Mitglied
- Beitritt
- 25.06.2011
- Beiträge
- 8
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Neues Leben
Verdammt! Es war Freitagmorgen und Steven kam wieder einmal nicht aus dem Bett, sodass er auf einen Bus ausweichen musste, der ihn nicht rechtzeitig zur Arbeit bringen würde. Sein Auto war jetzt seit zwei Wochen in der Werkstatt, und seitdem würde es bereits das vierte Mal sein, dass er zu spät zur Arbeit käme. Völlig unausgeschlafen stöberte er in dem Einzimmerapartment, welches er seit zehn Jahren bewohnte, nach seinem Lieblingshemd, welches er schließlich hinter der blauen Schreibtischlampe auch fand.
Es war nicht mehr das schönste, aber sein einziges Hemd. Vor Jahren hatte es einmal die Farben der Flagge Amerikas getragen, inzwischen waren aber das Blau und das Weiß zu einem unappetitlichen Braungrau verschmolzen.
Er schnappte sich noch schnell eine Banane und verließ das Haus in Richtung Haltestelle. Sie war nur wenige Meter weit entfernt, weswegen er seinen Bus gerade noch bekam. Er setzte sich auf eine der hinteren Bänke des kaum gefüllten Busses und verfiel in Gedanken.
Die meisten werden wohl schon da sein, wo sie sein müssen, dachte sich Steven beim Anblick der leeren Bänke. Er war die Einsamkeit gewohnt. Seit zwanzig Jahren arbeitete er in derselben Baufirma. Die Highschool hatte er nur mit Müh und Not überstanden. Es folgten zwei arbeitslose Jahre, nach denen er glücklich gewesen war, diesen Job zu finden.
Damals zumindest. Mit seinen mittlerweile vierzig Jahren blickte er eher resigniert auf sein Leben zurück. Seine Eltern hatten beide studiert und bis zu ihrem Tode gute Jobs gehabt. Sie erhofften sich zu Lebzeiten für ihren Sohn stets den gleichen Lebensweg, doch Steven wollte seinen eigenen Weg gehen und tat dies auch. Die Schule sah er als reine Zeitverschwendung an, Freundschaften hatte er nie geschlossen. Er war immer mehr zum Einzelgänger geworden und hatte nach und nach jede Motivation und seinen Lebenswillen verloren.
Steven sah die Welt aus dem Fenster an sich vorbeiziehen. Bäume, Menschen, Häuser, die städtische Universität. In dieser schönen Gegend hätte er auch leben können. Hier hätte er studieren können und in diesem Bürogebäude, das gerade in sein Sichtfeld geriet, hätte er arbeiten können.
Studieren ... was hätte ich wohl studiert? Vielleicht Geschichte, dafür hab ich mich schon immer interessiert. Für die Römer, wie sie bis an die Mongolische Hochebenen gelangt sind mit ihren neuartigen Armbrüsten, oder die Imker, die Erbauer der berühmten mittelamerikanischen Pyramiden ... oder vielleicht hätte ich auch Musik studiert. Ich hätte ein Instrument spielen lernen können. Trompete möglicherweise oder Klavier. Ja, Klavier ... dann wäre ich ein großer Künstler geworden, ein weltbekannter Philatelist ... oder so. Frauen lieben Männer, die Klavier spielen können.
Ich hätte mir die schönste von ihnen aussuchen können, wir hätten geheiratet und zwei wundervolle Jungen gezeugt.
Seine Gedanken wurden rasender, sein Selbstbewusstsein erwachte aus seinem komaähnlichen Tiefschlaf. Er sprang wie befreit auf und schrie laut: Ich mach’s! Ich werde anfangen zu studieren und dann gründe ich endlich eine Familie. Ich werde alles nachholen. Ich werde Geschichte oder Musik oder vielleicht auch Kunst studieren und meinen Abschluss machen, wieder Spaß an meinem Leben haben, wieder leben!
Das alles hatte er laut ausgerufen, wodurch der Busfahrer und einige Passagiere sich leicht entsetzt zu ihm umgedreht hatten. Doch das interessierte Steven nicht, er war willens und bereit, sein Leben endlich zum Besseren zu wenden und glücklich zu werden.
Der Bus hatte sein Ziel unterdessen fast erreicht. Wegen einer Baustelle musste der Bus allerdings noch einige Meter weiter als gewöhnlich fahren. Hinter einem langen Tunnel kam der Bus schließlich zum Stehen. Steven musste den Weg, den der Bus extra gefahren war, wieder zurück durch den Tunnel gehen. Für gewöhnlich hätte ihm das wohl schon allein seinen Tag versaut, doch nicht heute.
Fröhlich pfeifend schlenderte er den knapp fünfhundert Meter langen Tunnel entlang. Sobald er ankäme, würde er seinen Job kündigen und sich am städtischen College einschreiben. Er war so euphorisch, dass er das Rauschen gar nicht wahrnahm. Er hatte die Hälfte des Weges bereits geschafft.
Ich werde in sein Büro gehen, ihm meine Arbeitshandschuhe auf den Tisch knallen und sagen, dass ich genug von ihm und seiner Firma habe!
Das Rauschen wurde lauter. Steven nahm es jetzt wahr, er bekam Angst. Er fing an, schneller zu gehen und noch schneller, immer schneller, er rannte, so schnell er konnte. Gesteinsbrocken stürzten herab, zuerst nur ein paar faustgroße, dann Stücke in der Größe von Autoreifen. Steven war schon fast am Ausgang angelangt, als der Tunnel in sich zusammenfiel und alles unter sich begrub.