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Neuanfang

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19.06.2002
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Neuanfang

Felix war alt und in vielen Dingen etwas nachlässig. Seinem Rauhaardackel Max ging es ebenso. Mit zunehmendem Alter war ihnen manches unwichtig geworden. Beider Bärte wirkten ungepflegt, Haar und Fell waren struppig und mit der Reinlichkeit nahmen sie es auch nicht mehr so genau. Da Felix und Max im gleichen Bett schliefen, störte das keinen. Ihre Ausdünstungen vermengten sich zu einer speziellen Geruchsmischung. Wenn sie auf der Straße Kindern begegneten, veranlasste das die Mütter zu der Ermahnung: „Geht nicht so nah an dem alten Penner und seinem
dreckigen Köter vorbei! Wer weiß, was ihr euch da weg holt?“

Viermal täglich drehten die beiden ihre Runde durch das Wohngebiet. Dem Dackel fiel es von Tag zu Tag sichtlich schwerer, langsam setzte er eine Pfote vor die andere. Eines Morgens vermisste Felix den warmen Körper an seiner Seite. Besorgt erhob er sich, um nach Max zu sehen. Da lag er in seinem Körbchen und stand nicht mehr auf. Felix hockte sich davor und hielt eine stumme Zwiesprache mit dem langjährigen Gefährten seiner einsamen Tage. Dann wickelte er den kleinen Körper in die Lieblingsdecke und trug ihn zur Abgabe zum Tierarzt. Mühsam unterdrückte er die Tränen, als er ihn aus den Händen gab. „Das war mein letzter Freund“, sprach er stockend zu der Assistentin, als er seine Gebühr bezahlte, „nun bin ich ganz allein. Am besten ich fahre auch bald in die Grube.“ Wie als Widerspruch hörte er plötzlich kräftiges Bellen unter dem Tisch hervor. Dann erschienen zwei Pfoten an der Tischkante und darüber ein Dackelkopf, der Felix mit klugen, braunen Augen anblickte. Der kleine Kerl stand mit gestreckten Hinterpfoten auf einem Stuhl, sodass er gerade über den Tisch gucken konnte. „Das ist Paul, unser Sorgenkind“, erklärte die Mitarbeiterin. „Sein Besitzer hat ihn zum Einschläfern gebracht, weil er bösartig sei. Er ist aber ein ganz normaler Hund, nur etwas eigensinnig, wie Dackel eben sind und natürlich mit einem halben Jahr noch nicht erzogen. Wir dürfen vom Gesetz her auch kein gesundes Tier einschläfern und sind nun auf der Suche nach dem Züchter, denn bei dem Kerl wollten wir ihn auch nicht lassen." Felix betrachte den Dackel, der Dackel betrachtete Felix. „Wollen Sie ihn mitnehmen?“, fragte die Tierarzthelferin, „er würde nichts kosten.“ „Wuff-Wuff“, machte Paul und das hieß offenbar: „Ich bin einverstanden.“ Felix zögerte. „Eigentlich denke ich immer noch an meinen Max. Ich weiß nicht, ob ein neuer Hund jetzt das Richtige wäre?“
Der Dackel verschwand traurig wieder unter dem Tisch. Er hatte offenbar gespürt, dass es nichts mit einem neuen Zuhause war. Felix ging zur Tür, kehrte aber plötzlich um. „Geben Sie ihn mir. Zwei Verlassene gehören zusammen.“ Die Schwester reichte Felix den Hund, der zum Glück Halsband und Leine umhatte, und beide zogen los.

Zu Hause angekommen nahm Paul die Gerätschaften seines Vorgängers in Besitz, nachdem er sie ausgiebig beschnüffelt hatte. Beim nächsten Ausführen hatten ihn bald die Kinder entdeckt. „Babyhund! Babyhund!“, riefen sie, kamen aber nicht näher. Paul freute sich über die Aufmerksamkeit, legte sich auf den Rücken und strampelte mit den Pfoten. Ein etwa zehnjähriger Junge überwand schließlich seine Scheu und die Ermahnungen der Mutter und kam näher.
„Wie heißt ’n der Hund?“
„Paul.“
„Mensch! Ich heiße auch Paul. Ein tolles Ding.“
Paul hockte sich hin und streichelte dem Dackel den Bauch.
„Darf ich ihn auch einmal nehmen?“
Felix entgegnete, dass der Kleine erst einmal Ruhe bräuchte und sie verabredeten sich in zwei Stunden am Klettergerüst.

Wieder daheim setzte Felix das Hundekind ins Körbchen. Paul fiel um und schlief sofort ein. Es waren doch zu viel Aufregungen für das junge Hundegemüt gewesen. In zwei Stunden hatte er also eine Verabredung, überlegte Felix. Verabredung? Seit Langem hatte er nur medizinische Termine wahrgenommen. Die Ärzte und Schwestern mussten ihn so nehmen, wie er war, auch wenn sie manchmal die Nase rümpften. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er das letzte Mal geduscht hatte. Es musste etwa einen Monat her sein. Seitdem hatte er es bei Katzenwäsche bewenden lassen. Ein Duschbad fand er beim Stöbern im Badschrank nicht, aber klares Wasser war besser als nichts. Beim nächsten Einkauf „Duschbad“ notierte er auf seinem Zettel. Ein angenehmes Gefühl war es, das Rieseln des warmen Wassers auf der Haut zu spüren. Er genoss es länger als eigentlich nötig, dachte einmal nicht an die Wasserrechnung. Dann stand er lange vor dem Kleiderschrank. Frisch geduscht, wollte er nicht wieder in die alten Sachen kriechen. Als einziges vorzeigbares Stück hing da der schwarze Anzug, den er vor zehn Jahren zur Beerdigung seiner Frau gekauft hatte. Nein! Das ging nun wirklich nicht. Aber Moment! Als er einmal zur Kur war, hatte er sich einen Jogginganzug zulegen müssen. Damals hatte er das absurd gefunden und wohlgefühlt hatte er sich auch nicht darin. Viel zu jugendlich! Wäre das nicht etwas für heute? Wo hatte er ihn denn hingetan? Er suchte und suchte, krempelte fast die ganze Wohnung um. In der hintersten Ecke des Oberschrankes fand er ihn schließlich in einem Karton. Frisch geduscht und rasiert im Jogginganzug! Ach ja, rasieren musste er sich auch noch und mal mit der Haarschneidemaschine über den Kopf fahren. Als Paul in seinem Körbchen erwachte, blickte er verwundert. „Du erkennst mich wohl nicht?“, lachte Felix, „hier schnuppere mal, damit du weißt, dass ich wirklich dein neues Herrchen bin. Ich habe auch noch geduscht, vergiss das nicht bei der Geruchskontrolle.“ Der Hund schnupperte an der hingehaltenen Hand, rappelte sich dann auf und lief zur Tür. Schon fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit waren Felix und Paul am Klettergerüst und warteten auf den Jungen.

„Wow, ich habe Sie erst gar nicht erkannt“, begann Paul das Gespräch. „Sie sehen so verändert aus.“
„Meinst du?“
„Na ja, so einen schicken Jogginganzug hatten Sie noch nie an. In den anderen Sachen sahen Sie wie ein Penner ... Entschuldigen Sie!“
„Du kannst ruhig ‚du’ zu mir sagen. Ich nehme dir deine Bemerkung nicht übel. In gewissem Sinne hast du recht, wenn man es auch üblicherweise den Menschen nicht ins Gesicht sagt.“
„Und warum haben Sie, ... hast du dich heute anders angezogen? Frisch rasiert ... bist du auch.
„Tja ... ich wollte eben zu euch beiden Pauls passen. Ihr seid ja auch frisch und sauber.“
„Ja, damit nervt mich meine Mutter immer. Komisch, dass wir den gleichen Namen haben. Wir gehören wahrscheinlich zusammen. Kann ich ihn jetzt einmal nehmen?“
Felix lachte und gab ihm die Hundeleine. Stolz führte Paul seinen neuen Freund. Der Dackel schaute häufig zu ihm auf und gab sich sichtlich Mühe, so etwas wie eine Art „Fuß laufen“ zu Stande zu bringen, wenn er auch noch manchmal über seine kurzen Pfoten stolperte.

Das war der Auftakt einer langen Reihe von gemeinsamen Spaziergängen, denen sich bald auch andere Kinder anschlossen. Der Welpe wuchs und wuchs und war bald ein stattlicher Dackelrüde und der Liebling des ganzen Wohngebietes. Opa Felix wurde der Freund aller Kinder. Oft kamen sie mit ihren kleinen oder großen Sorgen zu ihm. Er war zwar alt, hatte aber immer Zeit.

(c) 2001 by Martin Eberhard Kamprad

1164 Wörter = 7188 Zeichen (mit Leerzeichen) = 4 Normseiten

 

Hallo Eberhard!

Ich habe Deinen Text gern gelesen. Am Anfang die beiden, ein eigespieltes, aber müdes Team und dann der Neubeginn der beiden Verlassenen. Eine Wendung um 180 Grad. :)
Schön fand ich den Schluss; ein wunderbares Happy-End für alle, auch wenn es eigentlich "nur" um einen Dackel und einen alten Mann geht... eine nette, warme, freundliche Geschichte!

schöne Grüße!
Anne

 

Hallo Anne,
herzlichen Dank für deinen Kommentar. Da dir die Geschichte rundum gefallen hat und du nichts zu "meckern" hast, kann ich auch nichts erwidern.
Herzliche Grüße!
Eberhard

 

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