Neuanfang
Er erwachte mit einem pelzigen Gefühl im Mund. Es war halbacht. "Verflucht", dachte er und stürzte ins Bad. Als er sein Spiegelbild erblickte, fiel es ihm schlagartig wieder ein. Er hatte nicht verschlafen. Er konnte gar nicht verschlafen. Er war arbeitslos. Enttäuscht spritze er sich ein paar Wassertropfen ins Gesicht. Dann ging er in die Küche und öffnete den Kühlschrank. "Zwei angegammelte Packungen Toast, ein Glas selbstgemachtes Gelee von meiner Mutter, zwei Sixpacks." Für einen kurzen Moment überlegte er ein Sixpack anzubrechen. Aber dann ließ er es doch lieber bleiben, schmiss stattdessen zwei Toastscheiben in den Toaster und blickte aus dem Fenster. Die Sonne schien, der Himmel war strahlendblau. Er sah Menschen zur Bushaltestelle hasten, Kinder auf dem Bürgersteig rennen, Autos im Stop and Go Verkehr zur Arbeit rollen, und Penner, die sich vor dem Supermarkt versammelten. "Da gehöre ich auch bald zu, wenn ich so weitermache", dachte er. Er wandte sich um und betrachtete das Foto, das am Kühlschrank klebte. Seine ehemalige Frau und seine beiden Töchter lachten ihn an. Plötzlich überkam ihn Wut. Wut auf sich selbst, auf das Leben, auf das Schicksal. Er nahm den Toaster und schmiss ihn auf den Boden. Dann riss er die beiden Sixpacks auf und goss Dose für Dose in den Ausguss.
Hinterher fühlte er sich erleichtert, aber nur für einen kurzen Moment, bis die Hilflosigkeit wieder von ihm Besitz ergriff. Vielleicht sollte er seine Frau anrufen. Doch er verwarf den Gedanken gleich wieder. Sie würde eh nicht rangehen. "Mist", dachte er. "Was soll ich tun ?" Das Telefon klingelte. Wo stand es nur noch ? Nach zehnmaligem Klingeln hatte er es endlich gefunden und riss den Hörer von der Gabel. "Ja ?", sagte er. Eine Frauenstimme meldete sich. "Herr Rhode ? Ich bin Frau Gießen, von der Arbeitsvermittlung, erinnern sie sich noch an mich?"
"Es interessiert mich einen Scheißdreck, wer sie sind. Was wollen Sie ?" Er war aufgebracht. "Beruhigen Sie sich, Herr Rhode. Ich habe gute Neuigkeiten. Wir haben eine Stelle für Sie gefunden." Mark entspannte sich. "Was Sie nicht sagen. Und was ist das für eine 'Stelle' ?" "Sie sollten es sich selbst anschauen. Kommen Sie um 10 Uhr in die Stresemannstraße. Ich werde dort auf Sie warten. Oder soll ich Sie abholen ?"
"Ist nicht nötig", antwortete er. "Ich werde da sein."
"Gut, also bis dann." Das Gespräch war beendet. Er sah auf das Chaos in der Wohnung.
Kurz entschlossen schnappte er sich seine Jacke und ging zu seinem Auto. Ihm fiel ein, dass die Polizei seinen Führerschein eingesackt hatte, wegen Alkohol am Steuer. "Blöde Bullen", murmelte er und stieg in den Wagen. Die Stresemannstrasse war nicht weit entfernt und er fuhr ein paar Mal um den Block, bis er sich einen Parkplatz suchte. Dann wartete er. Nach einer halben Stunde sah er eine Frau auf sich zukommen. Sie war attraktiv und hatte eine freundliche Miene aufgesetzt. Mark erinnerte sich daran sie schon mal gesehen zu haben. "Hallo, Sie sind schon da ? Sehr gut." Mark erwiderte nichts.
"Haben Sie schon gefrühstückt ?", fragte sie. Er verneinte. "Kommen Sie, dort drüben ist ein Café, ich lade Sie ein."
"Also, was ist das nun für eine Stelle ?", fragte Mark und biss in ein belegtes Brötchen. Sie lächelte. "Nun, sehen Sie das Parkhaus dort drüben ?" Mark folgte ihrem Arm und sah die Einfahrt der Tiefgarage. "Ja, was ist damit ?", fragte er.
"Es ist ihr Arbeitsplatz", erwiderte sie. Mark verschluckte sich und nahm eilig einen Schluck Kaffee. "Wie bitte ?"
"Sie haben richtig verstanden. Hören Sie, ich weiß, es entspricht nicht ganz Ihren Qualifikationsanforderungen, aber es ist immerhin eine Chance. Ein Neuanfang, Herr Rhode. Als Parkhauswächter könn..." Mark lief rot an.
"Ist das etwa Ihr Ernst ? Sie glauben tatsächlich, ich lasse mich in ein Glashäuschen setzten und den ganzen Tag auf den Schranke-Auf-Schranke-Zu-Knopf drücken ?"
"Herr Rhode, ich..."
"Nein. Nein, lassen Sie mich ausreden. Wissen Sie was ich bin ? Ich bin Flugzeugingenieur. FLUGZEIGINGENIEUR, schon mal was davon gehört ? Ich habe Privatjets konstruiert und gebaut. Ich habe entschieden, wer kam und wer ging. Und Sie bieten mir diese Scheiße an ?" Er verlor die Fassung. Mit einem Ruck stand er auf, stieß die Tasse um und stürmte aus dem Café. Sie kam ihm hinterher. "Herr Rhode, warten Sie, warten Sie doch. Es tut mir ja leid, dass damals dieses bedauerliche Unglück passiert ist, aber" Er hörte sie nicht mehr. Mit einem lauten Knall schlug er die Autotür zu und brauste davon.
Er fuhr schnell, zu schnell. Seine Hoffnung, seine Freude darüber, vielleicht einen neuen Job gefunden zu haben, hatten sich in Frust und Aggression verwandelt. Er übersah ein Stoppschild und erntete heftiges Gehupe. Was glaubte diese Schnepfe eigentlich, wie sie mit ihm umspringen konnte ? Einen Kaffee hier, ein Brötchen da und dann würde er sich voller Freude in seinen neuen Job stürzen ? Aber nicht mit ihm. Nach einer Weile beruhigte er sich wieder und wurde langsamer. Die Wut wich, an ihre Stelle trat Resignation. Was wenn er nun gar keine Arbeit mehr bekam ? Er wurde älter, nicht jünger. Vielleicht gab es in ein paar Jahren überhaupt nichts mehr für sein Alter ? Und konnte er sich nicht langsam hocharbeiten, wenn er erst einmal einen Anfang gemacht hatte ?
Er hielt an einer Kneipe und bestellte einen Whisky. Danach ging es ihm besser. Er dachte an seine Zwei-Zimmer-Wohnung, die allmählich Sozialstatus annahm. Er dachte auch an seine Familie, die er nun seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Und er dachte an die Zeit, als er noch bei der Fluggesellschaft arbeitete. Er war angesehen gewesen, ein erstklassiger Ingenieur und entschlossene Führungskraft zugleich. Doch dann passierte dieses Missgeschick. Bei einem Testflug war sein Flugzeug abgestürzt, sein Flugzeug, das er geplant, konstruiert und gebaut hatte. Es war sein Lieblingsprojekt gewesen. Er hatte all seine Energie hineingesteckt, um es erfolgreich zu beenden. Die Gesellschaft hatte großes Vertrauen in ihn gesetzt. Aber es hatte nicht sein sollen. Irgendein technischer Defekt, ein Konstruktionsfehler, was es auch immer gewesen war, es hatte sein Leben ruiniert. Er war in Selbstmitleid versunken, hatte zu trinken angefangen, war Nächte lang nicht nach Hause gekommen. Schließlich hatte sich seine Frau von ihm getrennt und war in die USA zu ihren Eltern gezogen, mitsamt den Kindern. Und er ?
Er war zurückgeblieben und es ging immer weiter bergab.
"Es muss aufhören", dachte er. "Ich muss mein Leben wieder in den Griff bekommen. Es ist Zeit für einen Neuanfang."
"Hey du", sagte er zum Barkeeper, "glaubst du ich wäre ein guter Parkhauswächter ?"
Der Barkeeper grinste ihn an. "Na klar", sagte er.
Fünf Minuten später stand er in einer Telefonzelle mit der Visitenkarte in der Hand, die ihm Frau Gießen im Café gegeben hatte. Er wählte ihre Nummer.
"Ja bitte ?", hörte er sie sagen.
"Frau Gießen ? Ich hab es mir anders überlegt. Ich nehme den Job. Und Sie gleich mit dazu." Er lachte, zum erstenmal seit Langem wieder und hängte vergnügt den Hörer auf.