Neue Zeiten
Herbert spazierte durch den Stadtpark. Er kam gerade vom Arzt und war jetzt auf dem Heimweg. Im Winter war er gern die schmalen Sandwege entlang gegangen, doch nun fickten und vögelten sich die Jugendlichen wieder das Hirn aus dem Leib.
Die ehemals so vollkommende, schneebedeckte Stille war einer arhythmisch gestöhnten Sinfonie aus Orgasmen gewichen. Überall auf den saftig grünen Wiesen, den Parkbänken und selbst im Wasser des Sees trieben es die Menschen.
Mit angewidertem Gesicht stierte Herbert auf den Boden vor seinen Füßen und stakste auf seinem Krückstock gelehnt missmutig voran.
„Verdammte Jugend! Nur Sex im Kopf!“, grummelte er vor sich hin und schüttelte ab und an seinen Kopf. „Und dafür ist unsereins früher auf die Straße gegangen! Ts ts ts...“
Der Mai bot all seine Kraft auf. Ein wunderbarer, blauer Frühlingshimmel überspannte die Stadt und anscheinend nutzten alle das gute Wetter, um sich mal wieder so richtig der schönsten Nebensache der Welt draußen im Freien hinzugeben. Ein Gruppe nackter Frauen kam Herbert jauchzend entgegengelaufen und tanzte, sich gegenseitig jagend, um den Alten herum. Der schob sie unsanft mit seinem Stock zur Seite und ging ungerührt weiter.
„Sollen mich in Ruhe lassen mit ihren Perversionen!“, nuschelte er, während die Frauengruppe sich hinter ihm auf einer Wiese ihrem Spiel hingab.
„Keine Moral gibt’s heutzutage mehr. Kein Anstand. Nur Rumgevögele!“
Hinter einer kleinen Rosenhecke fand er endlich eine freie Bank, auf der er sich ungestört vom allgegenwärtigen Treiben einen Moment lang ausruhen konnte. Er zog eine Zeitung aus seiner Jackentasche, die er in der Praxis des Arztes hatte mitgehen lassen, und begann zu lesen.
Ein Männerpärchen stellte sich ihm in die Sonne.
„Verzeihen Sie, ist da noch frei?“, fragte der eine und deutete mit der Hand auf den Bankplatz neben Herbert. Der Alte blinzelte nur kurz über den Rand seiner Zeitschrift, knurrte vor sich hin und beschloss, die beiden Männer einfach zu ignorieren, die es sich neben ihm bequem machten.
Ein rhythmisches Schlurpgeräusch unterbrach erneut seine Konzentration. Wutentbrannt sprang Herbert auf und schleuderte den beiden Männern die Zeitung ins Gesicht beziehungsweise in den Schoß.
„Das ist ja nicht zum Aushalten! Verdammte Scheiße! Habt ihr denn kein Zuhause?“
Die Männer sahen ihn fragend an.
„Und dafür ist unsereins damals auf der Strasse gegangen! Nur Perverse überall! Keinen Funken Anstand im Leib. Zum Kotzen ist das.“
Eilig machte er sich auf den Heimweg.
Unter einem kleinen Hain kam ihm eine attraktive Frau in den mittleren Jahren entgegen. Sie sah sich immer wieder interessiert nach den vielen Pärchen und Gruppen überall in der Nähe um und rempelte dabei aus Versehen den zügig dahinschreitenden Herbert an. Der schnaufte nur erbost, doch die Frau entschuldigte sich für ihre Unaufmerksamkeit und lächelte freundlich.
„Ist es nicht schön zu sehen, wie frei und ungezwungen sich alle benehmen?“
„Pah! Zu meiner Zeit hätte es das nicht gegeben“, knurrte Herbert zurück und wollte weiter. Doch die Dame legte sanft ihre Hand auf seinen Arm und unterstützte ihr Lächeln mit unzweideutigen Augenaufschlägen.
„Verzeihen Sie, es ist sonst nicht meine Art, einfach so jemanden zu fragen. Aber wir haben heute so schönes Wetter und alle freuen sich des Lebens... Wollen Sie vielleicht mit mir dahinten...?“
Viel fehlte nicht, und Herbert hätte sie mit seinem Krückstock niedergeschlagen. Stattdessen riss er sich schäumend vor Wut los und humpelte mit erhöhtem Tempo das letzte Stück bis zur Franz-Leopold-Straße, wo er wohnte.
Dabei rief er immer nur „Überall Sodom und Gomorra!“ und streckte in regelmäßigen Abständen verzweifelt die Hände gen Himmel.
Nahe des Rentnerviertels war es weniger belebt, so dass Herbert endlich ein wenig zur Ruhe kommen konnte.
An einer alten Steinmauer endete der Sandweg und mit ihm der Park. Zügig überquerte der Alte die dahinterliegende Straße. Nach einigen hundert Metern passierte er ein etwa kniehohes Gartentor vor einem kleinen Reihenhäuschen und drückte auf den Klingelknopf.
Peter öffnete ihm. Eilig rauschte Herbert an ihm vorbei und warf dabei die Tür entschlossen hinter sich zu.
„Was ist denn los?“, fragte Peter etwas überrascht vom ganzen Tempo. „Schlechte Nachrichten beim Arzt gehört?“
„Quatsch!“, fauchte Herbert zurück, schmiss seine Jacke auf einen Stuhl und seinen Stock in die Ecke neben der Anrichte. „Alles in bester Ordnung. Hat gesagt, dass ich noch mindesten zwanzig Jahre vor mir hab.“
„Und welche Laus ist dir sonst über die Leber gelaufen?“ Eigentlich ahnte Peter bereits, worum es wieder ging.
„Es ist die ganze verdammte Jugend von heute!“, antwortete Herbert und machte eine ausladende Geste, die die gesamte Welt draußen vor der Tür mit einschloss.
„Haben alle nicht das kleinste bisschen Moral. Nur Ficken im Kopf! Den ganzen Tag. Egal mit wem und wo. Alles Perverse, das sag ich dir! Wenn ich überlege, dass wir damals auf die Strasse gegangen sind. Und schau’s dir heute an. Soweit ist es mit der Gesellschaft gekommen.“
Peter versuchte seinen Freund zu beschwichtigen und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Soll ich dir einen blasen, Schatz?“
„Nein, danke!“ Herbert wendete sich verdrossen weg. „Davon will ich heut definitiv nichts mehr hören. Mir steht eher der Sinn nach etwas Kuscheln. Nur wir beide, eine Schüssel Popcorn und ein alter Film.“
„Klingt toll. Ich setz schon mal den Mais auf und du suchst den Film aus.“