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Neues Leben aus der Tiefe dringt

Seniors
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15.04.2002
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Neues Leben aus der Tiefe dringt

Ich quake, und die Enten quaken zurück.
Der Teich ist fast völlig zugefroren. Mein Atem bildet eine weiße Wolke, die sich langsam mit dem schwarzen Himmel über dem Park vereint.
Heute ist der 21. Dezember. Es ist der kürzeste Tag, es ist die längste Nacht, aber erst in drei Tagen feiern die Menschen das, was aus dem Fest der Wintersonnenwende geworden ist. Dafür wissen die meisten ganz genau, welchen Einfluss der Jupiter auf ihr Liebesleben hat.
Ich schalte mein Handy ab, hole eine Kerze aus der Tasche und entzünde sie.
Reif bedeckt die Wiese, die den ganzen Tag in den langen Schatten der Bäume gelegen hat. Das kleine Licht von der anderen Seite nähert sich.
In der Mitte treffen wir zusammen.
Ich spreche die ersten Worte. »Wir grüßen die Götter und Geister, unsere Mutter Erde und alle Wesen, die mit uns sind.«
»Heil allen hochheiligen Göttern«, kommt ihre Antwort.
»Hi Anny.«
»Hi.«
Wir stellen die Kerzen vor uns ab.
»Ich hab noch ein paar Geschenke eingekauft«, sagt Anny.
»Hast du jetzt alles?«
»Ich denke schon.«
»Also dann.«
»Also dann.«
Ich hole Luft und beginne: »Heute vor einem halben Jahr haben wir hier Mittsommer gefeiert – und es war eine ziemlich heiße Nacht, wenn ich das sagen darf ...« Dabei kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Seitdem wurde das Tageslicht weniger, bis es jetzt die dunkelste Zeit erreicht hat, den Tiefpunkt des Jahresrades, an dem der Weg vollendet ist und von neuem beginnt.«
»Wenn Winter Eis und Kälte zwingt, und Dunkelheit das Leben streift ...«, beginnt Anny das alte Gedicht, und ich ergänze: »... schon neues Leben aus der Tiefe dringt und tief verborgen neuer Frühling reift.«
Anny fährt fort: »Heute feiern wir das Julfest. Wir feiern die Vollendung des Jahresrades und den neuen Anfang, die Wiedergeburt der Sonne, des Lichts und des neuen Lebens. Leider ist es für Fruchtbarkeitsrituale zu kalt.«
»Aber wir haben ja unser warmes Zuhause«, merke ich an.
»Und den Met«, sagt Anny, holt die Flasche hervor und stellt sie neben ihrer Kerze ins Gras.
»Und den Met«, lache ich.
Anny bleibt ernst und setzt das Ritual fort: »Wir gedenken unserer Ahnen. Sie leben weiter in der Erde, von der sie wieder ein Teil geworden sind. Wir gedenken heute, wenn wir das neue Leben begrüßen, derer, die ihren Lebenskreis schon vollendet haben.«
Wortlos löschen wir unsere Kerzen und schweigen einen Moment. Um uns sind die fernen Geräusche der Zivilisation, deren Teil wir sind.
Es ist Zeit, das neue Licht zu entzünden. »Der Kreis ist vollendet, ein neuer Kreis beginnt.«
Anny zündet ihre Kerze an und nimmt sie in die Hand. »Wir entzünden das Feuer der Schöpfung. Flamme wachse an Flamme, so dass Wärme, Licht und Leben glühen und nicht verlöschen vor der Zeit.«
Ich nehme meine Kerze und gehe zu meiner Partnerin. An ihrer Flamme entzünde ich mein eigenes Licht. »Dies ist das erste Licht des neuen Jahres. Der Kreis des Lebens schließt sich. Wir danken den Göttern und Göttinnen, der Erde und den Ahnen für das Leben, das wir durch sie haben.«
Etwas klappert.
»Das sind meine Zähne«, sagt Anny.
»Dann verschieben wir das mit dem Met auf später.«
»Gut.«
Wir packen Kerzen und Flasche ein und marschieren zur Bushaltestelle.
In einiger Entferung quaken die Enten. Vielleicht haben sie auch irgendwas zu feiern.

(frei nach einem heidnischen Ritual)
Ich wünsche mit dieser Geschichte allen Lesern schöne Festtage - was immer ihr feiert.

 
Zuletzt bearbeitet:

Gehalten ist gehalten, Uwe ;)


[Off]
Da tut es mir ja fast(!) schon Leid, dass du gestern nur mit mir und nicht mit Chaosqueen vorlieb nehmen musstest. Aber immerhin hab ich ja den Met... ;)
[On]

Zur Story: Diese hier ist eigentlich selbsterklärend. Ein Päärchen tauscht die alten christlichen Weihnachtssrituale gegen noch ältere, heidnische. Nicht das Heil der Menschenseele(n), sondern das Bestehen der Welt, der (Mutter?) Natur, wird (für ein Jahr) gesichert.


Kritik: UND WO BLEIBT DER AUSSCHWEIFENDE SEX! *lechtz* :D Und die Enten haben mich etwas irritiert. ;)


Vielen Dank für das kleine Geschenk! Hat mir gut gefallen. Etwas zu erzählerisch für meinen Geschmack, aber als Schnellschuss und überhaupt ... :)


Christliche Grüße


Dante :xmas:

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass das Ritual a) sehr explizit in die heutige Welt (samt christlicher Weihnacht) eingebettet ist, die Zivilisation also keineswegs verneint wird und b) wenig dogmatisch abläuft. Es wird nicht als Alternative, sondern als Zusatz zur christlichen Weihnacht durchgeführt und zeigt, dass in unserer Gesellschaft durchaus Platz für mehr als ein Ding sein kann. Ähm. Anders gesagt: Ich bin zur Wintersonnenwende mit einem Teelicht in der Hand durch die ganze Firma gelaufen, habe die Wiederkehr der Sonne verkündet und Lebkuchen verteilt. Ihr dürft mich also einen heidnischen Missionar nennen ;)

Der ausschweifende Sex ist wahrscheinlich sehr brav und findet zuhause statt, wenn die Protagonisten nicht vorher einschlafen.

Die Enten machen die Geschichte rund, indem sie einen ungewöhnlichen Einstieg und einen nachdenklichen Schluss ermöglichen. Außerdem sind die ersten paar Zeilen authentisch :D Sie sind für die Geschichte wichtig, weil, äh, nun, hm, ich sie wichtig finde.

:cool:

 

Hallo Uwe,

schöne runde Geschichte. Am besten gefallen mir diese beiden Stellen

Etwas klappert.
»Das sind meine Zähne«, sagt Anny.
und
In einiger Entferung quaken die Enten. Vielleicht haben sie auch irgendwas zu feiern.
Ich würde die Enten auch drinlassen, egal, ob authentisch oder nicht. Sie geben dieser kleinen Geschichte einen Anfang und ein Ende und verweisen am Ende wieder auf den Anfang - und darum geht es doch schließlich ...

Viele Grüße
George

 

Hi George,

freut mich, dass Du das mit den Enten genauso siehst. Sie sind wie der Rahmen eines Bildes. Ohne würde der Inhalt einfach zu Boden purzeln. Oder so :cool:

 

hallo uwe post
ich hab hier noch ne kleine kritik, oder frage oder wie auch immer anzubringen:

Zitat: "Ich schalte mein Handy ab,..."

heisst das wirklich abschalten, oder ist das ein wortspiel, wie man in den ferien abschaltet und den alltag vergisst? oder ist hier wirklich ausschalten gemeint? bin jetzt gerade einbisschen verwirrt, weil man das im schweizerdeutschen auch so sagt, und ich immer dachte im hochdeutschen sei das anders?

schonen heiligen abend allerseits
penny lane

 

Abschalten und Ausschalten wird mehr oder weniger synonym verwendet.
Natürlich ist diese Stelle auch symbolisch zu verstehen, aber überinterpretieren sollte man es nicht. Schöne Weihnachten ...

 

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