Neues Leben
Kathrin saß auf meinem gelben Drehstuhl und blickte zum Fenster hinaus. Die Hälfte ihrer blonden Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr über die rechte Schulter hing, die andere Hälfte hatte sich Laufe des Tages aus dem Flechtwerk gelöst und stand widerspenstig vom Kopf ab. So oft hatte sie schon genau dort gesessen und genau zu diesem Fenster hinausgeschaut, auf die Wiese, auf der manchmal die Katzen des Nachbarn hockten, wenn sie auf Mäuse lauerten. Das letzte Buch landete im Karton. Mein Lieblingsbuch. Jetzt lag es ganz oben, damit ich es sofort wiederfand, wenn ich angekommen war. Es hatte meiner Mutter gehört und jahrelang oben auf dem Dachboden gelegen, bis sie es gefunden und mir geschenkt hatte. Der Einband war schwer von der Zeit gezeichnet, die Seiten vergilbt und manche von ihnen geknickt. Sie hatte vorgeschlagen, mir eine neue Ausgabe zu kaufen aber ich liebte es gerade deshalb so sehr, weil zwischen den Seiten unzählige Erinnerungen steckten. „Ist das der letzte Karton?“ Kathrin erhob sich von dem Stuhl und kam auf mich zu. Ich nickte. „Ganz schön leer hier drin.“ Sie ließ ihren Blick durch mein Zimmer schweifen, etwas veränderte sich in ihrem Gesicht. Ich glaubte Traurigkeit darin zu erkennen. “Weißt du, ich freu mich ja wirklich für dich, dass du jetzt studieren gehst und so aber“, sie stockte einen Moment und sah auf ihr Füße hinunter, „ich werd dich vermissen.“ Meine Schwester hob den Kopf wieder und sah mich mit einem Lächeln auf den Lippen an. „Wenn soll ich den jetzt den ganzen Tag lang nerven, ich meine, das wird doch total langweilig ohne dich. Ich musste lachen. „Es wird bestimmt auch schwer für mich, mich daran gewöhnen zu müssen, dass plötzlich niemand mehr da ist, der es schafft, mich in den Wahnsinn zu treiben.“ „Tja, auf mich kann man halt nicht verzichten und jetzt würde ich vorschlagen, dass wir den Karton runtertragen, damit du endlich losfährst und nicht noch eine halbe Stunde hier herumstehst und die leeren Wände anstarrst.“ „Ja, gute Idee.“, stimmte ich ihr zu und löste meinen Blick von der Stelle meiner Wand, an der vor einer Weile noch Fotos von meinen Freunde gehangen hatten.
Wir schleppten den bis zum Rand mit Büchern gefüllten Karton die Treppe hinunter. „Du liest eindeutig zu viel! Wie viele Bücherkartons haben wir heute runtergeschleppt, hundert oder sogar zweihundert?“ Kathrin streckte sich ausgiebig und stieß dabei ein ächzendes Geräusch aus. Sie war jetzt fast so groß wie ich und nichts erinnerte mehr an das kleine, aufgedrehte Mädchen, das sie vor einigen Jahren noch gewesen war. „Und, habt ihr es endlich geschafft?“ Mein Vater kam mit einem breiten Grinsen in den Flur, dicht gefolgt von meiner Mutter. „Ja, das war der letzte Karton.“, sagte ich und ich konnte nicht verhindern, dass ein wenig Wehmut in meiner Stimme mitschwang. „Zum Glück, noch einen mehr und ich wäre auf der Treppe zusammengebrochen.“, jammerte Kathrin und ließ sich neben den Bücherkarton auf den Teppich fallen. „Jetzt stell dich mal nicht so an Kathrin, du bist schließlich die Jüngste hier!“, kommentierte mein Vater ihr Verhalten. Kathrin antwortete nicht, sondern blieb nur reglos auf dem Boden liegen, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Meine Eltern trugen den Karton nach draußen und ich folgte ihnen bis zu dem vollbeladenen, roten Auto, dass vielleicht etwas zu lange nicht gewaschen worden war. Mein erstes Auto und zugleich mein ganzer Stolz. Der Wind wehte durch das riesige Getreidefeld auf der anderen Straßenseite. Immer wenn die Getreidehalme sich an einem warmen Tag im Wind wiegten, konnte man erkennen, ob der Sommer angefangen hatte, denn dann lag ein ganz besonderer Geruch in der Luft. Dann roch es einfach so, wie es nur zuhause roch. Ich zog meine Weste aus und warf sie auf den Bücherkarton, den meine Eltern auf den Rücksitz gestellt hatten. „Jetzt fängst du also dein eigenes Leben an.“ Meine Mutter bemühte sich darum, zuversichtlich und fröhlich zu klingen, aber es gelang ihr nicht. „Ja, wenn ich das schaffe, so ganz ohne euch.“ Ich richtete den Blick auf die Baumkronen des Waldes, die ich von meinem Zimmerfenster aus hatte sehen können. „Ach was, wer sein Abitur mit 1,2 bestanden hat, wird ja wohl mit einer eigenen Wohnung zurechtkommen.“ Mein Vater sah mich aufmunternd an. „Außerdem wolltest du doch immer in einer Stadt wohnen.“
Ja, das stimmte, ich hatte so oft von einem anderen Leben geträumt aber das tat schließlich jeder mal und zwischen Träumen und der Realität gab es einen großen Unterscheid. Zum ersten mal allein in einer fremden Stadt. ich würde mir bestimmt winzig klein und verlassen vorkommen. „Bist du dir da sicher, ihr selbstgebackener Kuchen schmeckt sehr gewöhnungsbedürftig.“ Ich drehte mich um und sah direkt in Kathrins blaue Augen, die winzige Lachfältchen umgaben. „Sag du mal nichts gegen meine Backkünste, du würdest wahrscheinlich die komplette Küche in Brand setzen.“, lachte ich, hätte aber im nächsten Moment schon wider weinen können. Oh ja, ich würde sie vermissen, Ich würde das alles so sehr vermissen. Mein ganzes Leben hatte ich hier verbracht und jetzt sollte ich plötzlich auf eigenen Beinen stehen. Kathrin streckte lachend die Arme nach mir aus. Ihre Haare kitzelten mein Gesicht und am liebsten hätte ich nicht mehr losgelassen aber jetzt war der Moment gekommen, um Abschied zu nehmen. Ich bemerkte das Zittern in der plötzlich so leisen Stimme meiner Mutter, die mich noch einmal ermahnte, vorsichtig zu fahren und sofort anzurufen, wenn ich angekommen war und ich sah, dass das Lachen aus dem Gesicht meines Vaters verschwunden war, als hätte es jemand einfach weggewischt. So anders sah er aus, so leer war sein Blick ohne das Funkeln in seinen Augen, dass immer dann in ihnen lag, wenn er lachte. Gestern hatte ich mich noch gefreut, auf die neue Wohnung, das Studium und die Großstadt, heute breitete sich Angst in mir aus. Jetzt begann ein neues Leben. Ich warf noch einen letzten Blick auf das Haus. Die steinerne Treppe zur Eingangstür funkelte in der Mittagssonne. Dann drehte ich mich entschlossen um und öffnete die Autotür. Noch einmal wand ich den Blick und hob die Hand, um zum Abschied zu winken. Meine Eltern standen mit Kathrin vor dem Haus und lächelten aber ich erkannte sofort, dass es kein echtes Lächeln war. Wie versteinert schienen ihre Gesichter, die Augen wirkten matt.
Ich fuhr an dem Ortsschild des Dorfes vorbei und kurbelte das Autofenster hinunter. Alles, was ich hörte war das unermüdliche Singen der Vögel in den Bäumen und den seichten Wind im Getreidefeld. Es roch unverkennbar nach Sommer.