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Neulich in der U-Bahn

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06.11.2003
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Neulich in der U-Bahn

U-Bahn fahren ist langweilig. Stinklangweilig sogar! Natürlich kann man lesen. Es gibt Leute, die lesen während des U-Bahn Fahrens Geschichten über das U-Bahn Fahren. Da kann es vorkommen, dass der Protagonist des Romans in einer U-Bahn fahrend Geschichten über das U-Bahn Fahren liest, weil er U-Bahn fahren langweilig findet. Stinklangweilig sogar! Dann sinniert er vielleicht darüber, welche Geschichten sich so während einer U-Bahn Fahrt ereignen können.

Holger musste stehen. Leider konnte er seiner im Großen und Ganzen gelungenen Erziehung nicht entgehen und hatte einer älteren Dame seinen Sitzplatz angeboten, wobei es nicht das erste Mal war, dass sein Angebot angenommen wurde. Da er für die Jahreszeit zu warm angezogen war, eine schwere Tasche trug und jetzt stehen musste, genoss er die Fahrt in vollen Zügen und seine Laune verschlechterte sich von Haltestelle zu Haltestelle. Holger musterte die ältere Dame, die bei näherem Hinsehen so alt gar nicht sondern nur unvorteilhaft geschminkt zu sein schien. Während der Lippenstift die schmalen Lippen mit offensichtlich voller erscheinen lassen sollte, waren die Augen praktisch nicht erkennbar. Falsche Wimpern soweit das Auge reichte. Aber das war nicht Holgers Problem. Sein Problem lag eher darin, dass der aufdringliche Duft ihres Parfums begann, seine Geruchsorgane aufdringlich zu belästigen. Die von starkem Schwindel begleitete aufsteigende Übelkeit versuchte er durch konzentriertes Ignorieren zu bekämpfen. Seinen Gleichgewichtssinn suchte er noch irgendwo im komatösen Nebel seiner stetig steigenden Reaktionszeiten als ihm der Zug mit einer durch die Unebenheiten des Gleiskörpers verursachten ruckartigen Bewegung in Bruchteilen von Sekunden klar machte, was sein Physiklehrer ihm damals vergeblich zum Thema Trägheit der Masse zu veranschaulichen versucht hatte. Er nahm im Zeitlupentempo wahr, wie er hinter seiner Tasche her in Richtung des Sitzplatzes taumelte, den er Minuten vorher seine Reue nicht ahnend freigegeben hatte. Um die Flugrichtung zu ändern und damit einer endgültigen Ohnmacht durch eine Überdosis Parfum zu entgehen, streckte er geistesgegenwärtig, aber leider immer noch in Zeitlupe, seine verbleibende freie Hand nach einer Haltestange aus, die allerdings knapp außerhalb seiner Reichweite lag. Als einzige Alternative zu einem unsanften Aufprall auf der – wie er sie mittlerweile nannte – alten Schabracke verblieb das Festkrallen im glänzenden Outfit eines korpulenten Heranwachsenden, dessen Freude über die verkratzte Lederkombi in einem kräftigen Schubser mündete, der die Flugrichtung dahingehend beeinflusste, dass die unvermeidlich harte Landung auf einem im Mittelgang des Zuges – und zwar nach Holgers Ansicht zu dieser Tageszeit völlig unerlaubt – abgestellten Herren-Sportrad stattfand. Wie sich heraus stellte war dessen Besitzer über das Vorhandensein des Rades jedoch grundsätzlich gegenteiliger Meinung und brachte sein Unbehagen über die mit dem Aufprall verbundenen kosmetischen Veränderungen durch eine Umkehrung von Holgers Flugbewegung zum Ausdruck. Bevor Holger realisieren konnte was mit ihm geschah, fand er sich vor den Füssen des korpulenten Heranwachsenden wieder, der Holgers Schwung mit einer kurzen Bewegung seines Baseball-Schlägers verlängerte und ihn unsanft gegen die abteil-trennende bruchsichere und damit unnachgiebige Glasscheibe beförderte. Glücklicherweise blieb ihm durch das laute Pochen in seinem Schädel, welches er als letztes vor der eintretenden Bewusstlosigkeit wahrnahm, das unschöne Geräusch des Brechens seines Jochbeins erspart. Sein Blut rann bereits in Strömen zu einem kleinen See zusammen als ein überzüchteter Kampfhund ohne Maulkorb sich die Situation zu Nutze machend auf Holger zusprang und…

Na gut, dachte sich der Protagonist, das ist jetzt vielleicht doch etwas übertrieben. So etwas will man noch nicht einmal auf einer langweiligen U-Bahn Fahrt lesen. Glücklicherweise bin ich kein Schriftsteller, sondern nur ein Protagonist in einer U-Bahn Geschichte, die jemand während des U-Bahn Fahrens liest, der U-Bahn fahren langweilig findet. Stinklangweilig sogar!

 

Hello Sir Toby,

willkommen auf kg.de

Deine erste, kurze Geschichte hat mir im Großen und Ganzen gefallen. Schön, wie Du am Ende der Geschichte wieder auf den Anfang zurück kommst. Und schön, wie der Erzähler sich selbst nicht so wichtig nimmt. Besonders gelungen fand ich, wie Du mit Worten und deren Bedeutung spielst:

genoss er die Fahrt in vollen Zügen
oder
Falsche Wimpern soweit das Auge reichte.
Dabei passiert es Dir leider auch, dass Du - meiner Meinung nach - manchmal über das Ziel hinausschießt. Ab und an ist weniger eben doch mehr.
Während der Lippenstift die schmalen Lippen mit der Natürlichkeit eines Michael Jackson offensichtlich voller erscheinen lassen sollte
Den Hinweis auf Michael Jackson hätte ich mir an Deiner Stelle gespart. Macht den Satz viel zu kompliziert und sagt dennoch nichts aus.

Wenn man so wie Du mit Sprache spielt, müssen die Zeiten stimmen. Hier hättest Du vom Perfekt ins Plusquamperfekt wechseln müssen

was sein Physiklehrer ihm damals vergeblich zum Thema Trägheit der Masse zu veranschaulichen versuchte.
Last but not least solltest Du die Geschichte noch mal auf Zeichensetzung überprüfen. Ich bin in dieser Hinsicht zwar auch kein Vollprofi, aber das ein oder andere Mal scheint Dir ein Komma entfleucht zu sein.

Fazit: Ein gelungener Einstand, witzig und flott geschrieben, der Appetit auf mehr macht.

Viele Grüße
George

 

Hallo George,

vielen Dank erstmal für die Blumen. (Ein wenig Lampenfieber hatte ich bei meiner Premiere schon.)

Und danke auch für Deine ausführliche Stellungnahme. Ich werde mir Deine Kritik zu Herzen nehmen und den Text noch einmal überarbeiten.

Schöne Grüße,
Sir Toby

 

Seid gegrüßt, eure Erlauchtheit Toby :)

Ich mag Geschichten, die aus der Beschreibung des ganz normalen Alltags ins Absurde und Schräge abdriften, daher hat mir die Geschichte stellenweise recht gut gefallen.

Den Ansatz, eine verkomplizierte, fast wissenschaftliche Sprache zur Beschreibung der Klopperei zu Verwenden, fand ich gut, allerdings wirkt das auf mich wie ein spontaner Einfall während des Schreibens. Hätte mir besser gefallen, wenn du das die ganze Geschichte durchgehalten hättest. Dann hätte der Tumult auch noch mehr ausarten können, auch wenn der Prot das evtl gar nicht mehr mitbekommen hätte ;)

So fand ich die Geschichte leider bis auf wenige, von George schon angesprochene, Stellen recht langweilig :sleep:

Gruß
Christoph

 

Ich fand die Geschichte nicht langweilig, denn eine gute Story wird nicht zur guten Story indem man haaresträubende Action, etc. hineinpackt. Es kommt auf die Ausarbeitung, die Umsetzung, die Originalität und auf den Stil an und davon hat diese Geschichte genug. Gefällt mir!

 

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