Nerissa und Nelia - meine erste Kurzgeschichte
Nerissa und Nelia
„Weißt du, Nelia“, sagt Nerissa und streicht mit einer sachten Bewegung eine vorwitzige, golden schimmernde Locke hinter ihr Ohr, „am liebsten würde ich das Ganze ja sein lassen. Oder später erledigen. Ich finde, es gibt Wichtigeres zu tun!“ Sie fasst ihre Haare zusammen und bindet sich einen Zopf oben am Hinterkopf. Ein paar Strähnen fallen seitlich heraus, und seltsamerweise gefällt sie sich in dem Moment fast, als sie ihr Spiegelbild fixiert.
Nelia lacht leise. „Es gibt immer Wichtigeres, darüber haben wir doch hundertmal gesprochen. Aber manchmal muss man Prioritäten setzen...“
Nerissa unterbricht sie genervt. „Du klingst wie Nora. Dieses typische Eltern-Gelaber. Erstmal eine vernünftige Ausbildung, bla bla bla...“ ahmt sie ihre Mutter nach.
Die Kerze auf der antikgebeizten, wuchtigen Kommode flackert, als wäre urplötzlich eine negative Stimmung in den Raum gedrungen. Wachstropfen bahnen sich ihren Weg an der Kerze nach unten. Wie Tränen...
„Entschuldige, Nelia!“ flüstert Nerissa. „Du möchtest gern studieren, oder?“
Aber Nelia ist nicht böse oder verstimmt. Das ist Nelia nie, und Nerissa beneidet sie oft um ihre Gelassenheit.
„Weißt du, Nelia, man denkt ja immer, man hätte ewig Zeit. Aber was ist wenn morgen auf einmal Stückchen Erde fehlt? Dann können wir da nicht mehr hin. Also müssen wir es jetzt tun, solange es noch da ist.“
Nerissas Ohrringe baumeln und glitzern silbrig; der Kontrast zu ihrer schwarzen Kleidung sieht schön aus. „Du immer in Schwarz, Nerissa!“ sagt Nelia fast jeden Morgen.
Nerissa mag schwarz und dunkelrot.
Nelia schrille Töne.
Aber bei Musik sind sie sich einig. Ihr beider Lieblingssong ist Only an Ocean away. Eventuell mag Nerissa es ein klein wenig lieber. Sie hört es häufiger, besonders in der letzten Zeit.
Gerade tönt es auch durch das dunkle, nur in Kerzenschein gehüllte Zimmer.
Nerissa steht gern vor dem Spiegel, nicht weil sie sich so attraktiv findet, sondern weil sie gerne beobachtet. Andere und sich selbst. Das ist manchmal spannender als ein Roman. Es erzählt Verborgenes, man lernt auch zwischen den Zeilen dieses Buches zu lesen.
Nelia sagt, ihre Gedanken sind komplex und manchmal wirr. Das mag stimmen. Nelia ist viel klarer, aber manchmal auch etwas öde...
„Entschuldige, Nelia!“ flüstert Nerissa. „Das wollte ich nicht sagen. Oder denken. Entschuldige bitte!“
Nelias Lachen klingt wie ein Harfe.
„Jedenfalls“, sagt Nerissa lauter, „ich weiß ja nicht, was du jetzt machen würdest, oder was du gerade tust, aber ich gehe morgen nicht in die Uni. Ich fliege morgen nach Island. Und hole mir vorher ein kleines Kätzchen und einen Absinth. Nein, den klau ich!...
Und den Tandemflug, den mach ich allein, Nelia, danach bin ich bei dir, okay? Okay?“
Nelia sagt nichts. Sie schaut Nerissa nur an. Warum flüstert sie nicht denn einmal, warum erklingt die Harfe nicht? Sind es Nelias Augen, die dort blitzen hinter dem Glas des stuckverzierten Bilderrahmens oder ist es das Kerzenlicht im Spiegel, und überhaupt, wer ist das einsame Mädchen dort mit den langen rotblonden Locken?
Ist Nerissa ein bisschen Nelia? Und Nelia ein wenig Nerissa?
Warum hat sie so viel Zeit? Wer hat Zeit, Nelia oder Nerissa?
„Hörst du mich, Nelia, ich mache morgen alles, was wir uns vorgenommen haben,, okay, einiges in abgeschwächter Form... und dann komm ich. Oder soll ich gleich kommen, dann machen wir alles zusammen? So wie wir wollten? Soll ich mit dem Zwillingsflug beginnen?
Weißt du noch, Nelia, unsere Liste? Unsere Liste am 20. Geburtstag: 10 Dinge die wir unbedingt tun müssen oder machen wollen, bevor wir 30 Jahre alt werden.
Tattoo; Ladendiebstahl, der sich lohnt, Tandemflug; Absinth trinken; sich bei einer fremden Hochzeit mit in die Kirche schleichen und nur gucken; ein Katzenbaby aufziehen; nach Island fliegen; Mittsommernacht erleben; Mamas Lover Bruno, dem Idioten, 25 Pizzen liefern; uns niemals aus den Augen verlieren!“
Ach Nelia. Warum bist du nicht mehr hier? Ich will zu dir. Jetzt. Und ich werde kommen, das verspreche ich uns beiden.
Du fehlst mir...
See you in Heaven!