch das Gefühl gehabt, dass die Stille sie erdrücken würde. Dadurch wirkte alles viel realer, viel unabwendbarer, als Mary es wahr haben wollte. Aber nun… nun ist es in Ordnung. Sie hat sich damit abgefunden.
Das weiße Rauschen des Fernsehers erinnert sie an die Farbe des Mondes. In manchen Nächten besaß er das gleiche Weiß. Daran kann sie sich noch ganz genau erinnern. Schließlich nutzte sie jede Gelegenheit, um bei Vollmond spazieren zu gehen. Oft genügte ihr der bloße Schein genügt, um durch die Felder zu streifen. Oh, wie sehr sie diese Nächte geliebte. Damals wünschte sie sich, dass der Mond über seinen Scheinen seine Schönheit etwas auf sie übertrug.
Sie hält kurz inne, um das Rauschen zu betrachten. Es erinnert sie an noch etwas anderes …
Der Fernseher rauschte, als sie erwachte.
Jason lag verschwitzt und nackt neben ihr und gab einen grunzenden Laut von sich.
Mary nahm die Fernbedienung vom Boden und schaltete den Apparat aus, damit der Mondschein als einziges den Raum erhellte. Staubflocken tanzten in dem schwachen Licht und sahen für sie wie Feenstaub aus. Auf sie wirkte der Anblick wie ein Traum – nur dass sie sich sehr darüber bewusst war, wach zu sein.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Der vergangene Abend hatte sich unglaublich gut entwickelt. Anlässlich ihres siebenundzwanzigsten Geburtstags hatte Jason sie in ein etwas schickeres Lokal als sonst ausgeführt – was lediglich bedeutete, dass es dort nicht nur die üblichen Steaks und Pommes Frites gab, wie in ihrem Stammlokal. Dort hatte er um ihre Hand angehalten und ihre Antwort war natürlich „ja“ gewesen. Vor einigen Jahren hätte sie etwas gezögert, weil sie der Meinung gewesen war, dass sie vielleicht etwas Besseres bekommen könnte, als einen arbeitslosen Herumstreuner, der gelegentlich auf der Farm ihres Vaters aushalf. Doch mittlerweile war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass sie wohl nie das Glück haben würde, einen reichen Geschäftsmann zu heiraten und von hier weg zu kommen.
In dieser Nacht hatte sie ihm nicht nur ihr Versprechen gegeben, sondern ihm auch ihre Jungfräulichkeit geschenkt. Sie war zwar streng gläubig erzogen worden – zumindest
ihre Mutter, die sie jeden Sonntag dazu zwang, in die Kirche zu gehen -, aber sie besaß die Meinung, dass ein Gelöbnis Heiraten zu wollen, genauso schwer wog, wie das Ja-Wort selbst. Schließlich waren sie so gut wie miteinander verheiratet.
Sie spürte Jasons nackten Körper an ihrem Rücken und drehte sich zu ihm um, wobei das Sofa einen klagenden Laut von sich gab. „Hey … hey, wach auf.“ Sanft berührte sie seine behaarte Schulter, doch nichts tat sich. „Jason, wach auf“, versuchte sie etwas lauter und erntete ein Grunzen. „Jason, bitte.“
„Was'n?“, gab er mürrisch von sich.
„Lass uns spazieren gehen“, schlug sie voller Euphorie vor und war schon auf halbem Wege, sich unter der dünnen Wolldecke hervor zu wühlen, als er ihr seinen Arm um die Taille legte und sie zu sich zog.
„Ach Baby, nicht jetzt.“
„Bitte Jason. Wir haben heute Vollmond und er scheint so schön…“ Sie löste sich aus seiner Umarmung und stand unter lautem Quietschen auf. Das Mondlicht schmeichelte nicht gerade ihrer etwas molligen Statur.
„Dann geh doch allein.“ Mit einem Schnauben drehte sich Jason auf die andere Seite und wenige Augenblicke später konnte Mary wieder sein unregelmäßiges Schnarchen vernehmen. Damit war die Diskussion beendet.
Obwohl viele Mädchen eine andere Vorstellung von ihrem ersten Mal oder von ihrem Heiratsantrag haben, empfindet Mary auch heute noch diesen Tag als schön und etwas besonders. Immerhin hatte der Mond in seiner vollen Pracht geschienen und das langt ihr, um diesen Moment schön werden zu lassen.
Sie ertappt sich dabei, wie sie bei dieser Erinnerung lächelt. Doch kaum ist sie sich dessen bewusst, verblasst es fast augenblicklich.
Die Fernbedienung ist von dem kleinen Beistelltisch gefallen und sie beschließt, diese aufzuheben, den Fernseher aus zu schalten und sich einen Moment auf das Sofa zu setzen. Ihr wird klar, dass es nichts mehr bringt, sich etwas vor zu machen. Eigentlich weiß sie das schon lange. Aber jetzt, da sie hier sitzt, wird ihr auf ein Neues bewusst, dass sie hier vollkommend alleine ist. Seit sie in die Stadt gefahren ist, um die letzten Besorgungen zu machen, hat sie keine Menschenseele mehr gesehen. Sie vermutet, dass überall Panik ausgebrochen ist. Die kleine Stadt zehn Meilen von ihrer Farm entfernt, war bereits bei ihrem letztem Besuch in Chaos versunken. Sie kann wirklich von Glück reden, dass sie überhaupt noch bekommen hat, was sie wollte.
Putz und Staub rieselt von der Decke und sie muss husten. Sie muss sich wirklich beeilen, bevor es zu spät ist.
Langsam erhebt sie sich wieder aus dem Sofa, wobei ihr Blick aus dem Wohnzimmerfenster gleitet und das Stück Mond erblickt, welches sie von hieraus sehen kann.
Es erscheint wie reine Ironie, dass sie ihn heute sehen kann. Es hätte auch anders kommen können. Die Menschen auf der anderen Seite der Erde sehen ihn schließlich nicht. Trotzdem weiß sie nicht, ob sie eben diese Tatsache zum Lachen bringen soll, oder ob sie lieber weinen will.
Aber so oder so lässt sie beides nicht zu. Die Angst, dass dabei doch wieder Panik aufkommen könnte, ist zu groß. Lieber beschließt sie, endlich hinauf zu gehen.
Jede einzelne Stufe knarzt, während das Haus versucht, dem Erdbeben stand zu halten. Sie muss sich am Geländer festhalten, um selbst nicht hinzufallen, doch auf der letzten Stufe nimmt das Beben derart an Intensität zu, dass sie doch das Gleichgewicht verliert und mit den Knien aufschlägt. Sie gibt einen erstickenden Laut von sich.
Mary kann hören, wie das Holz knackt und berstet. Der Geruch von aufgewirbeltem Staub liegt in der Luft. Angst kommt in ihr auf, dass sie es vielleicht nicht rechtzeitig schaffen könnte.
Sie versucht aufzustehen, braucht jedoch zwei Anläufe, bis sie es schafft, zu stehen.
Dann steht sie vor einer Tür, welche sie langsam öffnet.
Das Zimmer ihrer Tochter liegt vor ihr. Es ist ganz in das Licht des Mondes getaucht.
Als Mary feststellte, dass sie schwanger war, war für sie sofort klar gewesen, dass ihr Kind das Zimmer bekommen sollte, welches nachts im Schein des Mondes badet. Sie nutzten es damals selbst als Schlafzimmer, weshalb es zu einigen Diskussionen zwischen ihnen kam, doch dieses eine Mal konnte sich Mary durchsetzen. Das Bett ihrer einzigen Tochter steht genau unter dem Fenster. Der rotblonde Haarschopf schaut unter der Decke hervor.
Leise geht sie zu ihr hin und setzt sich auf den Bettrand.
Der Mond hat sich nicht erst jetzt gegen sie verschworen. Sie muss daran denken, wie Jason ihr eines Abends, bei einen ihrer unzähligen Mondspaziergänge, gestand, dass er sie wegen einer anderen verlassen würde. Sie muss an die Wut denken, die sie empfand, als er nicht einmal versuchte, um das Sorgerecht für ihr gemeinsames Kind zu kämpfen. Sie muss an all die Tage, Wochen und Monate denken, in denen sie ihm schlimmeres als den Tod an den Hals wünschte. Aber all das ist nun nebensächlich. Vergangenheit. Geschichte.
Und in diesem Moment wird ihr bewusst, dass auch ihre Erinnerungen bald nicht mehr vorhanden sein werden. Bald werden sie für immer ausgelöscht sein und niemand wird sich mehr an die wundervollen Augenblicke in ihrem Leben erinnern. Diese Erkenntnis löst nun doch eine Träne aus ihrem Auge, die sie schnell wegwischt.
„Sarah. Rück ein Stück, damit ich zu dir ins Bett kommen kann“, flüstert sie ihrer Tochter zu und kriecht dabei unter die Decke.
Ein letztes Mal betrachtet Mary das Zimmer. Es ist mit bunten Bildern und einem Poster von irgendeiner Boygroup deren Name ihr nichts sagt, geschmückt. Bei Tageslicht sind die Wände sonnengelb, doch nun sieht es fast gräulich aus. Wer dieses Zimmer betritt, erkennt, dass hier ein fröhliches Mädchen von etwa zwölf Jahren lebt. Kuscheltiere, Stifte, Kleidungsstücke, ein zerbrochenes Glas und vieles mehr liegen auf dem Boden verteilt. Selbst der geliebte Spiegel liegt zerbrochen vor der Kommode, in den Resten spiegelt sich das Mondlicht. Mary hält sich an dem Gedanken auf, wie sich ihr kleines Mädchen immer die Mühe gemacht hatte, alles möglichst ordentlich zu halten. Und nun dieses Durcheinander …
Sie wird aus den Gedanken gerissen, als sie auf dem Dachboden etwas krachen und zersplittern hört. Wahrscheinlich geben die Dachbalken nach.
Ein letztes Mal stößt sie einen Seufzer aus, während sie den Arm um Sarah legt und ihren Körper an sich drückt.
„Jetzt wird alles besser…“, murmelt sie mehr zu sich als zu Sarah.
Ihr Blick streift eine Sonderausgabe der örtlichen Zeitung, welche neben dem umgekippten Nachtisch liegt. Ihr kommt in den Sinn, wie sie vor wenigen Tagen den Bericht über den Mond darin gelesen hat. Aber es ist kein schöner Artikel, nichts worüber Mary sich freut. Denn in diesem steht kurz und für jeden verständlich erklärt, dass ein durch das Sonnensystem ziehender Komet den Mond aus seiner Umlaufbahn geworfen hat und er sich dadurch nun auf Kollisionskurs mit der Erde befindet, welcher unabwendbar sei.
Mary riecht den Duft bitterer Mandeln, als sie nun den Orangensaft an ihre Lippen hebt, bereit, den letzten Schritt zu tun …