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neunundachzig
Neunundachtzig
Neunundachtzig Jahre. Neunundachtzig Jahre, gefesselt an ein Stahlbett. Einen kurzen Moment hielt ich inne. Vor dem Fenster prasselte der Regen auf den darunter gelegenen Innenhof. Gelegentlich durchzuckte ein Blitz die kühle Sommernacht.
Das Gesicht des Mannes war eingefallen. Noch vor drei Tagen hatte er sich mit mir unterhalten. Zugegebenermaßen, nicht in der Art, wie es ein klarer Mensch getan hätte. Aber doch irgendwie von dieser Welt und mit dem Bestreben, ein Teil von ihr zu sein. Nun brabbelte er nur noch. Die Augen schauten wirr in der Gegend herum, oder waren geschlossen. Der Mund war trocken, die Zunge suchte nach Halt. Oftmals rief er laut. Ob er Bilder sah, ob er überhaupt etwas sah, ich wusste es nicht. Er blickte mit leeren Augen an die Decke. Er verstand mich nicht. Ich sprach ihn an, doch die einzige Reaktion war Gemurmel und der Versuch sich aus den Handfesseln zu winden. Auch beide Beine waren mit Klettmanschetten und Bändern am Fußteil fixiert. Seine Tochter hatte angerufen. Wie es ihrem Vater ginge. „Nunja, er schimpft“, hatten wir ihr übermitteln können.
„Na, dann geht es ihm ja wieder besser“ hatte sie gelacht.
Das war vorgestern.
„Heute hätte sie nicht mehr gelacht“, dachte ich. Sein Zustand hatte sich rapide verschlechtert.
Sie tat mir leid. Er tat mir leid. Ich tat mir nicht leid.
Ich dachte an mein Leben und die Großartigkeit des Seins. Ich war froh, noch viel erleben zu dürfen, meine Freundin zu lieben und zurückgeliebt zu werden. Alles konnte so schnell zuende sein.
Ich schaute ihn an. Er war noch nicht gebrochen. Er war alt, hatte kaum ein Schnäpschen an sich vorbeigehen lassen. Ein alter, fluchender Haudegen.
Seine Handgelenke zeigten Striemen und Hämatome vom sinnlosen Kampf gegen die Fesseln.
Die Magensonde, die durch seine Nase in einen Sekretbeutel führte, förderte braune Suppe. Der Urin, der durch einen Blasenkatheter floss, war blutig und Rostfarben. Doch wie sollte man einem solch alten Mann noch helfen.
Morgen in der Visite würde man sich freuen. Die Blutdruckspitzen, die es zu bekämpfen galt, waren weniger geworden. Die Medikamente griffen. Manchmal waren die kleinsten Erfolge eben doch die größten.