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Nervenkitzel
Mutproben, immer wieder Mutproben. Timo konnte nicht genug davon bekommen. Wir kletterten auf die Apfelbäume unserer Nachbarn, wir durchquerten barfuß den Fluss am Stadtrand und wir ärgerten den bissigen Hund des Metzgermeisters. Einmal wurden wir um ein Haar erwischt, wie wir auf dem Autodach unseres Lehrers herumtobten. Wir konnten gerade noch Reißaus nehmen, bevor er uns entdeckte. Anschließend hatte Timo über uns gelacht, während wir keuchend hinter der nächsten Ecke Schutz suchten. Ich hasste ihn in diesem Moment, hasste sein selbstgefälliges Grinsen. Ich schwor mir, nie wieder eine seiner blöden Mutproben mitzumachen, ihm beim nächsten Mal ins Gesicht zu blicken und mich zu weigern. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich es nicht tun würde.
Es war ein Frühlingsabend. Der Nachhauseweg vom Kino führte am alten Friedhof vorbei. »Lass uns mal drübersteigen«, sagte Timo in selbstverständlichem Ton und zeigte mit seiner Bierflasche auf die Mauer. Es war nicht das erste Mal, dass er den Friedhof in seine dämlichen Mutproben miteinbezog. Kay, ein Junge aus unserer Clique, hatte vor ein paar Wochen einen Blumenstrauß von einem frischen Grab klauen müssen. Keine große Sache, aber mir war mulmig dabei zumute gewesen. Nicht wegen der Gefahr, erwischt zu werden. Sondern weil es ein Friedhof war. Timo hätte mich ausgelacht oder Schlimmeres getan, wenn ich es gesagt hätte, aber es gefiel mir nicht, diesen Scheiß an solch einem Ort durchzuziehen. Es gefiel mir damals nicht und es gefiel mir auch jetzt nicht.
Timo kniff die Augen zusammen. »Schiss, hm?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Timo betrachtete mich nachdenklich, trank einen Schluck Bier und warf die leere Flasche ins Gras. Anschließend trat er so nah an mich heran, dass ich den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. Er grinste. »Komm schon. Es wird Spaß machen.«
Das sagte er immer, wenn wir zögerten. »Es wird Spaß machen.« Manchmal machte es das tatsächlich. Manche Mutproben waren lustig und nicht so riskant, dass es schlimm wäre, wenn etwas dabei schiefging. Aber manche Mutproben waren so wie mit dem Auto unseres Lehrers. Oder wie mit dem Blumenstrauß.
Einen Moment lang wollte ich mich weigern. Ich fragte mich, was Timo dann unternehmen würde. Mich auslachen? Wütend werden? Mit beidem konnte ich leben. Außerdem war Timo mein Freund. Sicher, er war launisch und er wollte immer alles bestimmen, aber er war zweifelsohne mein Freund. Trotzdem gab es etwas, das mich davon abhielt, ihm zu widersprechen. Ich konnte nie genau festmachen, was mich dazu brachte einem Konflikt mit Timo aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war es sein Tonfall, wenn er über frühere Freunde sprach, mit denen er sich einst gut verstanden hatte und die ihm heute mal im Mondschein begegnen konnten. Vielleicht waren es seine zusammengekniffenen Augen, wenn man ihm bei etwas nicht beipflichtete. Vielleicht waren es Erinnerungen wie an das Sportfest, als Timo derjenige gewesen war, der den wahren Grund herausgefunden hatte, warum der Junge aus der Parallelklasse nicht teilnehmen durfte. Kleinigkeiten. Kleinigkeiten, die sich zusammengenommen zu einer Facette in Timos Charakter verdichteten, mit der ich nicht konfrontiert werden wollte. Und vielleicht würde es ja wirklich Spaß machen.
Ich nahm einen kleinen Anlauf, sprang und zog mich an der Mauer hoch. Es war nicht schwierig. Timo nickte anerkennend. Wenn etwas nach seinen Vorstellungen lief, war er großzügig. Er wischte sich die Hände am T-Shirt ab und kletterte zu mir herauf. Mein Blick schweifte über die Gräberreihen.
»Und wenn uns der Wärter erwischt?«, murmelte ich. Timo stieß einen verächtlichen Laut aus. »Was glaubst du, wer schneller rennen kann - wir oder er?«
*
Das Wort »Totenstille« kam mir in den Sinn und beinah hätte ich nervös aufgelacht. Die Ruhe auf dem Friedhof war anders als sonst. Nicht die andächtige Stille eines Nachmittages, die einen mahnte, sich ruhig zu verhalten. Sondern das bedrückende Schweigen des Abends, das einem verriet, dass man unerwünscht war.
Timo unterbrach die Atmosphäre hin und wieder mit einer albernen Bemerkung, während wir durch die Reihen schlenderten. Ich spürte seine Energie in jeder seiner Bewegungen. Es war die Art wie er den Weg entlangschritt, die Art wie er den Kopf drehte, die Art wie er sich umblickte. Alle alkoholisierte Lethargie war von ihm abgefallen. Er blühte auf in seinen kleinen Nervenkitzeln. Wenn ich Timo sah, konnte ich die Menschen verstehen, die einen riskanten Beruf wählten. Sie gingen darin auf. Genau wie er.
Völlig unvermittelt blieb Timo stehen. »Das ist ja cool«, flüsterte er heiser. Ein Leuchten überzog sein Gesicht. Ich wagte es kaum, seinem Blick zu folgen. Als ich es doch tat, entdeckte ich am Wegrand einen Schuppen. Und ich bemerkte noch etwas: Die Tür stand einen Spalt offen.
Timo ignorierte meine Warnungen, dass uns ein Arbeiter ertappen könne und ging zu der verfallenen Hütte. Ich folgte ihm. Aus der Nähe betrachtete war der Schuppen größer als gedacht. Timo spähte durch den Türspalt. Er grinste und zeigte dabei zu viele Zähne.
»Sieh mal an«, sagte er. »Jetzt weiß ich endlich, wo man die alten Särge zwischenlagert.«
Mit klopfendem Herzen hörte ich mir seinen Vorschlag an. Wenn ich den Mut besäße, sollte ich mich in die Hütte wagen und dort mindestens fünf Minuten bleiben. Bei verschlossener Tür. Ich sah zum Schuppen hinüber. Er hatte kein Fenster.
»Warum soll ich alleine reingehen?«, fragte ich. »Hast du etwa Angst?«
Einen Augenblick lang sah Timo überrascht aus. Dann verfiel er wieder in sein unangenehmes Grinsen. »Im Gegenteil. Ich komme gerne mit.«
Ich glaubte ihm sogar.
*
Die Tür quietschte beim Öffnen. Die Luft in der Hütte war staubig und ich unterdrückte ein Husten. An der hinteren Wand erkannte ich einen Stapel Bretter. Sargbretter. Manche waren auf den Boden gerutscht. Ich schluckte.
Sekundenlang schossen mir Horrorszenarien durch den Kopf. Timo, wie er die Tür hinter mir zusperrte. Ratten, die über meine Füße liefen. Schatten, die sich aus der Wand lösten und auf mich zutraten. Näher und immer näher ... Hatte sich dort in der Ecke nicht eben etwas bewegt? War dort nicht eben etwas über den Boden gehuscht? War da hinten nicht ...
Ein ersticktes Keuchen ließ mich herumfahren. Timo starrte auf eine Stelle an der Wand. Sein Gesicht war weiß. Ich sprach ihn an, doch er reagierte nicht.
Ich folgte seinem Blick zu den aufgetürmten Sargbrettern. Der matte Lichtstrahl von draußen erhellte eine Stelle in der Ecke. Timo fixierte einen Deckel. Ich sah das morsche Holz, die abgeblätterte Farbe und das Moos. Und ich sah noch etwas. Mehrere lange Kratzspuren, die sich tief eingegraben hatten. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff.
Sie waren nicht außen.