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Never Lost

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01.09.2002
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Never Lost

Es gibt Menschen“, schreibt Flaubert in der „Éducation sentimentale“, „die sind dazu geboren, zu verlieren“, und einer von ihnen war Brandmeister Helmar P. Seit 25 Jahren hatte er nun schon seinen Dienst versehen, war stets Erster an der Spritze gewesen, wenn es darum ging, zu retten, was zu retten war, war immer der Letzte gewesen, wenn die Schläuche nach gelungenem Einsatz wieder aufgerollt wurden, hatte seine ohnehin nur spärlich bemessene Freizeit zwischen den aufreibenden Diensten auch noch dem betriebseigenen Blasorchester, in dem er das zweite Tenor-Saxophon spielte, zur Verfügung gestellt, und erst kürzlich, auf dem allherbstlichen Betriebsausflug, hatte ihn sein direkter Vorgesetzter, der Oberbrandmeister Siegfried L., vertraulich zur Seite genommen und ihm in einem Gespräch unter vier Augen bedeutet, daß ihn vom Bundesverdienstkreuz (zwar nur Dritter Klasse, aber immerhin) nur noch ganz wenige Schritte trennten.

Mit anderen Worten: Dem restlosen Glück des Brandmeisters Helmar P. stand eigentlich so gut wie nichts mehr im Weg. Doch dann kam jener verhängnisvolle Donnerstag im November, der all den hochgesteckten Träumen so unbarmherzig einen Strich durch die Rechnung machte. Wieder einmal hatte die Glocke im Hauptquartier geläutet, wieder einmal war Helmar P. der Erste gewesen, der in Reih‘ und Glied hoch auf dem roten Wagen gesessen hatte, und als sich der Zug mit lauter Sirene und blauem Licht in Bewegung setzte, da ging es von Mund zu Mund: Auf dem Dach eines fünfstöckigen Hauses aus der Gründerzeit schicke sich ein Selbstmörder an, im Angesicht einer sensationslüsternen Menge seine Eintrittskarte ins Leben unter Protest zurückzugeben.

Am Ort des Geschehens angekommen, sprang Helmar P. schon vom Wagen, ehe der noch ganz zum Stehen gekommen war, hastete durch das menschenleere Treppenhaus, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben, stieß mit einem einzigen Griff die Tür zum Dachboden auf und zwängte sich behende durch die enge Dachluke.

Da sah er ihn er auch schon, den jungen Mann, der seinem noch so frischen Leben nun mit Gewalt ein Ende bereiten wollte. Mit besänftigenden Worten sprach Helmar P. auf ihn ein, machte ihm klar, daß Flucht doch auch keine Lösung sei und daß Höhen und Tiefen nicht nur zum menschlichen Leben dazugehörten, sondern darüberhinaus es doch eigentlich seien, die das Leben erst lebenswert machten. Der Erfolg lag sichtbar auf der Hand: Der junge Mann, der wenige Minuten zuvor noch gezittert hatte wie Espenlaub, wurde zusehends ruhiger, und als Helmar P. noch weitere drei Minuten aus seinem Schatzkästlein des Lebens geschöpft hatte, erklärte sich der eben noch Verzweifelte bereit, von seinem Vorhaben abzulassen und dem Brandmeister auf den sicheren Boden der Welt zurück zu folgen.

Doch da geschah das Unfaßbare: Sei es nun aus Freude über den gelungenen Rettungsversuch, sei es aus menschlich durchaus verständlicher sekundenlanger Unachtsamkeit – für einen Augenblick vergaß Helmar P. die novemberliche Reifglätte, die das Dach des Hauses aus der Gründerzeit mit einem weißen, vorwinterlichen Schleier überzogen hatte, und als er eben dem jungen Mann die Hand reichen wollte, um ihn endgültig aus dem Reich der Schatten in das des lichten Lebens zurück zu geleiten, geriet er selbst ins Rutschen, prallte gegen den Unglücklichen und stieß ihn mit voller Wucht in die Tiefe, wo jener unter dem entsetzten Aufschrei der vielköpfigen Menge sein Leben aushauchte, während sich Helmar P. mit letzter Kraft an der Dachrinne festklammern konnte.

Und so kommt es, daß für Helmar P. nicht nur wenige Schritte vor der Krönung seiner Laufbahn das Bundesverdienstkreuz (wie gesagt: zwar nur Dritter Klasse, aber immerhin) wieder in unerreichbare Ferne rückte, sondern er darüberhinaus auch noch degradiert wurde und heute als Telefonist in der Zentrale Innendienst versehen muß. „Es gibt Menschen, die sind dazu geboren, zu verlieren“, hatte Flaubert in der „Éducation sentimentale“ geschrieben, und auch wenn Gustave Helmar P. nicht gekannt hat: Wie recht hat er doch gehabt

 

Hallo anchor,

Deine Geschichte hat einen guten, leicht lakonischen Stil, auch das Anfangszitat ist eine schöne Eröffnungsidee.
Du schilderst eine Tragödie im Alltag, das Schicksal bestimmt den Lauf der Dinge. Im Rahmen der Geschichte wird diese Aussage zwar nicht ausgebaut, aber da der Text in sich geschlossen wirkt, ist es wohl so in Ordnung. Es bleibt die Frage - wie hat Flaubert recht?

Tschüß... Woltochinon

 

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