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neunundachzig

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03.07.2011
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neunundachzig

Neunundachtzig

Neunundachtzig Jahre. Neunundachtzig Jahre, gefesselt an ein Stahlbett. Einen kurzen Moment hielt ich inne. Vor dem Fenster prasselte der Regen auf den darunter gelegenen Innenhof. Gelegentlich durchzuckte ein Blitz die kühle Sommernacht.
Das Gesicht des Mannes war eingefallen. Noch vor drei Tagen hatte er sich mit mir unterhalten. Zugegebenermaßen, nicht in der Art, wie es ein klarer Mensch getan hätte. Aber doch irgendwie von dieser Welt und mit dem Bestreben, ein Teil von ihr zu sein. Nun brabbelte er nur noch. Die Augen schauten wirr in der Gegend herum, oder waren geschlossen. Der Mund war trocken, die Zunge suchte nach Halt. Oftmals rief er laut. Ob er Bilder sah, ob er überhaupt etwas sah, ich wusste es nicht. Er blickte mit leeren Augen an die Decke. Er verstand mich nicht. Ich sprach ihn an, doch die einzige Reaktion war Gemurmel und der Versuch sich aus den Handfesseln zu winden. Auch beide Beine waren mit Klettmanschetten und Bändern am Fußteil fixiert. Seine Tochter hatte angerufen. Wie es ihrem Vater ginge. „Nunja, er schimpft“, hatten wir ihr übermitteln können.
„Na, dann geht es ihm ja wieder besser“ hatte sie gelacht.
Das war vorgestern.
„Heute hätte sie nicht mehr gelacht“, dachte ich. Sein Zustand hatte sich rapide verschlechtert.
Sie tat mir leid. Er tat mir leid. Ich tat mir nicht leid.
Ich dachte an mein Leben und die Großartigkeit des Seins. Ich war froh, noch viel erleben zu dürfen, meine Freundin zu lieben und zurückgeliebt zu werden. Alles konnte so schnell zuende sein.
Ich schaute ihn an. Er war noch nicht gebrochen. Er war alt, hatte kaum ein Schnäpschen an sich vorbeigehen lassen. Ein alter, fluchender Haudegen.
Seine Handgelenke zeigten Striemen und Hämatome vom sinnlosen Kampf gegen die Fesseln.
Die Magensonde, die durch seine Nase in einen Sekretbeutel führte, förderte braune Suppe. Der Urin, der durch einen Blasenkatheter floss, war blutig und Rostfarben. Doch wie sollte man einem solch alten Mann noch helfen.
Morgen in der Visite würde man sich freuen. Die Blutdruckspitzen, die es zu bekämpfen galt, waren weniger geworden. Die Medikamente griffen. Manchmal waren die kleinsten Erfolge eben doch die größten.

 

Hallo menschenkind,

hier ist leider mehr die Absicht zu loben, als das Ergebnis. Prinzipiell ist nämlich das Thema deines Textes sehr wichtig und seine Bearbeitung wichtig, aber die Umsetzung gefällt mir nicht.

Man kann sich etwa darüber streiten, ob es überhaupt eine Geschichte ist. Da passiert ja nichts. Eine Stimme aus dem Off - denn vielmehr ist dein Erzähler nicht, da fehlt eigentlich jeder Charakter - spricht über einen Sterbenden, von dem wir auch kaum etwas erfahren. Gut, ein Haudegen, aber das wird mehr behauptet als vom Leser erfahren. Wenn du da ein Bild bringen könntest, wie der Erzähler sich vielleicht an den Mann erinnert, als er noch fitter war und dann Kartenspielte und Schnaps trank, vielleicht eine Pfeife im Mund und mit seinen Stationsgenosse schmutzige Witze riss, etwas in der Art - dann hätte man eine Vorstellung, dann würde einen das Schicksal des Mannes auch berühren. So bleibt er zu anonym, fast wie eine Zahl. 1 Mensch ist gestorben. Das berührt mich nicht - zu mal es ein fiktiver ist. Stirbt aber der gutmütige Trinker von neben an, mit dem ich ein paar Mal zusammengesessen habe, dann bedeutet das etwas für mich. Eben diese persönliche Bindung musst du herstellen. So ist das für mich nichts.

Gelegentlich durchzuckte ein Blitz die kühle Sommernacht.
Das "durchzuckte" ist in diesem Zusammenhang ziemlich verbraucht, andere Verben leisten hier mehr. Und das "kühle" kann eigentlich raus - finde ich jedenfalls.

Ich dachte an mein Leben und die Großartigkeit des Seins. Ich war froh, noch viel erleben zu dürfen, meine Freundin zu lieben und zurückgeliebt zu werden. Alles konnte so schnell zuende sein.
Das ist so ein furchtbarer Allgemeinplatz. Ach, wie ist das Leben schön. Aber es kann auch schnell zu ende sein. So, so interessant, habe ich vorher nicht gewusst. Entschuldige, aber das gibt mir einfach nichts.

Hoffe, du konntest ein bisschen was anfangen mit meiner Kritik.

Gruß und noch viel Erfolg,
Kew

 

Hallo Kew

Danke für die Kritik :)

Es ist natürlich die Frage, ob man in 27 Zeilen überhaupt einen Menschen ausreichend charakterisieren kann... Der Text ist tatsächlich nur ein kurzes Standbild, ein Ausriß aus der Wirklichkeit... Die Situation hat es übrigens genauso gegeben. In einem Krankenhaus, die Stimme aus dem Off war der Pfleger... In der Kürze liegt die Würze, aber vielleicht ja tatsächlich nicht immer die Tiefe ;)

 

Hallo nochmal,

In der Kürze liegt die Würze, aber vielleicht ja tatsächlich nicht immer die Tiefe
Das Sprichwort stimmt leider häufig nicht. Wirklich kurze Geschichten funktionieren meist nicht. Ihnen fehlt einfach der Raum zum Wirken.

Die Situation hat es übrigens genauso gegeben. In einem Krankenhaus, die Stimme aus dem Off war der Pfleger...
Das will ich nicht bestreiten und auch, dass der Pfleger gemeint ist, war mir schon klar. Nur, der Pfleger wirkt so körperlos. Dabei wäre gerade sein Umgang mit dem Kranken für mich das Interessante gewesen. Seine Reaktionen - nicht nur in Andeutungen, sondern ausgeführt.

Gruß,
Kew

 

hi menschenkind - ich schließe mich Kew bei der Frage an, ob das überhaupt eine Geschichte ist - du gibst ja selbst die Antwort: nein, es ist die beschreibung einer szene, die sich genauso abgespielt hat...

deshalb die zweite Frage: "Warum machst du nicht eine richtige geschichte daraus - denkst dir also neben dieses fakten noch etwas prosa aus, was vorher gewesen sein könnte, wer dieser mann war, was ihn dahin gebracht hat etc...einen spannungsbogen & co?

viele grüße, streicher

 

menschenkind schrieb:
In der Kürze liegt die Würze, ...
... allein es sollte etwas zum Würzen da sein, gell? ;) Tut mir leid, ich finde, dem Text fehlt etwas wesentliches: die Handlung, die ihn zu einer Geschichte machen würde, hast du hoffentlich nicht weggewü...kürzt aus Angst damit wäre die Geschichte überladen.

Und warum führt die Magensonde durch die Nase in einen Sekretbeutel? Wäre es nicht sinnvoller, die Vorrichtung in Flussrichtung zu beschreiben? Vielleicht sowas wie >> Braune Suppe rann aus einem Beutel am Tropfständer in seine Nase.

Ach so, der Titel braucht im Textfeld nicht wiederholt zu werden.

Mein' ich mal,
floritiv.

 

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