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Neulich Nachts in der U-Bahn
Marie
Ich quetsche mich auf den harten U-Bahnsitz und stelle
befriedigt fest, dass mein Hinterteil zu breit für nur einen Sitz ist. Ich brauche anderthalb.
Schade, es ist nicht mehr viel los. Normalerweise fahre ich lieber U-Bahn, wenn sie ganz voll ist. Wenn mehr Menschen da sind, die mich entweder angeekelt oder mit unverhohlenen Interesse ansehen. Oder sich peinlich berührt von mir abwenden. Diese Blicke machen mich stark.
Im Moment sitzt nur ein knutschendes Pärchen hinter mir. Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um mich zu bemerken.
Ein paar Sitze vor mir sitzt eine junge Frau. Sie ist wohl direkt in den Regenschauer gekommen. Sie ist klitschnass. Ich hatte Glück schon sicher im trockenen zu sein, bevor der Regen anfing. Hätte meinem Teint auch nicht gerade gut getan.
Die Vorstellung was passieren würde, wenn mein Gesicht nass geworden wäre, ist wirklich amüsant.
Noch schaut die junge Frau träumend aus dem Fenster aber sie wird mich bald bemerken. Übersehen kann man mich ja kaum.
Endlich guckt sie. Ja du hast richtig gesehen, schau ruhig noch mal hin ich bin wirklich so dick. Prüfend und ein wenig irritiert wandert ihr Blick über meinen wabbeligen Körper. So ist es meistens. Erst gucken sie zufällig in meine Richtung, dann sehen sie ungläubig noch mal hin. Als ob sie nicht glauben könnten, dass ein einziger Mensch wirklich so viel Masse haben könnte.
Schade jetzt hat sie gesehen, dass ich gesehen hab, dass sie mich gesehen hat. Sie wendet sich ab. Sie wird ein bisschen rot. Süss.
Ah, hab ich’s doch gewusst. Die Frau schüttelt sich unmerklich. Sieht so aus als ob sie "Brrr" denken würde.
Schade sie schaut nicht noch mal zu mir herüber. Der Abend war nicht gerade sehr befriedigend. Zu wenig los. Zu wenig angewiderte Blicke.
Nächster Halt – Poststraße, ertönt eine mechanische, aber doch nette Frauenstimme aus den Lautsprechern. Ich stehe auf. Besser gesagt, ich ziehe meinen Körper aus den engen Sitzen in dem ich mich an der Stange festhalte und mich hoch ziehe. Ich passe fast nicht durch die engen Sitzreihen. Die Bahn kommt ruckend und zuckend zum stehen. Langsam öffnen sich die Türen und ich stampfe die Stufen herunter.
„Ey kannste nicht gucken“ ein Mann springt zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, sonst hätte ich ihn umgerannt.
„Ist doch noch mal gut gegangen, Kleiner“, ich schenke ihm mein schönstes Lächeln und gehe an ihm vorbei.
Lea
Etwas ausser Atem lasse ich mich in den dunkelroten, harten Plastiksitz fallen.
Gott sei Dank habe ich die Bahn noch bekommen. Zwanzig Minuten hätte ich sonst warten müssen. Alleine in der ziemlich verlassenen und dunklen U-Bahnstation. Ich sehe aus dem Fenster und werfe einen Blick auf die große Uhr. Scheiße schon wieder 1 Uhr. Dabei hatte ich mir fest vorgenommen spätestens um 23 Uhr im Bett zu sein. Seit einer Woche bin ich jetzt schon hundemüde. Gestern musste ich bei der Arbeit die ganze Zeit gähnen. Mit weit aufgerissenem Mund und Tränen in den Augen. Konnte nichts dagegen machen.
Scheiß Regen. Meine Jeans kleben mir an den kalten Beinen und die Haare hängen mir strähnig ins Gesicht. An den Haarspitzen sammeln sich Wassertropfen, die sich dann lösen und mir übers Gesicht laufen. Ich wische sie andauernd ab. Das Abteil ist fast leer. Ganz hinten sitzt ein knutschendes Pärchen.
Beneidenswert.
Schräg gegenüber sitzt ein...eine...?! Ein Mensch. Irritiert schaue ich noch einmal hin. Ich kann echt nicht erkennen, ob es ein Mann ist oder eine Frau. Der Mensch ist soo dick, dass man kaum Konturen an seinem Körper ausmachen kann. Ob das da vorne Brüste sind? Aber selbst wenn, fette Männer haben auch Brüste.
Wie es wohl ist so dick zu sein? Vielleicht ganz gemütlich. Vielleicht sind harte, unbequeme Stühle dann nicht mehr hart und unbequem, weil man so gut gepolstert ist. Er oder sie sieht mich an.
Ertappt. Hastig sehe ich in die andere Richtung. Betont gelangweilt aus dem Fenster. Die Bahn rattert durch den schwach beleuchteten Tunnel. Sie wird langsamer und bleibt schließlich im dunklen Tunnel stehen. Das kommt alle naselang vor. Mich beschleicht trotzdem immer wieder der Gedanke, was passieren würde, wenn sie mal einmal nicht weiter fährt. Wahrscheinlich gibt es in diesen Tunneln überall Ratten und die Wände fühlen sich kalt und feucht an. Brrrrr.
Die Bahn setzt sich wieder in Bewegung.
Ich schließe für einen Moment die Augen. Noch acht Stationen.
„Hallo. Mensch, dass ich dich hier treffe. Das ist ja ein Zufall. Kann ich mich vielleicht zu dir setzen?“
Ich öffne die Augen. Vor mir steht ein Typ, den ich schon mal irgendwo gesehen habe. Ich kenne den. Aber woher bloß?
„Ja klar, Grüß dich“ ich mache ein hoffentlich angemessenes, angenehm überraschtes Gesicht.
Wir schweigen einen Moment. Was soll ich auch zu einem Menschen sagen den ich so gar nicht einordnen kann.
„Und wie geht es dir so?“ sage ich.
„Oh gut. Ich war gerade mit Freunden was trinken. In so einer kleinen Cocktailkneipe. Echt gute Cocktails, dafür aber leider auch ziemlich teuer."
Woher in aller Welt kenn ich nur dieses Gesicht. Ich hab schon mal irgendwann, irgendwo mit ihm geredet. Vielleicht auf der Party von Gesine? Aber da hab ich mich doch den ganzen Abend mit Lisa und Stefan unterhalten. Mmmh.
"Na ja, also ich zahl lieber ein paar Euro mehr, als meinen White Russian mit Sprühsahne trinken zu müssen."
„Wie wahr, wie wahr“ stimmt er mir zu. „Aber Mensch wir reden hier über Cocktails, wie geht’s dir denn eigentlich?“
Mensch dieses Lächeln. Starkstromkabel. Starkstromkabel?? Wieso fällt mir denn jetzt gerade dieses Wort ein. Hab ich mich vielleicht mit ihm über Starkstromkabel unterhalten, oder welche bei dem Gespräch gesehen? Oder kam mir das Wort in den Kopf, weil ich unterbewusst an die zuckenden, elektrischen Leitungen über der U-Bahn gedacht habe?
„Gut. Eigentlich wollte ich schon längst zu Hause sein. Aber du weist ja wie das ist. Ein Bier geht dann doch noch...“ antworte ich ihm und wische mir wieder mal einen Wassertropfen aus dem Gesicht.
„Dir scheint es ja wieder ganz gut zu gehen.“
Prüfend sieht er mich an. Wieder ganz gut? Ging es mir denn schlecht? Klar ich hatte hin und wieder eine Durchhänger in letzter Zeit. Aber schlecht ging es mir eigentlich nicht. Auf jeden Fall nicht so schlecht, dass ich mit jemandem darüber geredet hätte. Es sei denn ich war betrunken. Kein ganz abwegiger Gedanke.
„Na ja. So schlimm war es ja nicht“, ich mache ein gleichmütiges Gesicht.
„Nicht so schlimm?“ entsetzt sieht er mich an. Dann schleicht sich eine Art Verständnis in seinen Blick.
"Na ja. Menschen gehen ja unterschiedlich mit so was um", jetzt sieht er mich mitleidig an. Das Gespräch fängt an, mir ein wenig suspekt zu werden. Was in aller Welt hab ich denn nur mit dem geredet. Vielleicht, dass ich mal einen Schlag von einem Starkstromkabel bekommen habe. Ich unterdrücke ein Lächeln.
„Du musst deinen eigenen Weg finden damit umzugehen“ fährt er fort. Jetzt teile ich seinen mittlerweile irritierten Blick.
„Das Leben geht schließlich weiter.“
„Klar das Leben geht weiter. Sicher. Muss es ja irgendwie“ er lächelt mich unsicher an und steht dann auf einmal mir nichts dir nichts auf.
„Ehm. Ich muss raus. Die nächste Station ist meine. War nett dich mal getroffen zu haben. Man sieht sich“, überstürzt macht er sich an den Rückzug und ich komme nicht mal dazu, mich meinerseits zu verabschieden. Er geht den Gang entlang und bleibt vor der Tür stehen bis die Bahn hält. Ungefähr fünf Minuten lang. Ja nee is klar. Ich weiß immer noch nicht woher wir uns kennen. Aber ich muss ganz schönen Mist gelabert haben.
Mark
Die U-Bahn kommt vor mir zum Stehen und die Schiebetüren öffnen sich langsam. Ich kann gerade noch zur Seite springen, bevor mich die fetteste Frau, die ich jemals gesehen habe umrennt.
„Ey kannste nicht gucken“ ranze ich sie an und betrachte sie kopfschüttelnd.
„Ist doch noch mal gut gegangen Kleiner“ sagt sie und ich ergreife die Flucht in die Bahn. Selbstbewusst scheint sie ja zu sein.
Die Türen schließen sich hinter mir. Ich sehe mich um. Hinten sitzt ein knutschendes Pärchen.
Die haben es gut. Ich schaue in die andere Richtung. Ist das Paula? Ich gehe ein Stück näher. Tatsächlich. Vielleicht sollte ich so tun als ob ich sie nicht gesehen hätte. Ich hab echt keine Lust über Probleme zu reden. Andererseits ist es wahrscheinlich gut für sie, wenn sie darüber redet. Und wenn sie jemanden zum Trösten braucht...
Ich gehe auf sie zu. Sie sitzt mit geschlossenen Augen da. Ihr Gesicht sieht ganz friedlich aus und ich sehe sie einen Moment an, bevor ich sie anspreche.
„Hallo. Mensch, dass ich dich hier treffe. Das ist ja ein Zufall. Kann ich mich vielleicht zu dir setzen?“
Sie öffnet die Augen und scheint mich nicht zu erkennen. Dann verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Es hätte mich auch wirklich enttäuscht, wenn sie mich vergessen hätte. Wir haben uns schließlich fast zwei Stunden lang unterhalten.
„Ja klar, Grüß dich“, sie fährt sich mit der Hand durch ihre nassen Haare. Sie muss direkt in den Schauer eben gekommen sein. Ob sie sich wohl freut mich zu sehen?. Sieht fast so aus. Wir schweigen eine Moment lang. Was soll ich auch zu jemanden sagen, der erst vor kurzem so etwas schreckliches durchgemacht hat.
„Und wie geht es dir so“ sagt sie schließlich.
„Oh gut. Ich war gerade mit Freunden was trinken. In so einer kleinen Cocktailkneipe. Echt gute Cocktails, dafür aber leider auch ziemlich teuer."
Was laber ich da nur. Cocktails –meine Güte. Mir könnte ruhig etwas tiefsinnigeres einfallen.
"Na ja, also ich zahl lieber ein paar Euro mehr, als meinen White Russian mit Sprühsahne trinken zu müssen."
Sie lächelt mich an. Sie sieht echt nett aus wenn sie lächelt. Süsse Grübchen. Fasziniert beobachte ich wie ihr ein Wassertropfen über das Gesicht rinnt. An der Schläfe entlang, über die Wange und den Hals herunter und dann in ihr Dekoltee.
„Wie wahr, wie wahr“ stimme ich ihr zu. Mein Gott ich sitze hier und rede über so etwas banales wie Cocktails und schaue ihr dabei noch direkt auf die Titten. Ich sollte wirklich etwas sensibler sein.
„Aber Mensch wir reden hier über Cocktails, wie geht es dir denn eigentlich?
“
„Gut. Eigentlich wollte ich schon längst zu Hause sein. Aber du weißt ja wie das ist. Ein Bier geht dann doch noch..“ antwortet sie mir.
Sie scheint nicht drüber reden zu wollen.
„Dir scheint es ja wieder ganz gut zu gehen“ ich lächle sie an. Unverbindlich. Ich will mich nicht aufdrängen, aber ich will auch nicht so tun, als wüsste ich nicht mehr, worum sich unser Gespräch gedreht hat.
„Na ja so schlimm war es ja nicht“ sagt sie.
„Nicht so schlimm?“
Jetzt bin ich doch ein wenig entsetzt. Wie kann man denn so gleichmütig sein. Wenn sie nicht drüber reden will ok, aber dieses unbeteiligte Gesicht? Als ob wir über das Wetter oder so etwas reden würden. Andererseits, vielleicht ist das so etwas wie ein Abwehrmechanismus.
„Na ja Menschen gehen ja unterschiedlich mit so was um.Du musst deinen eigenen Weg finden damit fertig zu werden.“
„Das Leben geht weiter“ jetzt lächelt sie. Vielleicht ist ihr Abwehrmechanismus schon krankhaft. Vielleicht bildet sie sich ein, dass das ganze gar nicht passiert ist. Vielleicht ist sie psychisch krank. Schizophren. Also nee, dass wird mir jetzt doch ne Nummer zu groß. Ich studiere Sozialpädagogik, da muss ich in meiner Freizeit nicht auch noch mit sozial auffallenden Menschen verbringen.
„Klar das Leben geht weiter. Sicher. Muss es ja irgendwie“ ich stehe auf und mache mich schnurstracks auf den Weg zur Tür. Dort warte ich. Mein Gott, wann hält die Bahn denn nun endlich.
Eigentlich war mein überstürzter Abgang ziemlich peinlich. Scheiß drauf. Endlich hält die Bahn. Die Türen öffnen sich. Ich kann gerade noch zur Seite springen, bevor mich eine Frau einfach umrennt. Sie ist völlig aus der Puste. Sieht süß aus. Noch besser würde sie aussehen, wenn ihr nicht dieser seltsame Schlamm an der Nase hängen würde.
„Hoppla immer langsam“ sage ich und lächele sie an. „Beinahe hättest du mich umgerannt“ füge ich dämlicherweise noch hinzu. Intelligenter Smalltalk scheint heut echt nicht mein Fall zu sein.
„Ist doch noch mal gut gegangen, Kleiner“, die Stimme kommt mir irgendwie bekannt vor. Leider muss ich aussteigen. Ich wünsche der Frau noch einen schönen Abend und verlasse die U-Bahn.
Eigentlich hab ich mich eben echt Scheiße benommen. Paula scheint wirklich Hilfe zu brauchen. Und ich mach mich einfach aus dem Staub, weil mir dass zu unbequem ist. Ich krame in meiner Jackentasche nach meinen Zigaretten und nach meinem Handy. Ich wähle die Nummer von Sandra. Sie kennt Paula ganz gut.
„Hey Sandra, wie geht’s? ich hoffe ich hab dich nicht geweckt. Aber ich hab mir gedacht, da du ja meistens recht spät ins Bett gehst...“
„Kein Problem. Was gibt’s denn?“ antwortet mir eine verschlafene Stimme. Mist, scheinbar hab ich sie doch geweckt. Na egal.
„Du ehm, ich hab doch auf deiner Party diese Paula kennengelernt. Du weißt schon ihre Mutter ist doch gestorben und ich hab mich ziemlich lange mit ihr darüber unterhalten.“
„Ja und?“
„Also ich habe die gerade in der U-Bahn getroffen. Und das war völlig strange. Ich meine sie hat getan, als ob gar nichts passiert wäre. Hast du sie in letzter Zeit mal gesehen?“
„Sag mal Mark, ist alles ok mit dir?“
„Was soll denn nicht in Ordnung sein?“ frage ich sie leicht irritiert.
„Du hast dich also gerade mit Paula in der U-Bahn unterhalten ja?“ ihre Stimme klingt belustigt. Was in aller Welt soll das denn jetzt.
„Ja das hab ich doch gerade erzählt. Und sie verhält sich eindeutig seltsam. Ich meine, sie scheint alles total zu verdrängen. Und das kann echt fatale Ausmaße annehmen. Ehrlich, wir hatten letztens in Psychologie einen Vortrag über psychologische Abwehrmechanismen. Sandra?! Lachst du? Also ich weiß echt nicht, was daran lustig sein soll“. Ich kann’s nicht glauben. Sandra lacht tatsächlich. Aus vollem Hals.
„Mark also ehrlich. Ich weiß ja echt nicht mit wem du dich da gerade unterhalten hast, aber Paula ist bei mir. Und zwar schon seit acht Uhr. Und ganz bestimmt nicht in der U-Bahn.“
Ich bin sprachlos. Das in der U-Bahn war gar nicht Paula? Und wieso tut sie dann so, als ob sie mich kennt. Ich beende das Gespräch. Ich ziehe noch mal an meiner Zigarette und werfe sie auf die Schienen. Ich sollte nach Hause gehen. Ins Bett. Nee also ehrlich. Versteh einer die Frauen.
Marie
Sobald die U-Bahn die unterirdische Station verlassen hat fange ich an mich auszuziehen. Zuerst die Jacke, das T-Shirt, dann die Hose. Der Bund hat fast zwei Meter Umfang. Jetzt bin ich nackt. Leider ist nicht mehr viel los hier. Nur ein Penner sitzt auf einer Bank, vor den orange-gelben Kacheln der U-Bahnstation. Er hat die Augen halb geöffnet und stiert auf den dreckigen Boden. Wahrscheinlich würde er mich für eine Halluzination halten, wenn er aufblicken würde. Ich mag es lieber, wenn mir viele Leute zuschauen. Na ja kann man nichts machen. Ich mache mich an den Rest meiner Verkleidung.
Natürlich bin ich nicht wirklich nackt. Ich hab noch mein „Ganzkörperfettkostüm“ an. So eine Art Sumoringerverkleidung. Meine Hände und mein Gesicht sind mit einer speziellen Theatermodelliermasse präpariert. Eine Freundin hat mir gezeigt wie das geht. Sie arbeitet als Maskenbildnerin in einem Theater in der Innenstadt. Sie besorgt mir regelmäßig dieses Zeug und ungefähr einmal im Monat kitzelt es mich dann.
Ich umhülle meinen mittlerweile schlanken Körper mit Unmengen von „Polsterfett“ und macht aus meinen zarten Fingern etwas das aussieht wie rötliche Weißwürstchen.
Am schwierigsten ist das Gesicht. Wulstige Lippen, herunterhängende Schwabbelwangen, die Nase bekommt einen kleine Höcker und meine Augen verschwinden fast in der fettigen Masse. Die ganze Verkleidungsprozedur dauert ca. drei Stunden. Die Mühe lohnt sich jedes Mal. Warum ich so etwas idiotisches mache? Nun ja früher hab ich wirklich mal so ausgesehen. Ich wog 135 Kilo bei einer Größe von 1,76m.
Vor zwei Jahren hab ich angefangen abzunehmen. Ein Jahr lang hab ich nur von Knäckebrot gelebt. Und hab Sport gemacht. Laufen, schwimmen, Fitness... das ganze Programm. Jeden verfickten Tag in der Woche. Nach einem Jahr hab ich dann 56 Kilo gewogen. Mit flachem Bauch und jeder Menge Muskeln. Nicht übertrieben, sondern genau richtig. Ich bin zu einer Superfrau geworden. Endlich fand ich Klamotten die mir passten, Männer die sich für mich interessierten, Freundinnen die mich ernst nahmen, einen Job den ich wollte. Mittlerweile kann ich alles bekommen was ich will.
Was früher unerreichbar für mich war, bekomme ich jetzt mit Hilfe eines Lächelns.
Tja und in letzter Zeit werde ich nachlässig. Ich kann mich kaum noch überwinden zum Sport zu gehen und hab dauernd Lust auf Pommes, Pizza und ähnliche Todsünden. Als ich die ersten fünf Kilo wieder drauf hatte kam mir dann diese Idee. Ich verwandele mich wieder in die fette, unattraktive Frau die ich einmal war und setze mich in die U-Bahn.
Wow, neuer Rekord. Ich hab genau zwei Minuten gebraucht, um mich von meiner Kostümierung zu befreien. Meine Finger und mein Gesichtsfett liegt im Müll. Und die Klamotten und die Verkleidung stopfe ich in meinen Rucksack. Ich sprinte los. Die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal. Ein Stück die Straße entlang, dann rechts ab und gerade aus. Dann wieder Treppe runter. Geschafft. Ich hab gerade noch ein paar Sekunden Zeit zu verschnaufen. Das klappt nur in den seltesten Fällen und auch nur, wenn die U-Bahn zwei Mal an einer roten Ampel halten muss.
Die Türen gehen auf und ich laufe fast gegen den gleichen Typen wie vorhin.
„Hoppla immer langsam“ sagt er und zeigt mir ein strahlendes Lächeln. Hoppla?
„Beinahe hättest du mich umgerannt“ fügt er noch hinzu. Ach nee was originell. Er schiebt sich an mir vorbei und ich betrete die Bahn.
Das Pärchen knutscht immer noch. Das Mädel mit den nassen Haaren ist auch noch da und sieht aus dem Fenster. Sie hat die Stirn gerunzelt und scheint angestrengt nachzudenken. Hin und wieder schüttelt sie irritiert den Kopf. Jetzt dreht sie sich ein wenig. Ihr Blick huscht an mir vorbei und kehrt dann noch einmal zurück zu mir. Sie mustert mich interessiert von oben bis unten.
Das ist es. Dieser Abend bringt mich wieder dazu einen Monat durchzuhalten. Er bringt mir wieder ins Gedächtnis wie es mir jetzt geht und wie es mir vorher ging.
Das ist besser als Magersucht, oder?
Lea
Die nächste Station ist meine. Ich stehe auf und beschließe, einfach nicht mehr über den Typen von vorhin nachzudenken. Ich komme ja doch nicht drauf, woher ich ihn kenne. Vielleicht sollte ich langsam mal anfangen meinen Alkoholkonsum einzuschränken.
Ich schaue noch mal unauffällig zu der Frau, die eben eingestiegen ist. Sie sieht wirklich genauso aus wie Sara. Nur das Sara etwas gepflegter wirkt. Die da könnte wirklich etwas mehr auf sich achten. An ihrer Nase hängt irgendein undefinierbarer Klumpen und sie sieht total verschwitzt aus.
Na ja, wenigstens scheint sie zufrieden zu sein.
Die Bahn hält, ich steige aus und gehe nach Hause.